Vor fünf Jahren ist im Berliner Verlag Metropol eine historische Studie von Ulrich Herbeck erschienen,1 die die Geschichte des Antisemitismus in Russland vom Zarenreich bis zum Ende des Bürgerkriegs 1922 beleuchtet.
Die Studie zeigt den engen historischen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und der Reaktion gegen die sozialistische Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert. Von der Tages- und Fachpresse weitgehend ignoriert, dokumentiert Herbecks Studie die Geschichte der faschistischen Kräfte, auf die sich die imperialistischen Mächte während des Bürgerkrieges 1918 bis 1922 im Kampf gegen die Sowjetregierung gestützt hatten, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierten und auf deren Nachfahren sich heute die USA und Deutschland in der Ukraine stützen.
Teil 3: Der Kampf der Bolschewiki gegen Antisemitismus
Der Kampf gegen Antisemitismus war für die sozialistische Bewegung in Russland nicht nur eine Grundsatzfrage des proletarischen Internationalismus, sondern zugleich ein zentraler Bestandteil des politischen Kampfs gegen die Konterrevolution – nach 1905 ebenso wie nach 1917. Die antisemitische Agitation der konterrevolutionären Armeen im Bürgerkrieg, die kaum Unterstützung unter Arbeitern genoss, war eine ihrer stärksten politischen Waffen, um ländliche Bevölkerungsteile gegen die Sowjetmacht aufzuwiegeln.
Trotz vereinzelter Pogrome der Roten Armee, die durchgängig hart bestraft wurden, waren die Bolschewiki die einzige politische Kraft, die im Bürgerkrieg konsequent gegen den Antisemitismus in der eigenen Armee kämpfte und für eine Aufklärung in der Bevölkerung sorgte.
In ihrem Kampf gegen den Antisemitismus konzentrierten sich die Bolschewiki auf die Verbreitung von Material zur politischen Aufklärung der Bevölkerung. Vor der Oktoberrevolution wurden bereits Propagandabroschüren gegen den Antisemitismus verbreitet, meist herausgegeben von linken Sozialrevolutionären und Menschewiki. 1918 veröffentlichte die sowjetische Regierung erste Broschüren zum Kampf gegen anti-jüdische Stimmungen. Zusätzlich gründete sie im Januar 1918 das Evkom, das jüdische Kommissariat im Rahmen des Nationalitätenkommissariats, das in der Anfangszeit der Sowjetmacht eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Antisemitismus spielte. Am 27. Juli 1918 erließ die russische Sowjetregierung ein Dekret gegen „antisemitische Hetze“. Ein ähnliches Dekret erließ Christian Rakovskij, Regierungschef der Ukrainischen Sowjetrepublik, im Februar 1919. Im selben Jahr veröffentlichte die Sowjetregierung trotz extremer materieller Not drei Propagandafilme zu dem Thema.
Herbeck kritisiert an mehreren Stellen die Bolschewiki, angesichts der Pogrome der Weißen 1919 nicht genug gegen den Antisemitismus getan und die anti-jüdischen Stimmungen in der Bevölkerung heruntergespielt zu haben. Wenn man sich die historische Situation vergegenwärtigt, in der sich die bolschewistische Regierung 1919 – dem wohl schwersten Jahr des Bürgerkriegs – befand, hält diese Kritik allerdings kaum Stand.
Schließlich versucht Herbeck, einen Unterschied zwischen Lenins und Trotzkis Position zum Kampf gegen den Antisemitismus zu konstruieren. Lenin habe den Schwerpunkt auf die Ungebildetheit der Massen, Trotzki hingegen ausschließlich auf die sozialen Wurzeln des Antisemitismus gelegt. Doch wie Trotzki sah Lenin die Ursache für die Ungebildetheit und Unwissenheit in der Bevölkerung in der jahrhundertelangen politischen Unterdrückung unter dem Zarenregime. Wenn Trotzki in Reden und Schriften die Betonung auf die sozialen Wurzeln des Antisemitismus legte und stets darauf bestand, dass nur die soziale Emanzipation der Arbeiterklasse und Bauernschaft den Judenhass aufheben könne, so war dies eher eine Frage der Betonung, als einer unterschiedlichen Einschätzung.
So erklärte Lenin 1919 in einer Rede über den Antisemitismus, die damals auf Schallplatte aufgenommen und verbreitet wurde: „Die Feindschaft gegen die Juden ist nur dort von Dauer, wo die Gutsbesitzer und Kapitalisten die Arbeiter und Bauern durch Leibeigenschaft in tiefster Unwissenheit gehalten haben. Nur ganz unwissende, ganz unterdrückte Leute können die Lügen und Verleumdungen glauben, die gegen die Juden verbreitet werden. [...] Aber diese alte Finsternis der Leibeigenschaft verschwindet. Das Volk wird sehend.“21
Sowohl Lenin als auch Trotzki hoben die konterrevolutionäre Funktion des Antisemitismus hervor. Herbecks Studie zeigt, dass die beiden Revolutionsführer auch im Kampf gegen Antisemitismus die entscheidende Rolle spielten.
Die Ursachen für den Antisemitismus in der Roten Armee waren sowohl sozialer als auch politischer Natur: Die Rote Armee rekrutierte sich zum Teil aus Bauern, die traditionell vom Antisemitismus beeinflusst waren. Viele bäuerliche Armeeeinheiten wechselten während des Bürgerkrieges mehrfach die Seiten, kämpften mal für die Roten, mal für die Weißen und mal für die Anarchisten. Zudem waren die Bolschewiki gezwungen, zur erfolgreichen Kriegsführung auch zahlreiche hochrangige Mitglieder der zaristischen Armee einzusetzen, die den Antisemitismus – wie in Teil 1 erörtert – jahrelang selbst propagiert hatten. Herbeck nennt mehrere Beispiele für Offiziere der Roten Armee, die zuvor für den Zaren gekämpft hatten und unter ihren Truppen gezielt Stimmung gegen „jüdische Bolschewiki“ machten.
Angesichts dieser großen objektiven Hindernisse ist der relativ geringe Umfang der Pogrome in der Roten Armee erstaunlich. Von insgesamt 1.236 dokumentierten Bürgerkriegspogromen sind mit 106 (8 Prozent) nur ein sehr kleiner Teil der Roten Armee zuzuschreiben. Für 72 dieser Pogrome waren ehemalige weiße und ukrainisch-nationalistische Einheiten verantwortlich.22
Die schlimmsten Pogrome wurden von der Ersten Reiterarmee unter Budjonnyj – später ein wichtiger Verbündeter Stalins –auf ihrem Rückzug aus Polen 1920 verübt. Isaak Babel, der selbst als Kriegskorrespondent die Armee begleitete, schilderte sie später in seinem Meisterwerk Die Reiterarmee. Die Soldaten dieser Armee waren hauptsächliche Kuban-Kosaken, unter denen Antisemitismus traditionell weit verbreitet war. Viele hatten zudem zuvor unter dem Kommando Denikins und anderer konterrevolutionärer Heerführer gestanden.
Nach einer Reihe von Plünderungen und Morden an Zivilisten, darunter auch Juden, in Südrussland im Jahr 1919 verwies ein Bericht des stellvertretenden Leiters der Politabteilung der Roten Armee, Schilinskij, eindringlich auf das niedrige politische Niveau der Truppe und den weit verbreiteten Antikommunismus und Antisemitismus hin. Die Losung „Schlag die Juden, schlag die Kommunisten“ sei, so Schilinskij, unter den Kavalleristen immer wieder zu hören. Schilinskij warnte außerdem, dass die Plünderungen und Vergewaltigungen der Kavallerie Wasser auf die Mühlen der Konterrevolution gießen. Ganze Gemeinden und Dörfer, die die Roten freudig begrüßt hätten, seien nun auf die Seiten der Weißen gewechselt.
Die Plünderungen und der Bericht Schilinskijs führten 1920 zu ernsthaften Auseinandersetzungen in der Armeeführung. Trotzki drängte als Chef des Revvoensovet (Revolutionärer Kriegsrat), dem höchsten Gremium der Roten Armee, auf eine harte Bestrafung der Täter, um zu verhindern, dass es zu einer Wiederholung der Verbrechen komme.
Budjonnyj jedoch deckte mit Unterstützung von Woroschilow, Minin und Vardin, die die Armeeführung der Südfront ausmachten, und von Stalin, der damals im Politbüro saß, die Verbrechen seiner Truppen. Budonnyj und Woroschilow sollten in den kommenden Jahrzehnten zu den engsten Verbündeten Stalins gehören und als einige der wenigen „alten Bolschewiki“ den Terror der 1930er Jahre überleben.
Die Führung der Ersten Kavalleriedivision erwirkte schließlich die Entlassung Schilinskijs. Obwohl sich die Parteiführung auf die Seite Schilinskijs stellte, stieß die Durchsetzung der Bestrafung der Schuldigen in den folgenden Monaten immer wieder auf Widerstand der lokalen Armeeführung.
Nach den verheerenden Pogromen, die die Kavallerie der Roten Armee auf ihrem Rückzug aus Polen Ende September, Anfang Oktober 1920 beging, entsandte die Militärführung sofort eine Untersuchungskommission, die sich jedoch als machtlos erwies. Der Revvoensovet beschloss daraufhin am 9. Oktober die sofortige Auflösung aller an den Pogromen beteiligten Einheiten. Nach Angaben von Budnitskii sind vermutlich bis zu 400 Kavalleristen hingerichtet worden.23 Der Vorgang gegen die Pogromisten wurde auf höchster Parteiebene überwacht – sowohl das Politbüro und Zentralkomitee als auch die Armeeführung wurden permanent auf dem Laufenden gehalten. Darüber hinaus entsandte die Führung hochrangige Bolschewiki an die Front zu Propagandaveranstaltungen.
Das Verhalten der Roten Armeeführung unterschied sich drastisch von dem der ukrainischen Nationalisten oder der Weißen, die die Pogrome entweder implizit unterstützten oder sogar offen die jüdische Bevölkerung selbst dafür verantwortlich machten.
Bei allen Problemen, mit denen die Bolschewiki in ihrem Kampf gegen den Antisemitismus konfrontiert waren, kann doch kein Zweifel bestehen, dass ihr Sieg im Bürgerkrieg ein rechtes Regime auf dem Territorium des Großrussischen Reiches mit grausamen Folgen für die jüdische Bevölkerung verhindert hat.
Herbecks Buch ist eine sorgfältige und umfassende historische Studie, die einen Beitrag zu einem wissenschaftlichen Verständnis nicht nur des Zarenreiches, der Russischen Revolution, des Antisemitismus, sondern auch des Nationalsozialismus und des Holocausts leistet. Es ist bezeichnend für das vorherrschende politische und intellektuelle Klima, dass diese Studie praktisch ignoriert wird, während Werke von Robert Service oder Jörg Baberowski, die die Bolschewiki als blutrünstige Gewalttäter darstellen und die Pogrome der Weißen weitgehend ignorieren, von den Medien gelobt werden.
Dies ist kein Zufall: Das historisches Material in Herbecks Studie stellt politischen Sprengstoff für alle jene dar, die die Oktoberrevolution als verbrecherischen Putsch kriminalisieren und so den Nationalsozialismus und seinen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion rehabilitieren wollen.
Der Antisemitismus im Zarenreich und im Bürgerkrieg sowie der Kampf der bolschewistischen Partei dagegen zeigen, dass das Schicksal der Juden im 20. Jahrhundert aufs engste mit dem Schicksal der Weltrevolution verbunden war. Umgekehrt war es der Verrat der Revolution durch die Stalinisten, der 1933 Hitlers Machtübernahme und in der Konsequenz die fast vollständige Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa ermöglichte.
In der Sowjetunion selbst kehrten die staatlichen antisemitischen Diskriminierungen zurück. Sie waren das Ergebnis von Stalins nationalistischer Politik des „Sozialismus in einem Land“, die sich gegen das internationale revolutionäre Programm der Bolschewiki während der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg richtete.
Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 sind diese Tendenzen wieder offen aufgebrochen. Rechtsradikale und antisemitische Strömungen bilden heute eine Hauptstütze des Imperialismus bei seinem Vordringen auf das Territorium der ehemaligen Sowjetunion, wie die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine drastisch vor Augen führen.
Die antisemitische faschistische Partei Swoboda und der Rechte Sektor, die mit Unterstützung Washingtons und Berlins den Putsch in Kiew organisiert haben, sehen sich in der Tradition von Stepan Bandera und den ukrainischen Faschisten, die mit den Nazis kollaborierten. Ebenso halten sie das Andenken der ukrainischen Nationalbewegung im russischen Bürgerkrieg und dessen Führer Symon Petliura hoch, in dessen Regierungszeit zahlreiche Pogrome stattfanden. Eine andere heute von Swoboda hochgeehrte Figur ist Jewhen Konowalez, der 1918 die berüchtigten Sitsch-Schützen gegen die „jüdischen Bolschewiki“ in Kiew anführte und später die rechtsradikale Organisation Ukrainischer Nationalisten gründete.
Ende
Anmerkungen
1) Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewiken“: Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin 2009, 480 S. Alle Informationen in diesem Artikel stammen, wenn nicht anders angeben, aus diesem Buch.
21) Zitiert in Ebd., S. 326.
22) Ebd., S. 374, 397.
23) Oleg Budnitskii: Russian Jews Between the Reds and the Whites, 1917-1920, Princeton/New Jersey 2012, S. 402.