Der EU-Gipfel vom 18. Oktober hat beschlossen, die Zensur des Internets zu verschärfen. Außerdem droht er Parteien, die sich im Europawahlkampf 2019 nicht an die vorgegebene politische Linie halten, mit Sanktionen und Strafen. Die europäischen Regierungen reagieren damit auf die wachsende Opposition gegen Militarismus, Sozialabbau und gegen rechtsextreme Parteien.
In den offiziellen „Schlussfolgerungen“ des Gipfeltreffens fordert der Europäische Rat, „Maßnahmen zur Bekämpfung von illegalen und böswilligen Aktivitäten, die im Cyberraum erfolgen oder durch diesen ermöglicht werden, sowie zur Schaffung einer soliden Cybersicherheit“. Die EU soll befähigt werden, „mit restriktiven Maßnahmen auf Cyberangriffe zu reagieren und diese zu verhindern“.
Diese Maßnahmen dienen nicht nur der Abwehr von Hackerangriffen, sondern ausdrücklich auch der „Bekämpfung von Desinformation, auch im Kontext der bevorstehenden Wahl zum Europäischen Parlament“. Zu diesem Zweck hat die EU-Kommission Maßnahmen vorgeschlagen, die laut Gipfelbeschluss nun „rasch geprüft werden“ sollen. Dazu gehören „die Bekämpfung von Desinformationskampagnen“, die „Verschärfung der Vorschriften für die Finanzierung europäischer politischer Parteien“ und „operative Folgemaßnahmen“ der zuständigen Behörden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte dies bereits in ihrer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag am 17. Oktober angekündigt. Unter anderem drohte sie Parteien, „die in ihren Kampagnen aktiv Desinformation betreiben“, mit finanziellen Sanktionen. „Wer sich nicht an die demokratischen Spielregeln Europas hält, der kann auch nicht erwarten, von der Europäischen Union Mittel zur Parteienfinanzierung zu erhalten.“
Weder Merkel noch der Europäische Rat gingen näher darauf ein, was sie unter „Desinformationskampagnen“ verstehen. Inzwischen ist jedoch klar, worum es geht. Begriffe wie „Fake News“, „Desinformation“ oder „Cyberangriff“ werden von den etablierten Medien, Parteien und großen Internetfirmen gegen jeden gerichtet, der ihr Meinungsmonopol durchbricht. Vor allem gegen linke und progressive Websites und Organisationen üben sie unter diesen Vorwänden eine umfassende Zensur aus.
So löschte Facebook Anfang des Monats im Namen des Kampfes gegen „Fake News“ zahlreiche populäre linke Accounts – darunter von Organisationen, die sich gegen Kriegs- und Polizeigewalt wehren. In Deutschland wurden seit dem Inkrafttreten des sogenannten Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zehntausende Beiträge mit der gleichen Begründung gelöscht. Und Google zensiert in enger Zusammenarbeit mit deutschen Regierungskreisen seit nunmehr eineinhalb Jahren linke und progressive Websites, darunter vor allem die World Socialist Web Site.
Wikileaks-Gründer Julian Assange sitzt seit über sechs Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London fest, weil Wikileaks Kriegsverbrechen der US-Regierung an die Öffentlichkeit gebracht hat. Im droht die Auslieferung in die USA und möglicherweise die Todesstrafe, falls er die Botschaft verlässt.
In Deutschland nutzt der aktuelle Verfassungsschutzbericht den Begriff „Desinformation“, um jede linke Opposition gegen die offizielle Regierungspolitik zu denunzieren. „Weltweit sendende TV-, Radio- und Internetkanäle betreiben gezielt Propaganda und Desinformationskampagnen“, heißt es im Abschnitt „Propaganda und Desinformation“. An einer anderen Stelle brüstet sich der Verfassungsschutz, „präventive Maßnahmen“ hätten „zu einer hohen Aufmerksamkeit gegenüber einer möglichen Desinformation beigetragen und zu verstärkten Schutzmaßnahmen geführt“.
Das erklärte Ziel des Verfassungsschutzes, der eng mit der AfD zusammenarbeitet, ist die Verfolgung sozialistischer Parteien. So listet der Verfassungsschutzbericht die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) als „linksextremistische Partei“. Grund für ihre Beobachtung sind nicht Gesetzesverstöße oder gewaltsame Aktivitäten, sondern ihr öffentliches Eintreten für ein sozialistisches Programm „gegen die bestehende, pauschal als ‚Kapitalismus‘ verunglimpfte staatliche und gesellschaftliche Ordnung, gegen die EU, gegen vermeintlichen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus“.
Die SGP wird in den kommenden Tagen offiziell ihre Teilnahme an den Europawahlen ankündigen. Sie versteht die Pläne des Europäischen Rats als direkte Drohung. Merkel und die anderen europäischen Staats- und Regierungschefs müssen offenlegen, was sie hinter den Kulissen vorbereiten. Was genau verstehen sie unter „operativen Folgemaßnahmen“, die die zuständigen Behörden einleiten sollen? Geht es um ähnliche „Operationen“ gegen politische Oppositionsparteien, wie sie in der vergangenen Woche in Frankreich durchgeführt wurden?
Dort überfielen am 16. Oktober schwer bewaffnete Polizisten die Privatwohnung von Jean-Luc Mélenchon, dem Führer der Bewegung „La France insoumise“ (Unbeugsames Frankreich – LFI). Sie trugen kugelsichere Westen und waren mit Sturmgewehren bewaffnet. Fünfzehn weitere Überfallkommandos brachen gleichzeitig in die Wohnungen anderer LFI-Führer ein und besetzten die Parteizentrale. Sie beschlagnahmten Material, luden die Daten von Computern herunter und hinderten Mélenchon und andere Parteimitglieder widerrechtlich daran, ihre eigenen Parteizentrale zu betreten.
Die World Socialist Web Site hat, ungeachtet ihrer politischen Differenzen mit Mélenchon, diese Attacke scharf verurteilt und sie als „unmissverständliche Drohung gegen breite Bevölkerungsschichten in ganz Frankreich, Europa und darüber hinaus“ gewertet. „Zehn Jahre nach dem Wall-Street-Crash von 2008 sind sich die herrschenden Eliten darüber bewusst, dass ihr grotesker Reichtum und ihre Spar- und Kriegspolitik allgemein auf Ablehnung stoßen“, schrieben wir. „Schwache Regierungen treffen verzweifelte Entscheidungen. Sie sind bereit, alle polizeistaatlichen Vollmachten, die sie sich zu Zeiten des ‚Kriegs gegen den Terror‘ angeeignet haben, rücksichtslos gegen die politische Opposition einzusetzen.“
In diesem Zusammenhang muss man die „Schlussfolgerungen“ des EU-Gipfels verstehen. Auf die Zunahme von Massendemonstrationen und Streiks in ganz Europa reagiert die herrschende Klasse mit autoritären Methoden. Trotz heftiger Konflikte schließen die europäischen Regierungen die Reihen, wenn es darum geht, die wachsende Opposition in der Bevölkerung zu unterdrücken. Das gesamte Dokument des Europäischen Rats liest sie wie eine Blaupause für den zügigen Aufbau eines europäischen Polizeistaats.
So einigte sich der Gipfel auf „Maßnahmen zur Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten, von Europol und Eurojust mit angemessenen Ressourcen“. Dazu sollen verstärkt „Partnerschaften mit dem Privatsektor“ eingegangen und die Zusammenarbeit sowie der Datenzugang verbessert werden. Die Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sollen so in die Lage versetzt werden, „neuen Herausforderungen aufgrund von technologischen Entwicklungen und der sich wandelnden Sicherheitsbedrohungslage“ entgegenzutreten.
Vorgesehen ist u.a. ein gesamteuropäisches Datensystem, das Polizei und Justiz Zugang zu den Daten von Millionen Menschen gibt. Dazu soll die „Interoperabilität von Informationssystemen und Datenbanken“ verbessert werden, „insbesondere durch einen gemeinsamen Speicher für Identitätsdaten“. Alle dafür „erforderlichen Maßnahmen“, so der Gipfel, sollen „mit höchster Priorität getroffen werden“.