Zehn Tage nachdem ein brauner Mob durch die Straßen von Chemnitz marschierte, Menschen anderer Hautfarbe jagte und unbehelligt von der Polizei den Hitlergruß zeigte, kann es keinen Zweifel mehr geben, dass er Unterstützung auf höchster staatlicher Ebene hat.
Politiker jeglicher Couleur – von AfD-Chef Alexander Gauland bis zu Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht – verbreiten die Mär vom „besorgten Bürger“, der durch die Sorge vor sozialer Konkurrenz und angeblich wachsender Ausländerkriminalität auf die Straße getrieben werde und den man „ernst nehmen“ müsse. Tatsächlich wagen es die Neonazis und ihre Mitläufer nur deshalb so unverschämt aufzutreten, weil die Regierung und die Sicherheitskräfte voll hinter ihnen stehen.
Daran ließ Innenminister Horst Seehofer in den letzten Tagen keinen Zweifel. Hatte er bisher beharrlich zu den Vorfällen in Chemnitz geschwiegen, meldete er sich am Mittwoch am Rande einer Klausurtagung der CSU zu Wort und verteidigte die rechtsextremen Demonstranten. Er äußerte sein Verständnis für den rechten Mob, der mit seinem Aufmarsch, der auf zahlreichen Videos dokumentiert ist, die ganze Welt schockiert hatte.
Er verstehe, „dass die Bevölkerung aufgewühlt ist, dass sie empört ist über dieses Verbrechen“, sagte Seehofer, und die Bevölkerung sollte auch wissen, „dass man eine solche Empörung nach einem so brutalen Verbrechen versteht“. Am nächsten Tag wurde er in einem Interview mit der Rheinischen Post noch deutlicher. „Ich wäre, wenn ich nicht Minister wäre, als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen“, sagte er.
Seehofer ließ es nicht dabei bewenden, sich mit dem rechten Mob in Chemnitz zu solidarisieren. Er bemühte sich, die ausländerfeindliche Propaganda der AfD von rechts zu übertrumpfen. „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land. Das sage ich seit drei Jahren“, erklärte er. „Viele Menschen verbinden jetzt ihre sozialen Sorgen mit der Migrationsfrage.“
Die meisten Flüchtlinge sind vor Kriegen und Katastrophen geflohen, für die Deutschland und die Nato mitverantwortlich sind. Nun versucht sie Seehofer zum Sündenbock für die Folgen des jahrzehntelangen Sozialabbaus durch sämtliche Bundesregierungen zu machen. Auf ähnliche Weise hatten die Nazis einst die Juden zur Ursache aller sozialen und politischen Probleme erklärt. AfD-Chef Alexander Gauland war denn auch voll des Lobes für den Innenminster. „Seehofer hat in der Analyse vollkommen recht“, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung.
Zuvor hatte sich bereits der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) mit den rechtsradikalen Protesten in Chemnitz solidarisiert. „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, es gab kein Pogrom in Chemnitz“, hatte er vor dem Landtag in Dresden erklärt.
Seehofer ist keine politische Randfigur, sondern ein zentraler Akteur der deutschen Politik. Er war bereits in den 90er Jahren unter Helmut Kohl sechs Jahre lang Gesundheitsminister. Unter Angela Merkel leitete er später drei Jahre lang das Landwirtschaftsministerium. Anschließend war er zehn Jahre lang bayrischer Ministerpräsident. Und seit März dieses Jahres ist er als Innenminister für die Polizei und die innere Sicherheit verantwortlich. Außerdem ist er seit 2008 Vorsitzender der bayrischen CSU, der drittgrößten Regierungspartei.
Dass sich Seehofer nun offen hinter den rechten Mob in Chemnitz stellt, bestätigt alles, was die Sozialistische Gleichheitspartei über den rechten Charakter der Großen Koalition geschrieben hat. Diese verfolgt eine Politik der militärischen Aufrüstung und des Sozialabbaus. Es vergeht kaum eine Woche, in der keine neuen Pläne über neue Rüstungsausgaben und militärische Interventionen im Nahen Osten, Afrika und an der Grenze zu Russland veröffentlicht werden.
„Für diese Politik gibt es in der Bevölkerung keine Unterstützung“, erklärten wir Anfang der Woche in einem Flugblatt.„Deshalb nimmt die offizielle Politik die Form einer Verschwörung auf der höchsten Ebene des Staates an, in die auch die Oppositionsparteien – Grüne, Linke und FDP – eingebunden sind. … Kaum schwenkt die herrschende Klasse auf eine imperialistische Großmachtpolitik ein und spürt Widerstand von unten, neigt sie sich wieder der extremen Rechten zu.“
Was die Regierung beunruhigt, ist der massive Widerstand, der sich gegen den Aufmarsch der Rechten regt. In Chemnitz kamen 70.000 zu einem „Rock gegen rechts“-Konzert, zehn Mal so viele, wie die Rechtsextremen mobilisiert hatten, und auch in zahlreichen anderen Städten haben Tausende gegen die Rechten demonstriert. In Hamburg kamen am Mittwoch gerade einmal 178 Teilnehmer zu einer Demonstration von Rechtsextremen, zu der hochrangige Vertreter von AfD und Pegida aus anderen Bundesländern angereist waren. Dagegen folgten 10.000 dem Ruf zu einer Gegendemonstration.
Die Regierung antwortet auf diese wachsende Opposition, indem sie die AfD stärkt und den Staat aufrüstet. Seehofer erklärte im Interview mit der Rheinischen Post: „Wenn wir den Kurswechsel nicht hinbekommen und die Ordnung der Humanität gleichberechtigt zur Seite stellen, werden wir weiter Vertrauen verlieren.“ Die Mehrheit in Europa wolle „Ordnung, Steuerung und Begrenzung“. Als Beispiele nannte er Österreich und Italien, wo Rechtsextreme an der Macht sind. Er werde jeden Tag dafür kämpfen, „dass der Masterplan Migration zügig umgesetzt wird“.
Dieser Masterplan, auf den sich die Große Koalition geeinigt hat, sieht unter anderem die brutale Abschottung der „Festung Europa“, nationale Maßnahmen zur Grenzsicherung, die Errichtung geschlossener Lager für Flüchtlinge in Deutschland und ganz Europa und Massenabschiebungen nach Afrika und in die Kriegsgebiete des Nahen und Mittleren Ostens vor. Er ist mit einer massiven Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden und der Abschaffung elementarer demokratische Grundrechte verbunden.
Der aktuelle Verfassungsschutzbericht, der bereits Ende Juli mit einem Vorwort von Seehofer erschien, trägt ebenfalls die Handschrift der AfD. Er erwähnt die Partei und ihr rechtsextremes Umfeld mit keinem Wort, bezeichnet aber jede Opposition gegen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus als „linksextremistisch“ und „verfassungsfeindlich“. Mit anderen Worten: Für Seehofer und den Verfassungsschutz sind nicht die Neonazis, sondern ihre Gegner, d.h. die große Mehrheit der Bevölkerung, der wirkliche Feind.
Keine im Bundestag vertretene Partei tritt dieser gefährlichen Entwicklung entgegen. Die SPD trägt sie als Mitglied der Großen Koalition voll mit. FDP-Chef Christian Lindner hat erklärt, Seehofers Äußerungen seien „zwar richtig, aber zu klein gedacht“. Die Grünen sind längst zu eingeschworenen Militaristen geworden, denen die Außenpolitik der Bundesregierung nicht aggressiv genug ist. Und Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht hat soeben die Bewegung „Aufstehen“ ins Leben gerufen, die von der AfD wegen ihrer nationalistischen und flüchtlingsfeindlichen Politik gelobt wird.
Die einzige soziale Kraft, die diese Entwicklung bekämpfen und die Rechten stoppen kann, ist die internationale Arbeiterklasse. Die Sozialistische Gleichheitspartei ruft deshalb zur Ausweitung von Klassenkämpfen auf dem ganzen Kontinent auf. Als deutsche Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale baut sie eine sozialistische Partei auf, die den Kampf gegen Krieg und Faschismus mit dem Kampf gegen den Kapitalismus vereint.