Das Mittelmeer wird vollends zum Massengrab, seitdem die EU-Staaten die Seenotrettung der NGO-Schiffe aktiv behindern. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat am letzten Wochenende in nur drei Tagen 204 ertrunkene Migranten registriert. Seit Beginn dieses Jahres steigt damit die Zahl der bei der Flucht Ertrunkenen auf über tausend Menschen.
Am Freitag, dem 28. Juni, waren es 103 Menschen, unter ihnen drei Kleinkinder, und am Samstag noch einmal 38 Menschen. Sie wurden von Überlebenden als ertrunken oder vermisst gemeldet. Ein Bild mit Angehörigen der libyschen Küstenwache, welche die Leichen der drei Babys trugen, ging um die Welt. Am Sonntag wurden dann noch einmal 63 ertrunkene Menschen registriert, als die libysche Küstenwache 41 Überlebende einer Havarie aus dem Meer rettete und nach Libyen zurückbrachte.
Die IOM veröffentlichte diese Zahlen, nachdem ihre Beauftragten in Al-Khums, in der Nähe von Tripoli, mit Überlebenden hatten sprechen können. Schon in der Woche davor waren 220 Migranten nachweislich im Mittelmeer ertrunken, womit die Zahl in wenigen Tagen weit über 400 beträgt. Die wirkliche Zahl der Gestorbenen könnte indessen noch weit höher sein, da die IOM nur die bekannten Fälle dokumentiert.
Othman Belbeisi, ein IOM-Beauftragter in Al-Khums, sagte, die IOM sei „zutiefst besorgt“, weil die geretteten Migranten in geschlossene Lager gebracht würden und sich die Bedingungen in solchen Lagern immer mehr verschlimmerten. So wurden 16 junge Männer, die am Freitag gerettet worden waren, sofort in ein Lager in Tajoura gebracht. Die Männer waren aus Gambia, Sudan, Niger, Guinea und dem Jemen. Innerhalb weniger Tage wurden etwa tausend Menschen an der Überfahrt nach Europa gehindert und von der Küstenwache inhaftiert.
Der dramatische Anstieg der Ertrunkenen ist eine direkte Folge der jüngsten Beschlüsse des EU-Gipfels. Letzte Woche hatten die Regierungschefs in Brüssel beschlossen, Europa abzuschotten, Frontex massiv aufzurüsten und noch enger mit der libyschen Küstenwache zusammenzuarbeiten. Menschen, die auf der Flucht aufgegriffen werden, sollen künftig in regelrechte Konzentrationslager eingesperrt werden. Politiker aller Couleurs haben diese kriminelle Politik in Brüssel unterzeichnet, unter ihnen auch der griechische Regierungschef Alexis Tsipras von Syriza und die Sozialdemokraten Pedro Sánchez (Spanien) und Joseph Muscat (Malta).
Bewusst kriminalisiert die EU die Arbeit der NGO-Schiffe. So ist die dramatisch gestiegene Zahl der Ertrunkenen direkt darauf zurückzuführen, dass die EU die zivile Seenotrettung behindert, durch die in den letzten Jahren mehrere zehntausend Menschen gerettet werden konnten. Die EU-Regierungen hindern die NGO-Schiffe am Auslaufen und machen sich so des vielfachen Mordes an Migranten schuldig.
In Malta liegen derzeit die „Lifeline“, die „Seefuchs“ und die „Sea-Watch 3“ im Hafen, während die „Aquarius“, die erst vor wenigen Tagen über 600 Flüchtlinge nach Spanien bringen musste, momentan nur in Marseille ankern darf. Die „Open Arms“, das Schiff einer spanischen NGO, ist zurzeit mit 59 Migranten an Bord erneut gezwungen, den langen Weg bis nach Barcelona auf sich zu nehmen, weil Italien, Frankreich und Malta ihre Häfen für NGOs verschlossen haben.
„Was ist das für eine Welt, in der die Retter zu Tätern gemacht werden?“ fragte der Kapitän der „Lifeline“, Claus-Peter Reisch (57), am Montag in Valletta. „Was ist das für eine Welt, in der stärker gegen das Retten als gegen das Sterben vorgegangen wird?“
Reisch steht seit Montag in Malta vor Gericht und darf die Insel unter Androhung von 10.000 Euro Strafe nicht verlassen. Sein Pass wurde eingezogen. Das Schiff seiner Organisation wurde beschlagnahmt und darf nur noch von einer Kernbesatzung von drei Personen betreten werden. Der nächste Verhandlungstermin ist der 5. Juli.
Die „Lifeline“ ist ein privat betriebenes Seenotrettungsschiff der Dresdener Mission Lifeline, die erst seit einem Jahr im Mittelmeer tätig ist und seither nahezu tausend Menschen das Leben gerettet hat. Finanziert wird Mission Lifeline durch Spendengelder, wie zum Beispiel durch Sammlungen und Unterstützung des Schauspielensembles der Dresdner Semperoper oder der Berliner Band „Die Ärzte“.
Nach einer sechstägigen Odyssee auf dem Mittelmeer, während der kein einziger Hafen Europas die „Lifeline“ einlaufen ließ, konnte Reisch erst am 28. Juni mit seinem Schiff in Valletta vor Anker gehen. Sofort wurde er unter Quarantäne gestellt. Die Behörden in Malta werfen dem Kapitän vor, mit einem nicht-registriertes Schiff in maltesischen Gewässern gekreuzt zu sein. Die „Lifeline“ ist beim Königlich-Niederländischen Wassersportverband registriert, was für kleinere Schiffe unter 500t bisher zum Führen der holländischen Flagge immer ausgereicht hat.
Die Vorwürfe, so Kapitän Reisch, seien nur vorgeschoben. „Ich habe 234 Menschenleben gerettet, und ich gehe aufrecht zum Gericht und habe kein Problem damit.“ In Wirklichkeit sei der EU vorzuwerfen, dass sie das Sterben von Flüchtlingen aus politischen Gründen in Kauf nehme. „Das Sterben im Mittelmeer geht weiter, während wir festsitzen“, sagte Reisch. Er kritisierte auch die maltesische Justiz und erhob schwere Vorwürfe gegen die libysche Küstenwache, die dafür verantwortlich sei, dass regelmäßig Migranten sterben. Die libysche Küstenwache habe seine Besatzung und ihn noch vor kurzem mit dem Tod bedroht.
Was die libysche Küstenwache betrifft, so haben die EU und die Regierung von Malta die Logik des italienischen Innenministers Matteo Salvini (Lega), des Fünf-Sterne-Chefs Luigi Di Maio und des deutschen Innenministers Horst Seehofer (CSU) übernommen. Nach dieser Logik üben die NGOs eine Art Schleusertätigkeit aus, wenn sie Schiffbrüchige vor der libyschen Küste retten. Die NGO-Schiffe werden als „Mittelmeer-Taxis“ (Di Maio), als „Shuttles von Libyen nach Europa“ (Seehofer) oder als Transporteure von „Menschenfleisch“ (Salvini) denunziert. Die Politiker verlangen, dass die freiwilligen Helfer jegliche Seenotrettung vor der libyschen Küste einstellen und der libyschen Küstenwache das Feld überlassen.
Die libysche Küstenwache betreibt jedoch Gefangenenlager, die als „die Hölle auf Erden“ berüchtigt sind, und in denen Gefangene gefoltert, missbraucht, versklavt und auch getötet werden. In solchen Einrichtungen herrschen „KZ-ähnliche Verhältnisse“. Dieser Ausdruck stammt aus einer offiziellen Quelle, nämlich vom deutschen Auswärtigen Amt. Er steht so wörtlich in einem Bericht des deutschen Botschafters in Niamey, der Hauptstadt Nigers. Der Bericht liegt auch dem Bundeskanzleramt vor und dürfte inzwischen keinem EU-Politiker mehr unbekannt sein.
Durch ihre Politik, die libysche Regierung und Küstenwache dafür zu bezahlen, dass sie die Flüchtlinge von Europa mit allen Mitteln fernhalten, verhalten sich die EU-Regierungschefs völkerrechtswidrig. Sie verstoßen gegen das so genannte Zurückweisungsverbot („non-refoulement“), ein zentrales Element des internationalen Flüchtlingsrechts, das besagt, dass Personen nicht in Staaten zurückgeschickt werden dürfen, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Es ist sowohl in der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert.
Inzwischen zieht die Wut über die tödliche EU-Politik immer weitere Kreise. In Valletta war am Montag der Eingang zum Gerichtsgebäude, in dem der „Lifeline“ der Prozess gemacht wird, mit Transparenten gesäumt. Auf einem Banner stand: „Rettungsschiffe blockiert – über 400 gestorben“, und auf dem zweiten: „Seenotrettung ist kein Verbrechen“.
Am Freitag lancierte der TV-Star Jan Böhmermann eine Spendensammlung für den Prozess der „Lifeline“ auf Malta. Böhmermann wies darauf hin, dass dem Kapitän und der Besatzung „dafür, dass sie über 230 Menschen das Leben gerettet haben“, rechtliche Schritte auch in Deutschland, vom Bundesinnenminister Horst Seehofer, drohten. Für die Anwaltskosten kamen in nur drei Tagen über 88.000 Euro zusammen.
Ebenfalls am Freitag setzte auch die Band Pearl Jam bei einem Konzert im vollbesetzten Olympiastadion in Rom ein Zeichen. Als Bandleader Eddie Vedder das Lied „Imagine“ von John Lennon intonierte, knipsten 70.000 Besucher ihr Handy-Licht an, um Solidarität mit den Seenotrettern auszudrücken, während auf der Leinwand das Symbol von „apriteporti“ erschien. Die Kampagne „Aprite i porti“ [Öffnet die Häfen] ist bei Salvinis Amtsantritt entstanden und richtet sich mit Protesten und Sit-ins gegen die Abschottungspolitik der EU.