Nach den Krokodilstränen von Solingen: Regierung plant neue Abschiebezentren und Massendeportationen von Flüchtlingen

Die Gedenkfeier für Solingen am Dienstag, den 29. Mai, in Düsseldorf war an Heuchelei nicht zu überbieten. Hochrangige Politiker vergossen Krokodilstränen über den Anschlag vor 25 Jahren, bei dem am 29. Mai 1993 fünf Mädchen und junge Frauen qualvoll verbrannt und vierzehn weitere Menschen für ihr ganzes Leben körperlich und psychisch verletzt worden waren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) argumentierte in pastoralem Ton gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und sagte, sie wünsche sich, dass die Menschen „die bei uns bleiben, sich hier willkommen und geschätzt fühlen, dass sie sich sicher fühlen und dass sie Deutschland zu ihrer Heimat machen können“. Ihr Parteikollege, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, behauptete, die Politik müsse „den festen Willen haben, dass Menschen, die zu uns kommen, hier Wurzeln schlagen dürfen“.

In Solingen legte der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) an der Seite seines türkischen Amtskollegen Mevlut Çavuşoğlu Blumen am Mahnmal nieder; er rief zur Zivilcourage auf und sagte, Solingen sei „ein Auftrag an uns alle: nicht zu vergessen, nicht wegzusehen und nicht zu schweigen“. Sogar der Bundesminister für Inneres und Heimat, Horst Seehofer (CSU), predigte in Berlin, „Fremdenfeindlichkeit“ dürfe nicht geduldet werden.

Es sind genau dieselben Politiker, die seit Monaten fieberhaft daran arbeiten, im Zusammenhang mit ihrem deutschen Großmachtkurs die Abschiebungen auszuweiten und so genannte „Anker-Zentren“ zu schaffen, in denen sie Geflüchtete und Menschen ohne deutschen Pass in Massen wegsperren wollen.

Erst vor wenigen Tagen hatte die Kanzlerin in der Berliner Generaldebatte die „Anker-Zentren“ demonstrativ gelobt und erklärt, es gehe darum, „eine funktionierende Rückführungskultur in Deutschland [zu] schaffen. Wer kein Bleiberecht hat, der muss auch wieder gehen.“ – „Wir können nicht alle bei uns aufnehmen!“ betonte auch Andrea Nahles, Partei- und Fraktionschefin der SPD.

Innenminister Seehofer erklärte derweil das Asylrecht vollends zum staatlichen Gnadenakt, der gewährt werden kann – oder auch nicht. Am selben Tag, als in Düsseldorf die Solinger Feier stattfand, sagte er in Berlin im Innenausschuss des deutschen Bundestags: „Das Asylrecht ist ein exklusives Recht, das ein Staat unter bestimmten Umständen einem Menschen gewähren kann.“

Der Innenausschuss hatte sich zur Sondersitzung versammelt, um die angeblichen „Missstände“ im Bamf zu diskutieren. Damit setzen die Innenpolitiker eine üble Kampagne fort, an der sich sämtliche Parteien und die Mainstream-Medien beteiligen. Sie zielt darauf ab, in der Bevölkerung Stimmung gegen Geflüchtete und Asylbewerber zu schüren und die offizielle Flüchtlingspolitik noch weiter nach rechts zu drücken.

„Das Vertrauen ins Asylsystem ist erschüttert!“ behauptete der SPD-Sprecher für Innenpolitik, Burkhard Lischka. Im Bamf hätten „Gleichgültigkeit und Schlamperei“ Einzug gehalten. Sein SPD-Kollege Thorsten Schäfer-Gümbel erklärte, eine Beteiligung an einem Untersuchungsausschuss sei „nicht mehr auszuschließen“. Einen solchen Ausschuss fordert bisher die AfD, nur unterstützt durch die FDP, die sich der ersteren in der Flüchtlingspolitik immer stärker annähert. „Wo kein Grund für Asyl vorliegt, muss abgeschoben werden“, forderte die FDP-Obfrau Linda Teuteberg. Seehofer versprach, er werde im Bamf „aufräumen“.

Der verlogene Charakter der Bamf-Kampagne liegt seit Wochen auf der Hand. Die angeblichen „Missstände“ und „Verstöße gegen Rechtsgrundlagen“ sind an den Haaren herbeigezogen. Der Anlass dafür liegt zwei Jahre zurück, hat mit Korruption nichts zu tun und gefährdet niemanden.

Die frühere Leiterin der Bremer Bamf-Amtsstelle hatte ein paar hundert Asylbescheide an sich gezogen und im „Schnellverfahren“ durchgeführt. Dabei ging es um Fälle von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, die der Religionsgemeinschaft der Jesiden angehören und im Irak schlimmster Verfolgung durch den Islamischen Staat ausgesetzt waren. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie ein Recht auf Asyl hatten. Zynischerweise wurde das Leid der Jesiden von der Bundesregierung und und den Medien in den Jahren 2014 und 2015 ausgeschlachtet, um den Einsatz der Bundeswehr in Syrien und im Irak zu rechtfertigen.

In einem Interview mit der Bild-Zeitung (die selbst die rechte Bamf-Kampagne unterstützt und vorantreibt) wies die frühere Bamf-Leiterin Ulrike B. alle Anschuldigungen zurück. Der Vorwurf der Korruption sei „lächerlich“, sie habe „nie Geld genommen“. Im Bamf sei es jedoch irgendwann „nicht mehr um die menschlichen Schicksale gegangen – sondern nur noch um Fallzahlen und Bearbeitungszeiten“. Dabei „müssten doch die Menschen in Not zählen, nicht die Zahlen,“ erklärte sie.

Im Grunde hat Ulrike B. also genau das getan, was die Politiker in Solingen gerade anmahnten. Sie hatte „Zivilcourage“ (Maas) gezeigt und versucht, daran mitzuwirken, dass „die Menschen, die zu uns kommen, hier Wurzeln schlagen“ können (Laschet) und „Deutschland zu ihrer Heimat machen können“ (Merkel).

Der eigentliche Skandal besteht nicht im Vorgehen des Bamf, sondern darin: dass Menschen, die vor Krieg und Elend geflüchtet sind, hier nicht aufgenommen und geschützt, sondern in Massenlagern kaserniert und so rasch wie möglich deportiert werden.

Wie verlogen die ganze Kampagne ist, zeigt sich schon an den schieren Zahlen. Die 1200 angeblich „unrechtmäßig“ bewilligten Asylbescheide in Bremen stehen einer hohen Zahl von summarisch abgelehnten Anträgen gegenüber. Allein im Jahr 2017 haben Verwaltungsgerichte in 32.000 Fällen entschieden, dass Klagen von Flüchtlingen gegen negative Asylbescheide berechtigt waren, und diese Bescheide für ungültig erklärt. Den Klagen von syrischen und afghanischen Flüchtlingen wurde in rund 60 Prozent der Fälle stattgegeben.

Bezeichnenderweise wird die angekündigte interne Kommission nur die positiven Bescheide überprüfen. Das allein lässt schon den Schluss zu, dass beim Bamf gezielt negative Bescheide produziert werden sollen. Künftig soll die Bamf-Zentrale in Nürnberg routinemäßig jede zehnte Entscheidung doppelt prüfen.

Innenminister Seehofer hat sogar damit gedroht, alle Entscheide des Bremer Bamfs bis zurück auf das Jahr 2000 prüfen zu lassen und stichprobenartig auch die Ergebnisse der übrigen Behörden zu prüfen. Das bedeutet im Klartext, dass sich künftig niemand mehr sicher fühlen kann, auch wenn er oder sie bereits festes Asyl erhalten hat.

Der Brandanschlag in Solingen vor 25 Jahren beinhaltet schreckliche Lehren. Letztlich münden die rechten und flüchtlingsfeindlichen Maßnahmen und Kampagnen der herrschenden Klasse in brutaler Gewalt.

Nur drei Tage vor dem Anschlag in Solingen hatte der Deutsche Bundestag in Bonn beschlossen, die Verfassung zu ändern und das Asylrecht auszuhebeln. Am 26. Mai 1993 strich das Parlament den Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) aus dem Grundgesetz und ersetzte ihn durch den neuen Artikel 16a, der seither immer weiter ausgehöhlt worden ist.

Diese politische Entscheidung hatte eine regelrechte Signalwirkung für rechte Brandstifter und bildete den Auftakt für bisher nicht dagewesene rassistische Mord- und Brandanschläge. Kurz nach den Morden von Solingen am 11. Juni 1993 veröffentlichte die Neue Arbeiterpresse, die Zeitung des Vorläufers der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), Bund Sozialistischer Arbeiter, eine Warnung, deren Bedeutung heute in vollem Umfang sichtbar wird. Wir schrieben damals:

„Die erste Welle rassistischer Gewalt richtete sich gegen Flüchtlinge und Asylbewerber. Sie endete damit, dass Regierung und Opposition den Schlachtruf ‚Deutschland den Deutschen‘ zur offiziellen Politik erhoben (…). Die zweite Welle richtet sich gegen ausländische Arbeiter – und auch sie findet bereits Widerhall bei Regierung und SPD. Die dritte Welle wird sich gegen die deutschen Arbeiter selbst richten. Es ist höchste Zeit, dass sie aufwachen und die Verteidigung der ausländischen Kollegen in die eigene Hand nehmen.“

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