Kurz nach Weihnachten, am 27. Dezember, erlag das 15-jährige Mädchen Mia V. im rheinland-pfälzischen Kandel einer schrecklichen Bluttat. Der junge Afghane Abdul Mobin D., der eine Zeitlang mit Mia befreundet war, hatte sie in einem Drogeriemarkt mit mehreren Messerstichen erstochen.
Abdul Mobin D. hatte angegeben, nicht älter als 15 zu sein, und war dementsprechend dem Jugendamt zugeordnet worden. Nach der Tat wurden Zweifel an seiner Minderjährigkeit laut, die zurzeit mittels sogenannter „medizinischer Altersfeststellung“ geklärt werden.
Was die tragische Beziehungstat eines Jugendlichen mit tödlichem Ausgang war, wird seither systematisch instrumentalisiert, um ausländerfeindliche Stimmungen zu schüren und das politische Klima nach rechts zu drücken.
Politische Scharfmacher aller Couleurs missbrauchen den Fall, um in der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, als würden massenhaft Erwachsene als Minderjährige eingestuft, und als würde dadurch die Sicherheit junger Mädchen in Deutschland gefährdet. Damit verbinden sie die Forderung, alle unbegleiteten jungen Geflüchteten einer medizinischen Altersfeststellung zu unterziehen.
Das Altersfeststellungsverfahren für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist seit November 2015 auf Bundesebene gesetzlich geregelt. Demzufolge wird zunächst das Alter der Betroffenen, die keine Papiere vorweisen können, mittels Inaugenscheinnahme durch Sozialpädagogen und Psychologen geschätzt. Bei unklarem Ergebnis oder Widerspruch erfolgt eine Altersfeststellung durch Mediziner, wofür jedoch bisher die Zustimmung des Betroffenen vorliegen muss.
Es springt ins Auge, dass schon diese Regelung für die Betroffenen problematisch ist. Die Jugendlichen, oft noch halbe Kinder, haben in sehr vielen Fällen traumatische Erfahrungen mit Krieg, Flucht und Vertreibung gemacht. Sie benötigen in erster Linie Schutz und Hilfe. Stattdessen sind sie mit der Aussicht konfrontiert, in überfüllten Lagern untergebracht und baldmöglichst abgeschoben zu werden.
Werden sie dagegen als unbegleitete Minderjährige anerkannt, dann stehen ihnen auf dem Papier besondere Rechte zu: Sie werden durch das Jugendamt untergebracht und betreut, und sie haben das Recht auf einen sofortigen Zugang zu Schule und Ausbildung. Sie bekommen einen Vormund, und sie dürfen bis zum Erreichen ihrer Volljährigkeit nicht abgeschoben werden.
Was nach menschlichem Ermessen jedem jungen Erwachsenen zusteht, das wird in der Praxis nur denjenigen gewährt, die eindeutig als Minderjährige anerkannt werden. Im Zweifelsfall müssen sie zuerst die „medizinische Altersfeststellung“ durchlaufen. Diese Prozedur basiert im Prinzip auf Röntgenaufnahmen der Handwurzel, der Schlüsselbeingelenke sowie des Kiefers. Die Auswertung der Aufnahmen lässt jedoch keine genaue Altersbestimmung zu. Wegen der Spielräume von zwei bis drei Jahren nach oben und unten muss im Regelfall das jüngst-mögliche Alter angenommen werden.
Im Bundesland Hamburg wurde darüber hinaus der Genitalbereich vermessen, was unmittelbar an die Methoden der NS-Zeit erinnert. So schrieb die taz im März 2017: „In Hamburg begutachten Ärzte bei der Altersbestimmung von jungen Flüchtlingen teilweise auch deren Genitalien oder Brustdrüsen.“ Laut dem Deutschlandfunk vom 3. Januar 2018 verzichten die Rechtsmediziner mittlerweile auf die Untersuchung der Genitalien.
Zu Recht haben mehrere Organisationen, darunter der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (BumF), das Deutsche Kinderhilfswerk und die Ärzteorganisation IPPNW, die aktuelle Forderung nach Reihenuntersuchungen als „Symbolpolitik“ und „gefährliche Stimmungsmache“ bezeichnet. Mehrere Ärzteverbände lehnen jede „medizinische Altersfeststellung“ rundheraus ab. Schon im November 2015 wandte sich die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie gegen die Röntgen- und Genitaluntersuchungen wegen „fehlender wissenschaftlicher Evidenz“.
Die Ethikkommission der Bundesärztekammer verurteilte die gängigen Verfahren zur Altersuntersuchung als „ethisch nicht gerechtfertigt“. Das Deutsche Ärzteblatt vom September 2016 schreibt: „Insbesondere Röntgen- und Genitaluntersuchungen sind abzulehnen.“ Auf der Website der IPPNW heißt es: „Eine präzise Feststellung des Alters ist medizinisch nicht möglich … In der Praxis besteht ein erhebliches Risiko, dass Minderjährige durch die fehleranfällige Altersdiagnostik fälschlich zu Erwachsenen erklärt werden.“ Und Dr. Frank Ulrich Montgomery, Facharzt für Radiologie und derzeit Präsident der Bundesärztekammer, warnte seine Kollegen davor, zum „Handlanger des Staates“ zu werden.
Dagegen erheben die Parteienvertreter immer lautstärker die Forderung nach einer medizinischen Röntgen-Reihenuntersuchung als Regelfall. Sie stützen sich dabei auf die Gerichtsmedizin, bzw. auf die in der „Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik“ (AGFAD) organisierten Rechtsmediziner. Diese ziehen für ihre Argumentation den Allgemeinarzt Dr. E. Rudolf heran, der als medizinischer Sachverständiger auch die österreichische Regierung, bzw. das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in Flüchtlingsfragen berät. Rudolf beruft sich darauf, dass der „altersdiagnostische Sachverständigenbeweis“ einschließlich der Röntgenuntersuchungen ein „EU-rechtlich legitimiertes Mittel“ sei.
Der Forderung nach regulären medizinischen Altersuntersuchungen schließen sich immer mehr Politiker an. Zum Beispiel fordert die Berliner CDU vom Senat, sich mittels Bundesratsinitiative für einen obligatorischen medizinischen Alterstest einzusetzen. Die CDU-Abgeordnete Cornelia Seibeld hetzt, dass „eine hohe Dunkelziffer“ von Flüchtlingen sich als minderjährig ausgäbe. Und Innenminister Thomas de Maizière behauptet heuchlerisch, es sei „nicht zu viel verlangt, wenn die Betroffenen sich aktiv an der Feststellung ihres Alters beteiligen müssen“.
Georg Pazderski, AfD-Vizevorsitzender, begrüßt den erneuten Rechtsruck selbstgefällig: „Spät kommt die Erkenntnis, aber sie kommt. Die AfD hat schon vor mehr als einem Jahr gefordert, grundsätzlich und bei jedem Asylbewerber das Alter durch einen biologischen Alterstest feststellen zu lassen.“
Auch Linkspartei, SPD und Grüne beteiligen sich an der rechten Hetze. Die SPD behauptet zwar derzeit, sie sehe keine Notwendigkeit, das aktuelle mehrstufige Verfahren bei Zweifelsfällen abzuschaffen. Aber Bundesfraktionschefin Andrea Nahles plädiert für eine Umkehr der Beweispflicht auf Bundesebene zu Lasten des Asylsuchenden.
„Wir dürfen uns als Staat nicht belügen lassen“, sagte sie ganz im Jargon rechter Bürokraten der Bild am Sonntag und verwies auf Hamburg: „Ist der Betroffene [mit der behördlichen Altersschätzung] nicht einverstanden“, könne er „gerne selbst … etwa durch eine Handwurzeluntersuchung“ seine Minderjährigkeit beweisen. Die „Beweispflicht liegt dann also bei den Flüchtlingen, nicht beim Staat. In Hamburg funktioniert das reibungslos.“
Schon im August 2017 hatte sich der Grünen-Politiker und Tübingens Bürgermeister Boris Palmer mit der Forderung nach einer Umkehr der Beweispflicht hervorgetan: „Wer Röntgen als unzumutbaren Eingriff wertet, könnte übrigens auch einen anderen Weg wählen“, erklärte er zynisch und fuhr in seinem Facebook-Eintrag fort: „Wer nicht nachweisen kann oder durch eine Untersuchung nicht belegen will, dass er unter 18 Jahren alt ist, wird als Erwachsener behandelt.“ Wie die FAZ.net am Sonntag schrieb, fordert Palmer zurzeit „regelhafte Untersuchungen“ allein reisender junger Männer, weil „ansonsten die Gefahr von Straftaten steigt“.
Auch die Medien sind Teil der rechten Propaganda. So zitierte Christoph Schwennicke, Chefredakteur des rechten Magazins Cicero, Anfang des Jahres die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) mit den Worten, dass bei „etwa 35 Prozent der untersuchten Personen“ die Altersangabe nicht gestimmt habe. Cicero verschwieg, dass es sich lediglich um 35 Prozent der Fälle handelte, bei denen bereits Zweifel an der behördlichen Alterseinschätzung bestanden.
Auf diese weit verbreitete Praxis der Falschdarstellung wies die FAZ vom Sonntag hin: „Bei den Zahlen über Alterstests, die in dieser Woche verbreitet wurden, muss eines unbedingt beachtet werden: Wenn das Klinikum Saarbrücken oder das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf bekanntgeben, dass nach dem Test ein Drittel beziehungsweise die Hälfte der Migranten für volljährig befunden wurde, dann sind das ein Drittel oder die Hälfte der Zweifelsfälle, bei denen die Jugendämter oder Strafverfolgungsbehörden eine Überprüfung angeordnet hatten.“
Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag, erklärte in ihrer Pressemitteilung vom 2. Januar: „Die Forderungen der CSU nach medizinischer Altersfeststellung bei allen unbegleiteten Flüchtlingen sind grundrechtswidriger Unfug. Röntgenaufnahmen stellen einen Eingriff in die persönliche Unversehrtheit und eine Vorverurteilung Schutzsuchender dar.“
Von der Linken ist indessen sicherlich keine Verteidigung der geflüchteten Jugendlichen zu erwarten. Diese Partei schiebt überall dort, wo sie mit in den Landesregierungen sitzt, mindestens ebenso effektiv ab wie alle anderen Parteien. Die Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht hatte schon im Herbst 2017 in Spiegel-Online erklärt, eine Verteidigung des Asylrechts „bedeutet nicht, dass jeder, der möchte, nach Deutschland kommen und hierbleiben kann“. Zurzeit debattiert die Linke über einen Entwurf zu einem Einwanderungsgesetz, um die Zuwanderung zu reglementieren.
Das politische Establishment von rechts außen bis zur Linkspartei ist sich in dem Ziel einig, dass Flüchtlinge „ohne Bleibeperspektive“ schneller abgeschoben werden sollen. Das machte Joachim Herrmann von der CSU klar, als er in der Berliner Morgenpost vom 2. Januar mit den Worten zitiert wurde: „Für mich ist klar, dass kriminelle jugendliche Flüchtlinge häufiger und konsequenter abgeschoben werden müssen.“
Die Forderung nach einer obligatorischen Zwangsuntersuchung zur Altersfeststellung entlarvt den offiziellen Rassismus in der deutschen Politik. Anstatt dass die Parteipolitiker die minderjährigen Flüchtlinge als Schutzbefohlene aufnehmen, sind diese ihnen als vermeidbare Kostenfaktoren und als angebliche Bedrohung der Sicherheit ein Dorn im Auge.