War der Berliner Attentäter ein V-Mann?

Ein am Wochenende öffentlich gewordener Bericht des Bundeskriminalamts (BKA) wirft die Frage auf, ob Anis Amri als V-Mann gearbeitet hat. Amri ist der mutmaßliche Attentäter, der am 19. Dezember mit einem LKW in einen Berliner Weihnachtsmarkt fuhr und zwölf Menschen tötete. Zuvor hatte er den polnischen LKW-Fahrer erschossen.

Schon wenige Tage nach dem Attentat wurde deutlich, dass Amri seinen Terroranschlag unter den Augen der Polizei- und Geheimdienstbehörden vorbereitet hatte. Er stand in den letzten beiden Jahren unter ständiger Beobachtung und in Kontakt mit einem V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes.

Aufgrund des 18-seitigen vertraulichen BKA-Berichts lässt sich jetzt Amris Verhalten in Deutschland ziemlich genau rekonstruieren. Polizei und Geheimdienste hatten sich fast wöchentlich mit dem Tunesier befasst und jeden seiner Schritte verfolgt.

Amri war im Sommer 2015 aus Italien nach Deutschland gekommen. Dort hatte er bereits eine vierjährige Haftstrafe verbüßt. Zuerst wurde er unter dem falschem Namen Mohamed Hassa einer Flüchtlingsunterkunft in Emmerich (Kreis Kleve) in Nordrhein-Westfalen zugewiesen.

Schon dort fiel der damals 22-Jährige auf, weil er Bilder von IS-Kämpfern auf seinem Handy hatte. Im Dezember 2015 meldeten dann andere Flüchtlinge bei der Ausländerbehörde des Kreises Kleve, Amri unterhalte „mutmaßliche Kontakte zum sogenannten IS“. Zum Schluss kannten die Behörden insgesamt 14 verschiedene Identitäten Amris.

Amri schloss er sich der salafistischen Szene an, in die der Staatsschutz des Landeskriminalamts NRW mindestens eine Vertrauensperson (VP) eingeschleust hatte. Diese berichtete der Polizei immer wieder über Amri. „Die Quelle sprudelt“, schreibt die Süddeutsche Zeitung, der der BKA-Bericht vorliegt. Ihre Berichte füllten ganze Ordner.

Auf der Grundlage dieser Berichte ließ der Generalbundesanwalt ab November 2015 das Telefon von Amri abhören. Wenig später, Ende 2015, schickte der italienische Geheimdienst Fotos und die genauen persönlichen Daten Amris nach Deutschland.

Im Februar 2016 berichtete der V-Mann, dass sich Amri immer mehr verändere, sich zurückziehe und viel im Koran lese, als wolle er mit sich ins Reine kommen, wie es manchmal Selbstmordattentäter vor einem Anschlag tun. Der NRW-Staatsschutz stufte Amri daraufhin als „Gefährder“ ein.

Etwa zur selben Zeit schickte das Landeskriminalamt NRW seine Erkenntnisse über das islamistische Netzwerk, in dem Amri verkehrte, an den Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Der oberste deutsche Strafverfolger nahm Ermittlungen wegen des Verdachts der Unterstützung und Mitgliederwerbung für eine terroristische Vereinigung auf und ließ im November den Kopf der Gruppe, Abu Walaa, sowie deren harten Kern verhaften. Nicht jedoch Anis Amri.

Diesen beobachteten inzwischen diverse Geheimdienste, wie er nun häufig zwischen Dortmund und Berlin pendelte. Dabei wurde er mindestens einmal von dem V-Mann selbst gefahren. Von März bis September lief ein Verfahren der Berliner Generalstaatsanwaltschaft gegen Amri. Er wurde abgehört und observiert, soll aber angeblich nicht durch Anschlagsplanungen, sondern durch Drogenkleinsthandel aufgefallen sein. „Religiöse Fragen“ seien bei ihm sogar während des Ramadans in den Hintergrund getreten, heißt es laut SZ in dem BKA-Bericht.

Am 30. Juli wurde Amri in einem Fernbus sitzend an der Grenze zur Schweiz festgenommen, weil man bei ihm gefälschte Ausweisdokumente sowie Drogen fand. Nach zwei Tagen wurde er aber nach Rücksprache mit der Ausländerbehörde des Kreises Kleve und dem NRW-Innenministerium wieder aus der Justizvollzugsanstalt Ravensburg entlassen,

Der Leiter der JVA Ravensburg sagte dem Westdeutschen Rundfunk, wenn damals alles bekannt gewesen wäre, was die Behörden in NRW bereits wussten, hätte man Amri länger festhalten können. Doch diese Informationen behielten die Behörden für sich.

Am 19. September warnte dann der marokkanische Geheimdienst das Bundeskriminalamt und den Bundesnachrichtendienst, dass der Tunesier Anschläge begehen könnte. Zwei Tage später, am 21. September 2016, beendete die Berliner Polizei seine Observierung, angeblich weil es keinen Hinweis auf eine bevorstehende Straftat gab.

Im Oktober ging eine erneute Warnung aus Marokko an die deutschen Geheimdienste. Das nordrhein-westfälische LKA wurde zu dieser Zeit gleich mehrmals vom marokkanischen und tunesischen Geheimdienst über die Gefahr, die vom IS-Anhänger Amri ausging, gewarnt, zuletzt am 26. Oktober. Die NRW-Verfassungsschützer überprüften aber nur per Ortung sein Mobiltelefon und stellten fest, dass er sich im Raum Berlin/Brandenburg aufhalte.

Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), in dem 40 Sicherheitsbehörden auf Landes- und Bundesebene vertreten sind, tauschte sich auf insgesamt sieben Sitzungen über Amri aus. Doch angeblich wollte niemand eine Gefahr sehen.

Dennoch wurde Amri ab Oktober letzten Jahres in der bundesweiten Polizeidatenbank Inpol als „Foreign Fighter“ (ausländischer Kämpfer) geführt, also als Terrorist. Dieser Hinweis wurde an alle 26 Schengen-Staaten gesandt.

Dass Amri nicht festgenommen wurde, lag nicht an fehlenden Gesetzen, obwohl dies nun so dargestellt wird. Die Behörden hätten bei Gericht einen Antrag auf Abschiebe-, bzw. Sicherungshaft stellen und Amri als „Gefährder“ bis zu 18 Monate inhaftieren können. Danach hätten sie ihn auch unter der Anklage des Terrorismus festnehmen können. Doch all das geschah nicht. Amri blieb unbehelligt und konnte am 19. Dezember seinen Anschlag verüben.

Insbesondere das Bunddeskriminalamt spielte die Gefahr herunter, die von dem jungen Tunesier ausging. Bereits im Dezember 2015 hielt es das BKA für „sehr unwahrscheinlich“, dass Amri einen Anschlag begehen werde. In einer der GTAZ-Besprechungen erklärte eine Beamter des BKA, der V-Mann, der über Amri berichtete, sei schon in einem anderen Fall mit „Exklusivwissen“ in Erscheinung getreten. „Exklusiv bedeutet gewöhnlich: Da war nichts“, schreibt die SZ.

Das BKA stellte Amri als gewöhnlichen Kleinkriminellen dar, dem religiöse Rituale nichts mehr bedeuteten. „Hinweise auf eine Planung von religiös motivierten Gewalttaten ergaben sich im Verlauf der Maßnahmen nicht. Es entstand der Eindruck eines jungen Mannes, der unstet, sprunghaft und nur wenig gefestigt erscheint“, heißt es im BKA-Bericht.

Wie man heute weiß, hatte Amri noch kurz vor seinem Attentat in einer Moschee in Berlin-Moabit gebetet.

Wer die Gefahr, die von Amri ausging, aus welchem Grund herunterspielte, ist eine der vielen offenen Fragen im Fall von Anis Amri. War er womöglich selbst V-Mann einer Behörde? Diesen Verdacht hegten selbst Polizeibehörden, weil alle gegen Amri anhängigen Ermittlungsverfahren eingestellt wurden, so z. B. ein Verfahren wegen Sozialbetrugs bei der Staatsanwaltschaft Duisburg. Auch gab es keine Ermittlungen gegen ihn wegen Körperverletzung und Drogenhandel. Das ist erfahrungsgemäß ein sicheres Anzeichen dafür, dass jemand unter dem Schutz einer hohen Polizei- oder Geheimdienstbehörde steht.

Amri selbst kann sich dazu nicht äußern. Der 24-Jährige wurde am 23. Dezember von der italienischen Polizei in Mailand erschossen.

Dass sich nun alle Landesbehörden des Verfassungsschutzes gegenseitig versichert haben, Amri sei kein V-Mann gewesen, bedeutet nichts. Man kennt das inzwischen von vielen Terroranschlägen – den Anschlägen vom 13. November 2015 in Paris, vom 15. April 2013 in Boston und vom 11. September 2001 in den USA. Überall befanden sich die Attentäter seit langem im Visier der Sicherheitskräfte, ohne dass diese einschritten.

Dafür lieferten alle diese Anschläge den Vorwand für eine massive Aufrüstung des Staatsapparats, wie nun auch der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt.

Innenminister Thomas de Maizière (CDU) reagierte bereits Anfang Januar mit der Forderung nach einer Umstrukturierung und Zentralisierung des Sicherheitsapparats. Das Bundeskriminalamt müsse gestärkt, die Landesämter für Verfassungsschutz zugunsten einer Bundesverwaltung abgeschafft und eine „echte Bundespolizei“ aufgebaut werden. Er veröffentlichte diese Forderungen unter der Überschrift „Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Inzwischen hat CDU-Parteivize Thomas Strobl eine unbeschränkte Abschiebehaft für Gefährder und Kriminelle gefordert. Strobl ist Innenminister von Baden-Württemberg.

Am Dienstag hat sich die Bundesregierung darauf geeinigt, im Fall Amri weder einen Sonderermittler noch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Lediglich eine interne Ermittlergruppe des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) soll demnach kurzfristig einen Bericht vorlegen. Wer hat hier was zu verheimlichen?

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