Heribert Prantl, der seit zwanzig Jahren das Ressort Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung leitet, zählt zu den wenigen deutschen Journalisten, die sich einen Sinn für demokratische Rechte bewahrt haben. Er hat für seine Leitartikel, Kommentare und Bücher zu diesem Thema über zwanzig Preise und Auszeichnungen erhalten.
Aber Prantl ist ein typisch deutscher Demokrat. Sein Einsatz für die Demokratie endet meist dort, wo er eigentlich beginnen müsste: vor der Autorität des Staates.
Das deutsche Bürgertum, das in seiner Geschichte nie eine siegreiche demokratische Revolution vollbrachte, hat eine höchst merkwürdige Auffassung von Demokratie entwickelt. Demokratie bedeutet hier nicht Schutz des Bürgers vor den Übergriffen des Staates, vielmehr verkörpert der Staat selbst die Demokratie. In kaum einem anderen Land käme man auf die Idee, den Staat als „Vater“ zu personifizieren und den Inlandsgeheimdienst, der die eigenen Bürger bespitzelt und dabei ständig von der Verfassung garantierte Grundrechte bricht, „Verfassungsschutz“ zu nennen.
In Deutschland bedeutet Demokratie bestenfalls, dass bestimmten formalen Kriterien Genüge getan wird, nicht aber, dass sie mit Inhalt gefüllt werden und die Macht tatsächlich vom Volk ausgeht. Das ist auch Prantls Haltung. Ein krasses Beispiel dafür hat er am Mittwoch in der Online-Ausgabe der Süddeutschen geliefert.
Unter Überschrift „Union aufgemischt – Demokratie erfrischt“ lobt er dort die Bundestagssitzung zum jüngsten Sparpaket für Griechenland als „guten Tag“ für die parlamentarische Demokratie. Das Nein-Votum von 63 Unions-Abgeordneten, die der eigenen Regierung die Gefolgschaft verweigerten, begrüßt Prantl als Sieg der „Gewissensfreiheit“, die „eine Medizin gegen parteienstaatliche Exzesse“ sei.
Er ist zwar der Ansicht, dass auch die Fraktionsdisziplin ihre Berechtigung habe: „Beide Prinzipien sind wichtig – die Freiheit des Abgeordneten und die organisierende Kraft der Parteien und Fraktionen. Wenn beide Prinzipien beachtet und geachtet werden, geht es der parlamentarischen Demokratie gut.“
Der Kommentar endet mit den Sätzen: „Ein Lob also für die Zustimmer zum Griechenland-Paket. Ein noch größeres für die, die dagegen gestimmt haben. Sie müssen nämlich Anfechtungen ertragen. Ein guter Abgeordneter hält sie aus.“
Es läuft einem kalt über den Rücken, wenn man diese Worte liest. Hat doch der Bundestag am Mittwoch nichts Geringeres beschlossen, als die faktische Abschaffung der Demokratie in Griechenland.
Das „Memorandum of Understanding“, das Bestandteil der Beschlussvorlage der Bundesregierung war, verwandelt das Land an der Ägäis praktisch in ein Protektorat der „Institutionen“ (EU-Kommission, Europäische Zentralbank, Europäischer Stabilitätsmechanismus und Internationaler Währungsfonds), in denen Deutschland den Ton angibt. Die griechische Regierung darf dem Parlament ohne deren Erlaubnis noch nicht einmal einen Gesetzesentwurf zur Diskussion vorlegen.
Auf 360 Seiten schreibt das Memorandum der griechischen Regierung im Einzelnen vor, welche Sozialausgaben sie zu kürzen, welche Staatsangestellten sie zu entlassen, welche öffentlichen Einrichtungen sie zu privatisieren und welche sozialen und demokratischen Rechte sie abzuschaffen hat. Für die verarmte griechische Bevölkerung bedeutet es noch mehr Armut, Hunger und in vielen Fällen sogar Tod.
Das Memorandum verstößt zudem in eklatanter Weise gegen den demokratischen Willen des griechischen Volkes, das sich noch am 5. Juli in einem Referendum mit großer Mehrheit gegen weitere Sparmaßnahmen ausgesprochen hatte. Dass ihm dabei die eigene Regierung in den Rücken fällt, die ein Ende der Austeritätspolitik versprochen hatte und sich nun zu deren Exekutivorgan aufschwingt, macht die Haltung des deutschen Bundestags nicht besser.
Prantl ficht all dies nicht an. Für ihn herrscht Demokratie, wenn einige Abgeordnete im Bundestag ihrem „Gewissen“ folgen, während andere die Fraktionsdisziplin beachten. Dass das neue Sparpaket für Griechenland einen Meilenstein auf dem Weg zur Abschaffung demokratischer und sozialer Rechte in ganz Europa bedeutet, ist ihm gleichgültig.
Mit derselben Begründung könnte man den 24. März 1933 als „guten Tag für die parlamentarische Demokratie“ bezeichnen. Damals verabschiedete der Reichstag bekanntlich Hitlers Ermächtigungsgesetz. Die bürgerlichen Abgeordneten stimmten dafür, die sozialdemokratischen dagegen. Sieht man davon ab, dass die kommunistischen Abgeordneten bereits in den Konzentrationslagern saßen, wurden die formalen Regeln der Demokratie also eingehalten. Trotzdem verankerte der 24. März Hitlers uneingeschränkte Diktatur.
Die von Prantl gelobten Unions-Abweichler greifen die Regierungslinie ausnahmslos von rechts an. Sie verteidigen nicht die Demokratie in Griechenland, sondern verlangen ein noch härteres Spardiktat. Dass ihnen Prantl trotzdem „ein noch größeres Lob“ spendet, unterstreicht die reaktionären Konsequenzen seiner Haltung.
Das ist keine individuelle Frage. Die Krise des europäischen Kapitalismus und die damit einhergehende soziale Polarisierung in Arm und Reich haben ein Ausmaß erreicht, das sich nicht mehr mit demokratischen Herrschaftsformen vereinbaren lässt. Die formale Demokratie ist zu einer Hülle verkommen, hinter der sich die nackte Diktatur des Finanzkapitals verbirgt.
Die Verteidigung demokratischer Rechte ist untrennbar mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbunden, die nicht der Bereicherung einer kleinen Minderheit dient, sondern alle vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten zur Lösung der großen gesellschaftlichen Probleme einsetzt.