Zwischen zwei führenden deutschen Wirtschaftszeitungen, dem Handelsblatt und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), ist ein heftiger Streit über die Russlandpolitik entbrannt. Während die FAZ zu einem harten Konfrontationskurs gegen Russland aufruft, bezeichnet das Handelsblatt dies als „Irrweg“, der direkt in den Krieg führe. Der Streit ist Ausdruck scharfer Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse über die zukünftige Ausrichtung der deutschen Außenpolitik.
Seit Beginn der Ukrainekrise haben die deutschen Medien den aggressiven Kurs der Bundesregierung gegen Russland nahezu einhellig unterstützt und angefeuert. Auch das Handelsblatt, das für die Interessen der deutschen Exportindustrie spricht, hat bestenfalls zu etwas mehr Besonnenheit gemahnt.
Am Montag griff Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart die FAZ nun frontal an. In seinem Morning Briefing, das täglich per E-Mail an die Abonnenten des Handelsblatts geht, warf er der FAZ-Redaktion vor, sie fordere „unverhohlen zum Losschlagen gegen Russland auf“. Er bezog sich auf den Leitartikel „Stärke zeigen“, der am selben Tag auf der Titelseite der FAZ erschien und verlangte, der Westen müsse „seine militärische Abwehrbereitschaft stärken und auch demonstrieren“. Diese Sätze läsen sich „wie geistige Einberufungsbescheide“, kritisierte Steingart.
Die FAZ reagierte umgehend. Christian Geyer bezeichnete Steingarts Vorwürfe als „aberwitzig“ und warf ihm vor, er stehe unter dem „Druck der Wirtschaftslobby“ und mache sich „zum publizistischen Rohr eines Ökonomismus, dem Geschäfte über alles gehen“. Seine unverhohlene Maxime laute: „Seid nett zu Putin, was immer er tut, sonst bekommt Deutschland ein wirtschaftliches Standortproblem.“
In Wirklichkeit, so die FAZ, habe die „kriegerische Aggression“ von Seiten der russischen Armee schon längst begonnen. Wer darüber nicht nachdenke und Gegenmaßnahmen ergreife, leide an einem tragischen Realitätsverlust.
Am Freitag antwortete Steingart mit einem langen Essay „Der Irrweg des Westens“, der gleichzeitig auch in russischer und englischer Sprache erschien. Der Artikel ist bemerkenswert, weil er in einer Offenheit, wie man sie in den bürgerlichen Medien nur selten findet, vor der unmittelbaren Gefahr eines Krieges mit Russland warnt.
Der Handelsblatt-Herausgeber vergleicht die Kriegspropaganda gegen Russland mit der Kriegsbegeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Formel, Geschichte wiederhole sich nicht, beruhige ihn nicht, schreibt er. Im US-Kongress werde offen über die Bewaffnung der Ukraine diskutiert. Der ehemalige Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski empfehle, die dortigen Bürger für den Häuser- und Straßenkampf auszurüsten. Und die deutsche Kanzlerin erkläre sich bereit, „tiefgreifende Maßnahmen zu ergreifen“.
Steingart tadelt die Gleichschaltung der deutschen Medien und nennt namentlich den Tagesspiegel, die FAZ, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel. Der deutsche Journalismus habe binnen weniger Wochen „von besonnen auf erregt umgeschaltet“. Das Meinungsspektrum sei „auf Schießschartengröße verengt“. „Blätter, von denen wir eben noch dachten, sie befänden sich im Wettbewerb der Gedanken und Ideen, gehen im Gleichschritt mit den Sanktionspolitikern auf Russlands Präsidenten Putin los.“
Am Ende seines Artikels appelliert Steingart dringend an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, sich vom politischen Kurs der USA abzuwenden. „Niemand zwingt uns zur Vasallenhaftigkeit“, schreibt er. Man sehe doch, wie US-Präsident Obama „und Putin geradezu schlafwandlerisch auf ein Schild zusteuern, auf dem steht: Kein Ausweg.“
Die amerikanische Neigung zur militärischen Eskalation habe sich nicht bewährt, fährt Steingart fort. Nach der erfolgreichen Landung in der Normandie seien alle militärische Großaktionen der USA – Korea, Vietnam, Irak und Afghanistan – gründlich daneben gegangen. Die Verlegung von Nato-Einheiten an die polnische Grenze und das Nachdenken über eine Bewaffnung der Ukraine sei „eine Fortsetzung der diplomatischen Ideenlosigkeit mit militärischen Mitteln“.
Steingart rät der Bundesregierung, sich an Willy Brandt zu orientieren. Dieser habe 1961 als Berliner Bürgermeister seinen ohnmächtigen Zorn über den Mauerbau gezügelt, „um nicht von der Katastrophe der Teilung in die weit größere Katastrophe des Krieges zu schlittern“. Anstelle einer „Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Politik“ müsse eine Politik des „Interessenausgleichs“ mit Russland treten.
Der heftige Schlagabtausch zwischen den beiden Wirtschaftsblättern zeigt, dass die Gefahr eines Kriegs mit Russland, der sich zu einer nuklearen Katastrophe ausweiten kann, viel dringender ist, als dies von den Medien sonst zugegeben wird. Die eindringliche Warnung des Herausgebers des Handelsblatts vor einer militärischen Eskalation macht deutlich, dass führende Interessenvertreter der Wirtschaft diese Gefahr sehr Ernst nehmen.
Lange Zeit hatten sich die Wirtschaftsverbände politisch zurückgehalten und – wenn auch zähneknirschend – erklärt, sie würden sich dem „Primat der Politik“ beugen. Nachdem aber harte Sanktionen gegen Russland beschlossen worden sind, die auch die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen und Europa in eine Rezession zurückzuwerfen drohen, brechen sie ihr Schweigen.
Gleichzeitig nimmt die Gefahr einer militärischen Konfrontation täglich zu. Die Belagerung und Bombardierung der Großstädte Lugansk und Donezk durch die ukrainische Armee hat Hunderttausende zur Flucht nach Russland getrieben und zielt darauf ab, Russland zu einer militärischen Reaktion zu provozieren.
Am Donnerstag reiste Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen nach Kiew und sicherte der ukrainischen Regierung die finanzielle und militärische Unterstützung des westlichen Bündnisses zu. Auch US-Präsident Barack Obama Unterstützung für das Regime in Kiew angekündigt. Gleichzeitig gab die US-Marine bekannt, dass ihr Kriegsschiff „Vella Gulf“ mit 400 Mann Besatzung und modernen Boden-Luft-Raketen am Donnerstag ins Schwarze Meer eingelaufen sei.
In den führenden Kreisen Deutschlands wächst deshalb der Flügel, der für eine grundlegende Neuorientierung der Außenpolitik eintritt – für eine Abkehr vom Bündnis mit den USA und eine engere Zusammenarbeit mit Russland.
Steingart greift die US-Außenpolitik zwar scharf an, geht aber nicht so weit, einen solchen Kurswechsel zu fordern. Das tut stattdessen Jakob Augstein, der in seiner wöchentlichen Spiegel-Online-Kolumne eine sehr ähnliche Linie wie Steingart vertritt. Während die Redaktion des Spiegel für einen aggressiven Konfrontationskurs gegen Russland eintritt, wirbt Miteigentümer Augstein für den Aufbau neuer sicherheitspolitischer Strukturen gemeinsam mit Russland – „wenn nötig ohne die USA“.
Mit einer prinzipiellen Opposition gegen Krieg oder gar dem Eintreten für Frieden hat die Haltung von Steingart und Augstein nichts zu tun. Vielmehr sprechen sie für einen Teil der deutschen Wirtschaft und einen Flügel der deutschen Politik, die den aggressiven Kriegskurs gegen Russland ablehnen, weil er zu sehr von US-Interessen gesteuert wird. Im Zentrum ihrer Kritik steht die enge Bindung der deutschen Politik an die USA.
Sie befürworten eine Außenpolitik, die es der deutschen Politik und Wirtschaft erlaubt, ihre Interessen eigenständig und nicht – wie es Steingart ausdrückt – als „Vasall“ der USA zu verfolgen. Die unausweichliche Folge dieses Kurses sind Aufrüstung, Militarismus und schließlich der offene Konflikt mit den USA und anderen imperialistischen Mächten.
Die tiefere Ursache der akuten Kriegsgefahr liegt nicht einfach in der Politik der Obama-Administration, sondern in den unlösbaren Widersprüchen des kapitalistischen Systems, die die imperialistischen Großmächte wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts dazu treiben, um eine Neuaufteilung der Welt – um Rohstoffe, Absatzmärkte und strategischen Einfluss – zu kämpfen. Die Kriegsgefahr kann nur durch die Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse im Kampf für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft überwunden werden.