MH17 und 9/11

In einem Gespräch mit seinem französischen Amtskollegen François Hollande hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko den Abschuss des malaysischen Linienflugs MH17 mit 9/11 verglichen, den Terroranschlägen vom 11. September 2001, denen in New York und Washington fast 3.000 Menschen zum Opfer fielen.

Der Vergleich sagt mehr aus, als Poroschenko lieb sein dürfte. Während sich die Umstände und die Hintergründe der beiden Ereignisse stark unterscheiden, gibt es deutliche Parallelen bei der Art und Weise, wie sie politisch ausgeschlachtet und instrumentalisiert werden.

Die US-Regierung nutzte 9/11 als Vorwand für eine massive Ausweitung des Militarismus und eine beispiellose staatliche Aufrüstung. Sie begründete die Kriege gegen Afghanistan, Irak, Libyen und zahlreiche andere Länder ebenso damit, wie die illegalen Praktiken der Entführung, der Folter und der gezielten Tötung. Sie baute einen gigantischen Überwachungsapparat auf, der große Teile der US- und der Weltbevölkerung bespitzelt.

Jede nüchterne Betrachtung zeigt, dass es dabei nicht um den Schutz vor Terroranschlägen geht, sondern um die gewaltsame Verfolgung imperialistischer Interessen und um die Verteidigung der Herrschaft einer schwerreichen Geldoligarchie, die zunehmend in Konflikt mit dem Rest der Bevölkerung gerät.

In ähnlicher Weise wird nun auch der Absturz von MH17 für reaktionäre politische Zwecke genutzt. Obwohl bisher weder die Ursache des Absturzes noch die Verantwortlichen und deren Motive feststehen, hat in westlichen Medien und Politikerkreisen eine ohrenbetäubende Propaganda eingesetzt, den Druck auf Russland zu erhöhen und militärisch einzugreifen.

So rief der Leiter des Auslandsressorts der grünennahen taz, Dominic Johnson, am Montag zu einer westlichen Militärintervention in der Ostukraine auf: zur Entsendung von Spezialkräften „um den Tatort zu sichern und die Leichen zu bergen“. Johnson bezeichnet das selbst als „eine hochriskante Operation“, was ihn aber nicht davon abhält, energisch darauf zu drängen.

Der taz-Redakteur wirft den westlichen Regierungen vor, sie beschränkten sich „auf hilflose Apelle an Russlands Präsidenten Wladimir Putin: Er müsse ‚mehr tun‘“. Dies sei eine „Bankrotterklärung“.

„Es sind die westlichen Regierungen, die mehr tun müssten – nicht zuletzt um der eigenen Selbstachtung willen“, erklärt Johnson und verlangt ein militärisches Eingreifen der Nato: „Der Terroranschlag vom 11. September 2001 in den USA wurde umgehend zum Nato-Bündnisfall erklärt. Die toten Passagiere von MH17 vom 17. Juli 2014 verdienen ähnliche Solidarität.“

Die Tragweite dieser Forderung ist atemberaubend. Ohne mit der Wimper zu zucken fordert das inoffizielle Zentralorgan der Grünen, die Ukraine in ein neues Afghanistan zu verwandeln und eine militärische Konfrontation mit Russland zu provozieren, die in einen nuklearen Weltkrieg münden kann – und das, obwohl es keinen Beweis für eine russische Mitschuld an der Flugzeugkatastrophe vorlegen kann.

Ähnliche Kommentare finden sich in zahlreichen deutschen, europäischen und amerikanischen Medien. Die US-Regierung hat Russland öffentlich eine Mitverantwortung für den Abschuss des malaysischen Flugzeugs zugewiesen. Und die europäischen Außenminister wollen sich am heutigen Dienstag treffen, um die Sanktionen gegen Russland weiter zu verschärfen.

Die Süddeutsche Zeitung betrachtet den Absturz von MH17 als Chance, die Antikriegsstimmung in Deutschland zu durchbrechen, nachdem die Kriegspropaganda des Bundespräsidenten und der Bundesregierung in dieser Hinsicht bisher wenig erreicht haben. Im Leitkommentar vom Samstag schreibt Stefan Ulrich: „Womöglich wird Flug MH17 eine Zäsur setzen und den Menschen im Westen die Augen dafür öffnen, dass sie immer noch in Zeiten der Kriege leben.”

Ulrich wirft „den Europäern“ vor, sie neigten „nach einer äußerst kriegerischen Vergangenheit heute dazu, die Welt idealistisch bis blauäugig zu sehen“, und glaubten, „Konflikte ließen sich stets mit gutem Willen und ganz viel Diplomatie lösen“. Nun könnten sie „die ukrainischen Dramen zum Anlass nehmen, ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu überdenken. Die Wehretats dürfen nicht länger sinken. Die EU-Staaten müssen wieder mehr für ihre Sicherheit ausgeben.“

Das Muster ist immer dasselbe: Das Entsetzen über den schrecklichen Tod der Passagiere der malaysischen Linienmaschine wird, wie einst der Schock über 9/11, ausgenutzt, um weit größere Verbrechen vorzubereiten. Dabei wird rücksichtslos gelogen und gefälscht.

Diese Propagandakampagne muss mit Verachtung zurückgewiesen werden. Zahlreiche Kriege der jüngeren Geschichte wurden durch ähnliche Kampagnen eingeleitet, die entweder auf Halbwahrheiten oder schlicht auf Lügen beruhten. Erinnert sei an den Tonkin-Zwischenfall, mit dem die USA 1964 ihr Eingreifen in Vietnam rechtfertigten, an das nie wirklich nachgewiesen Massaker von Racak, das 1999 die Begründung für den Nato-Krieg gegen Jugoslawien lieferte, oder an die frei erfundenen Massenvernichtungswaffen, mit denen die US-Regierung 2003 ihren Angriff auf den Irak begründete.

Fragt man nach dem Motiv für den Abschuss von Flug MH17, dann stehen das Regime in Kiew und seine imperialistischen Unterstützer an erster Stelle auf der Liste der Verdächtigen. Sie nutzen die Tragödie systemtisch, um Regierungen, die sich bisher einem Konfrontationskurs gegen Russland widersetzten, auf ihre Seite zu bringen, und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Im Falle Russlands fällt es dagegen schwer, ein plausibles Motiv zu finden.

Eindeutige Beweise für eine Täterschaft Kiews gibt es nicht, genauso wenig wie für eine Verantwortung der Separatisten oder Russlands. Aber abwegig ist ein solcher Verdacht nicht. Selbst wenn das Regime oder die westlichen Geheimdienste, die es unterstützen, den Abschuss nicht selbst angeordnet haben sollten, gibt es in den ukrainischen Sicherheitskräften unkontrollierbare faschistische und kriminelle Elemente. Neben der regulären Armee und der freiwilligen Nationalgarde existieren mehrere Privatarmeen, die einzelnen Oligarchen verantwortlich sind.

So finanziert der Milliardär Igor Kolomoiski, der nach dem Putsch in Kiew zum Gouverneur der Industriemetropole Dnipropetrowsk ernannt wurde, das für deine Brutalität berüchtigte Asow-Bataillon. Auch der rechtsextreme „Rechte Sektor“ soll von Kolomoiski unterstützt werden, und dessen Führer Dmitro Jarosch hat sein Hauptquartier nach Dnipropetrowsk verlegt.

Den westlichen Regierungen und Medien geht es nicht um die Opfer der Flugzeugkatastrophe. Diese sind für sie vor allem nützlich als Mittel der Kriegspropaganda. Wären sie wirklich um das Leben von Menschen besorgt, würden sie einen Schritt zurück machen und die Politik überdenken, die in diese Katastrophe geführt hat.

Durch ihre Unterstützung des Putsches in Kiew, die Zusammenarbeit mit den Faschisten von Swoboda und dem Rechten Sektor und ihr Bündnis mit Oligarchen wie Poroschenko, Kolomoiski und Rinat Achmetow haben sie das Land in den Bürgerkrieg getrieben und so erst die Bedingungen geschaffen, die zur Flugzeugkatstrophe führen konnten. Nun reagieren sie darauf, indem sie dieselbe Politik mit gesteigerter Aggressivität fortsetzen.

Im Bemühen, die Ukraine in ihren Einflussbereich zu bringen, ihre Rohstoffe, Transitwege, Agrarflächen und billigen Arbeitskräfte auszubeuten und Russland zu isolieren, sind sie bereit, eine militärische Konfrontation und einen nuklearen Weltkrieg zu riskieren. Die Lakaien in den Medien sind ihnen dabei treu zu Diensten. Artikel wie der von Dominic Johnson in der taz erfüllen den Straftatbestand der Kriegshetze.

Während hie und da noch routinemäßig an Kriegsgegner wie Carl von Ossietzky und selbst an Rosa Luxemburg erinnert wird, findet man in den heutigen etablierten Medien kaum mehr eine mutige Stimme, die der Kriegspropaganda entgegentritt.

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