Mitte Januar erlebten Tausende Besucher der Berliner Philharmonie ein bewegendes Konzert: Ein 90 Jahre alter Mann, klein, behende, setzt sich im großen Saal an den Flügel und spielt Mozarts Klavierkonzert KV 453. Während seiner Darbietung wird er zusehends fröhlich, korrespondiert mit dem Orchester, insbesondere mit den Bläsern, und spricht durch Mozarts Musik zum Publikum – eine Aufforderung, sich mit jedem Triller zu freuen.
Der Pianist heißt Menahem Pressler, 1923 als Max Jacob Pressler in Magdeburg geboren. 1939, vor 75 Jahren, war er zusammen mit seiner Familie gerade eben noch dem Nazi-Terror gegen die jüdische Bevölkerung entkommen.
Das Herrenausstatter-Geschäft seiner Eltern wurde am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht geplündert und zerstört, Max Jacob des Gymnasiums verwiesen. Klavierunterricht erhielt er im Geheimen. Seine Onkel, Tanten und Großeltern wurden in Auschwitz ermordet. Die Familie flüchtete über Italien nach Palästina und danach in die USA.
Mit 17 Jahren nahm Max Jacob den Namen Menahem (hebräisch: Trost) an. Er studierte Klavier u.a. bei dem ebenfalls emigrierten Leo Kestenberg und bei Eliahu Rudiakov. In den USA gründete er 1955 das berühmte Beaux Arts Trio, das bis zu seiner Auflösung 2008 mit wechselnder Besetzung international, auch in Deutschland, auftrat.
Nach 73 Jahren, am 27. September 2012, erhielt Menahem Pressler die deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Bei dem Festakt in Berlin sagte er, Deutschland sei seine kulturelle Heimat geblieben. Zu Hause habe er mit seiner Familie Deutsch gesprochen, Heine und Goethe gelesen und auf dem Klavier Schubert, Mozart und Beethoven gespielt. „Ich verstehe die Menschen, die das nach Auschwitz nicht mehr konnten“, sagte Pressler. „Aber für mich gab es immer dieses Land der Kultur, und ich habe mir das nie nehmen lassen.“
In drei Konzerten vom 10. bis 12. Januar ist Menahem Pressler erstmals mit den Berliner Philharmonikern aufgetreten, dem Spitzenorchester, das unter der NS-Diktatur bis 1945 als „Reichsorchester“ musiziert hatte. Man gewann den Eindruck, dass er selbst und das Publikum diesen Auftritt als historischen Moment empfunden haben.
Der Jubel nach Menahem Presslers Auftritt ist riesig, viele stehen auf, um dem Musiker ihre Ehrerbietung zu zeigen. Als dieser die Nocturne cis-Moll von Chopin als Zugabe spielt – zart, gefühlvoll, doch ohne pathetische Übertreibung –, ist es still im Saal, niemand hustet. Man hat unwillkürlich die Filmmusik aus „Der Pianist“ über das Warschauer Ghetto im Ohr und spürt schmerzhaft den barbarischen Einschnitt, den die Nazi-Diktatur für die Kultur bedeutet hat.
Mozarts Klavierkonzert könnte man als Versöhnungsangebot des zurückgekehrten jüdischen Pianisten betrachten oder auch als musikalischen Ansporn für eine menschlichere Zukunft. Die Sprache Mozarts ist auch seine.
1784, zur Entstehungszeit des Klavierkonzerts KV 453, ist der Komponist erst 28 Jahre alt. Komponiert für seine Schülerin Barbara Ployer, ist das Werk das letzte von vier Klavierkonzerten, die Mozart im Frühjahr jenes Jahres geschrieben hat. Erst wenige Jahre zuvor, 1781, hat er den ungeliebten Dienst beim Salzburger Fürst-Erzbischof Colloredo quittiert, um in Wien als freischaffender Künstler tätig zu werden – „für mein Metier der beste ort von der Welt“. Hier beflügelt anders als in Salzburg der Geist der Aufklärung und der Rebellion gegen den Feudalismus die kulturelle Atmosphäre und auch den jungen Mozart.
Sein Klavierkonzert KV 453 atmet diese Aufbruchsstimmung. Mozart lässt den Pianisten nahezu gleichberechtigt mit anderen Instrumentengruppen auftreten, statt wie gewohnt als Solisten, der vom Orchester begleitet wird. Die Lust an neuen Klangfarben und an unorthodoxen und überraschenden Momenten – beispielsweise werden 13 verschiedene Tonarten angespielt, im Andante fließt unvermittelt eine Moll-Episode ein und der Klavierpart erhält, ganz gegen die klassischen Regeln des Sonatenhauptsatzes, ein drittes Thema – paart sich mit einem fast kammermusikalischen Dialog zwischen Klavier und Bläsern oder Streichern. Kurz vor diesem Klavierkonzert hat Mozart das Wechselspiel zwischen Klavier und Bläsern in seinem Quintett Es-Dur, KV 452, ausgetestet.
Schostakowitschs „Das Jahr 1905“
Im zweiten Teil des Philharmoniker-Konzerts erklingt die 11. Symphonie g-Moll, op. 103 von Dmitri Schostakowitsch, „Das Jahr 1905“. Sie mutet wie ein Kontrastprogramm an: Eine Revolutionssymphonie, die den Petersburger Blutsonntag von 1905 thematisiert, als Zar Nikolaus II. eine unbewaffnete Demonstration von Arbeitern und ihren Familien niederschießen ließ. Auch hier am Ende großer Jubel des Publikums, das mit Recht die brillante musikalische Leistung des Orchesters und des Gastdirigenten Semyon Bychkov aus St. Petersburg feiert.
Dennoch: Diese Interpretation berührt nicht in gleicher Weise wie das Mozart-Konzert mit Menahem Pressler. Man verspürt eine gewisse Distanz des Orchesters und des Dirigenten zur russischen Revolution. Es fehlt daher, bei aller technischen Präzision, die Seele dieser Musik.
Die 11. Symphonie entstand 1957 und wurde bei den Moskauer Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution uraufgeführt, ein Jahr nach dem niedergeschlagenen ungarischen Arbeiteraufstand, mit dem viele in der Sowjetunion und Osteuropa sympathisiert hatten. Schostakowitsch bemerkt in seinen von Solomon Volkow aufgezeichneten Memoiren, seine Symphonie beziehe sich auch auf die Gegenwart: „Sie handelt vom Volk, das jeden Glauben verloren hat, weil der Kelch der Missetaten übergelaufen ist.“ („Zeugenaussage“, S. 42)
Ähnlich wie Mussorgskijs „Bilder einer Ausstellung“ beschreiben die vier Sätze der 11. Symphonie vier Bilder oder Szenen jenes 9. Januar 1905: Der Platz vor dem Palast, 9. Januar, In Memoriam, Sturmgeläut. Die Sätze gehen ohne Pause ineinander über, so dass die Symphonie große Dynamik gewinnt. Es ist ein symphonisches Gemälde, fast ein Film mit dramatischen Wendungen von scheinbar friedlicher Stille zu Kampfgetöse, Trauer und neuem Kräftesammeln.
Zu Beginn lassen die Streicher die repressive Atmosphäre unter dem Zarenregime erahnen, von Flöten, fernen Trompetenklängen und Paukenschlägen gelegentlich untermalt – eine unheimliche Atmosphäre. Das erste Thema, basierend auf der Kirchenmelodie „Herr, erbarme dich unser“, verweist auf die religiösen Illusionen der Menschen, deren Bittdemonstration zum Zaren von einem Popen geführt wird. Ein zweites Thema nimmt ein Lied sibirischer Zwangsarbeiter auf, ein drittes eine Weise aus den 1860er-Jahren mit dem Titel „Der Strafgefangene“. Im zweiten Satz wird der Angriff der zaristischen Garde mit einem Fugato und mit Schlagzeugsalven eingeleitet.
Auch in den folgenden Sätzen verwendet Schostakowitsch viele bekannte Liedthemen, so das bis heute populäre revolutionäre Trauerlied „Ihr seid als Opfer gefallen“ im dritten Satz, dem Trauermarsch für die Toten. Dieses Lied wurde auch bei Lenins Tod 1924 gesungen. Im selben Satz erklingen im Mittelteil das Revolutionslied „Seid gegrüßt, der Freiheit ungezwungenes Wort“ und im Schlusssatz, der die Fortführung der Revolution ankündigt, das ukrainische Lied „Seht euch vor, Tyrannen“ sowie die polnische Arbeiter-Marseillaise Warschawjanka.
Unter die Marschrhythmen im Finale mischen sich auch wieder leise, nachdenkliche Töne: Die Opfer sollen nicht vergessen werden. Schostakowitsch gedenkt in seinen Symphonien immer auch der Opfer des Stalin-Regimes, unter denen sich viele seiner Freunde befanden, wie Meyerhold oder Tuchatschewski.
In mancher Hinsicht knüpft die Elfte an die Siebte, die Leningrader Symphonie an. Wie diese stand auch die Elfte in den vergangenen Jahren in westlichen Kritikerkreisen im Verdacht einer Propagandamusik und wurde entsprechend wenig aufgeführt. Bemängelt wurden unter anderem die vielen Revolutionslieder. Gerade diese waren es jedoch, auf die das Publikum in den Uraufführungskonzerten begeistert reagierte. Die Oktoberrevolution lag erst 40 Jahre zurück, viele Konzertbesucher kannten die Lieder noch gut.
Im Programmheft zum Berliner Konzert lehnt Susanne Stähr den Verdacht der Propagandamusik ab. Sie schreibt, Schostakowitsch habe „vom Grundsatz her“ mit den ursprünglichen Idealen der Revolutionäre sympathisiert, die erst durch den Stalinismus pervertiert worden seien. Gleichzeitig bemüht sie sich, wie auch andere Rezensenten, in der 11. Symphonie das Scheitern der revolutionären Ideen zu entdecken.
Genau das ist das Problem der Berliner Aufführung. Das Orchester spielt zwar musiktechnisch herausragend, aber die revolutionäre Leidenschaft der russischen Arbeiter, ihr Kampfgeist und gewachsenes Selbstbewusstsein finden kaum musikalischen Ausdruck. Daher wirken die Kontraste zwischen leisen, traurigen und lauten, martialischen Partien manchmal so starr – brillant, aber ohne inneren Zusammenhang und ohne tieferes Verständnis.
Zum Vergleich möchte die Autorin eine Konzertaufführung mit den Leningrader Philharmonikern unter Leitung von Jewgenij Mrawinskij empfehlen. In einer Aufnahme eines Konzerts von 1959 ist von Anfang an ein anderer Ton zu spüren, ein Ton der Anteilnahme am revolutionären Aufschwung und an den Rückschlägen in der Sowjetunion, die Schostakowitsch so sehr bewegten.