Das Rätsel der Leningrader Symphonie von Schostakowitsch

Vor 70 Jahren fand ein denkwürdiges Konzert statt. Am 9. August 1942 erklang in der schon seit über einem Jahr von deutschen Truppen eingeschlossenen und hungernden Stadt Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, die Siebte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, die „Leningrader“. Karl Eliasberg dirigierte ein Orchester aus 15 überlebenden Musikern seines Rundfunkorchesters und anderen Musikern, die eigens von der Front zu diesem Zweck abberufen worden waren. Die Leningrader Philharmoniker unter Leitung von Jewgeni Mrawinski waren nach Novosibirsk evakuiert worden, wo sie bereits im Juli die Siebte Symphonie mit großem Erfolg aufgeführt hatten.

Die Partitur der Symphonie gelangte in einem Sonderflugzeug, das die Blockade umflog, in die umlagerte Stadt. Ausgerechnet am Tag des Konzerts startete die Wehrmacht eine Offensive und flog heftige Bombenangriffe. Die sowjetische Armee in Leningrad ließ für die Zeit des Konzerts die Abwehrgeschütze schweigen.

„Die Menschen kamen in kleinen Gruppen oder einzeln. Über ausgetretene Pfade eilten sie aus den entlegensten Stadtteilen herbei, wobei sie weiträumig die Stellen umgingen, an denen Tafeln mit der Aufschrift standen: ‚Andere Straßenseite benutzen. Gefahr von Artilleriebeschuss.’ So gingen sie auf der anderen, sicheren Straßenseite und schauten, wie Verputz und Gesimse bröckelten, wie Steine aus den Mauern der beschossenen Häuser fielen. Sie gingen vorsichtig, lauschten dem Frontgetöse und achteten auf die Detonationen der nahen Explosionen, ob nicht vielleicht der Beschuss sich der Straße näherte, durch die sie gerade zum Konzert im Großen Säulensaal eilten.“(1)

Das Konzert verlief „stürmisch und leidenschaftlich – wie eine Festversammlung, großartig und feierlich – wie ein Nationalfeiertag“, schrieb der Komponist Walerian Bogdanow-Beresowski zwei Tage danach in der Leningradskaja Prawda, ein Freund Schostakowitschs und Teilnehmer des Konzerts. (2) Die Musik soll auch in den Schützengräben der deutschen Soldaten zu hören gewesen sein.

Die Leningrader Symphonie wurde Schostakowitschs populärstes Werk, das nach seiner Uraufführung schnell einen Siegeszug durch die Konzertsäle aller Welt erlebte. Außer in den Städten der Sowjetunion gab es 60 Aufführungen allein auf dem amerikanischen Kontinent, ebenso in den meisten Hauptstädten Ost- und Westeuropas. In Berlin wurde sie erstmals im Winter 1946/47 in der Deutschen Staatsoper unter Leitung von Sergiu Celibidache aufgeführt. Überall gab es begeisterte Reaktionen. Musikkritiker, Musiker und Dirigenten verglichen Schostakowitschs Siebte Symphonie mit Beethovens Eroica und bezeichneten den Komponisten als Genie. Allgemein wurde seine Siebte mit dem Kampf der sowjetischen Bevölkerung gegen die faschistischen Truppen identifiziert.

In der Nachkriegszeit wurde die Siebte Symphonie kaum mehr gespielt. In der Sowjetunion warf Stalins Kulturfunktionär Andrei Schdanow dem Werk mangelnden Optimismus vor. Schostakowitsch habe der im ersten Satz dargestellten Gewalt der Nazi-Angreifer nicht die Kraft der Roten Armee entgegengesetzt. Im Westen wurden während des Kalten Kriegs Schostakowitschs Werke und insbesondere die Leningrader Symphonie als Auftragsmusik Stalins denunziert und fallengelassen.

Erst 1979 wurde diese Einschätzung in Zweifel gezogen, als der junge sowjetische Musikkritiker Solomon Wolkow, der nach Schostakowitschs Tod 1975 in die USA emigriert war, die Memoiren Schostakowitschs postum veröffentlichte. (3) Die Memoiren stützten sich auf Gesprächsprotokolle, die der Komponist selbst autorisiert hatte, und zeigten Schostakowitsch als Gegner Stalins und der herrschenden Bürokratie in der Sowjetunion. Die Memoiren wurden zunächst in Ost wie West heftig attackiert und als Fälschung bezeichnet. Es war zwar bekannt, dass Schostakowitsch 1936 und 1948 in Konflikt mit der herrschenden Bürokratie geraten war, aber diese hatte ihn trotzdem während des Kriegs und ebenso später während des Kalten Kriegs als Aushängeschild für die sowjetische Musik benutzt.

Mit der Gorbatschow-Ära und insbesondere nach der Auflösung der Sowjetunion erlebte die Schostakowitsch-Rezeption einen deutlichen Schwenk: Die Musikwissenschaft begann nun, seine Werke umzudeuten und sie als versteckte „Systemkritik“ anzusehen. Das Ende der Sowjetunion, das als Ende des Sozialismus und Triumph des Kapitalismus deklariert wurde, veränderte in den 90er Jahren das geistige Klima auf allen kulturellen und gesellschaftspolitischen Gebieten, und dies fand auch in der Musikwissenschaft ihren Widerhall. Ein Beispiel ist der britische Musikwissenschaftler Ian MacDonald, dessen Schostakowitsch-Biographie 1990 herauskam. Er versuchte, in jedem Detail von Schostakowitschs Musik „kodierte Botschaften des Widerstands gegen die kommunistische Tyrannei“ zu entdecken. (4)

Die Memoiren von Solomon Wolkow wurden ebenfalls rehabilitiert. Zahlreiche Freunde, Musiker und Dirigenten, die den Komponisten kannten, bestätigten die Aussagen in diesem Buch als eine im Wesentlichen korrekte Darstellung der Auffassungen des Komponisten. Allerdings wehrte sich Solomon Wolkow gegen die nun verbreitete Lesart von Schostakowitschs Haltung. In einem Interview 1995 in New York mit dem Hamburger Musikwissenschaftler Günther Wolter sagte er: „Heutzutage sagt jeder, o ja, natürlich, wir sahen Schostakowitsch immer als eine Art von geheimem Dissidenten an, was wiederum auch nicht zutrifft. Schostakowitsch dem Lager der Dissidenten zuzuordnen, wäre genauso falsch, wie ihn als Parteigänger Stalins und der späteren offiziellen Sowjetbürokratie zu bezeichnen.“ Wahr sei, dass Schostakowitsch sich immer auf die Seite der Unterdrückten gestellt habe. (5)

Die Leningrader Symphonie heute

Inzwischen gehört ein großer Teil der Werke Schostakowitschs wieder zum Konzertrepertoire. Doch die Siebte, die Leningrader Symphonie, bleibt außen vor und wird selten aufgeführt. Was ist der Grund dafür? Bis heute gibt sie den Kritikern und Interpreten Rätsel auf. Die Siebte Symphonie lässt sich nicht so einfach mit der gängigen Deutung vereinbaren, Schostakowitsch habe in seinen Werken verdeckte Kritik am „kommunistischen System“ geübt. Insbesondere der erste Satz mit seinem klaren Bezug zum Krieg und zur Bedrohung durch den Faschismus sperrt sich dagegen. Entsprechend kritisieren ihn viele als zu lang und zu laut; dies sei heutigen Konzertbesuchern nicht mehr zuzumuten. Die Symphonie habe vor allem einen Wert als Zeitdokument – ihre vereinfachte Musiksprache hätte unter den damaligen Umständen die Massen mitgerissen, doch heute sei eine andere Zeit.

Auch Solomon Wolkow passte sich an den Nachwende-Trend an. Er betont in seinem neuen Buch „Stalin und Schostakowitsch – Der Diktator und der Künstler“ von 2004, die Siebte Symphonie sei vorrangig als Musik gegen den Stalinschen Terror geplant gewesen, habe aber durch den Nazi-Angriff eine andere Bedeutung erhalten. Der große Erfolg der Symphonie sei hauptsächlich auf die Propagandakampagne sowohl Stalins als auch der Amerikaner zurückzuführen. Andere Komponisten wie Béla Bartók oder Sergeij Rachmaninow hätten sie jedoch gleich nach den ersten Aufführungen im Ausland kritisiert. Er endet seine Bemerkungen mit: „Die Siebente Symphonie war stets ein leichtes Ziel: eine sonderbare, nicht zusammenpassende Mischung aus Mahler und Strawinsky, beim ersten Hören zudem viel zu lang und emotional zu offen.“ (6)

Der polnische Komponist Krzysztof Meyer, dessen zuerst in Polen 1980 veröffentlichte Schostakowitsch-Biographie heute noch als maßgeblich betrachtet wird, und der Schostakowitsch persönlich kannte und schätzte, schreibt: „Ist die Leningrader Symphonie wirklich ein Meisterwerk, das alles andere, was Schostakowitsch geschaffen hat, in den Schatten stellt? Eine solche Behauptung ließe sich heute nicht mehr aufrechterhalten. … Ihre Programmatik und ihre einfache Musiksprache verhalfen zu einem leichteren Verständnis, so dass sie in der Tat die breiten Massen mit sich riss und ergriff. Heute stören uns in der Leningrader Symphonie einige übermäßig ausgedehnte Episoden.“ (7)

Krzysztof Meyer, heute Musikprofessor in Köln, vollendete 1980/1981 die von Schostakowitsch fragmentarisch hinterlassene Oper „Die Spieler“, die 1981 in Wuppertal uraufgeführt wurde. In den 70er und 80er Jahren sympathisierte er mit den polnischen Intellektuellen um Jacek Kuroń, die die Solidarnosc-Gewerkschaft mitbegründeten. Am Anfang seiner Biographie wirft er Schostakowitsch zu wenig „Mut … im Kampf mit dem verhassten Machtsystem“ vor. (8)

Besonders abstrus sind die Bemerkungen des heutigen Operndirektors von Heidelberg, Bernd Feuchtner, zur Siebten Symphonie in seinem 1986 veröffentlichten Buch „Und Kunst geknebelt von der groben Macht“. Er interpretiert sie in postmoderner Manier als allgemeine Anklage gegen die Gewalt und schreibt: „Schostakowitsch blieb sich offenbar auch in den Tagen des Kriegs treu und schrieb eine böse Anklage gegen die nachlassende Wachsamkeit gegen die Gewalt – ob das nun die Terrormaßnahmen Stalins oder die in den Zeiten der ‚Freundschaft’ [gemeint ist der Hitler-Stalin-Pakt] geleugnete Aggressivität des Faschismus meint.“

Feuchtner, ehemals Kulturverantwortlicher des maoistischen KBW in Frankfurt a. M., bezieht das Variationen-Thema im ersten Satz, das „in uns Angst“ erzeuge, ausdrücklich auch auf die Rote Armee: „Dass diese Gemeinheit des Soldatischen nationalen Charakter hätte, lässt sich aus der Musik nicht ableiten.“ Die begeisterten Reaktionen des Publikums auf die Leningrader Symphonie erklärt er folgendermaßen: „Zugleich hat diese Demonstration der Gewalt aber auch ihre Faszination. Nicht wenige Hörer erliegen beim ersten Mal dieser Faszination: Aus wessen Erziehung sind soldatische Tugenden ausgespart gewesen? … So lässt sich auch über Schostakowitschs ‚Variationen’-Thema nicht mehr sagen, als dass es die Dummheit verkörpert, die sich selber feiert. Diese Dummheit ist nicht national, sondern allgemein menschlich – international unmenschlich.“ (9)

Am besten lässt man diese dünkelhaften bis direkt verfälschenden Kritiken, wie die Feuchtners, mit den Worten des Komponisten selbst beantworten. Er hatte die ersten drei Sätze der Symphonie noch in Leningrad im September 1941 niedergeschrieben und seinen engsten Freunden am Klavier vorgeführt. Später erinnert er sich in den Memoiren: „Meine Siebte, die Leningrader Symphonie, schrieb ich rasch. Ich musste sie einfach schreiben. Ringsum war Krieg. Ich war mitten unter dem Volk, ich wollte das Bild unseres kämpfenden Landes in Musik festhalten.“ (10) 

Schostakowitschs Freund, der Theaterkritiker und -Regisseur Isaak Glikman, berichtet im Vorwort seiner 1998 veröffentlichten Korrespondenz mit Schostakowitsch, dass dieser ihn Anfang August 1941 zu sich gerufen hatte. Er spielte am Flügel „die erhabene, wunderschöne Exposition der Siebten Symphonie und das Variationsthema, das die faschistische Invasion darstellt … Wir versanken in Schweigen. Er unterbrach es mit den folgenden Worten (die ich mir aufgeschrieben habe): ‚Ich weiß nicht, wie sich das Schicksal dieses Stückes entwickeln wird’, und er fügte nach einer Pause hinzu, ‚unausgelastete Kritiker werden mir sicher den Vorwurf machen, dass ich den Bolero von Ravel nachahmen würde. Sollen sie mir den Vorwurf machen, so jedenfalls klingt in meinen Ohren Krieg.“ (11)

In der Zeitung Moskovskij bolševik vom 19. April 1942 wird Schostakowitsch mit den Worten zitiert: „Ich wurde benachrichtigt, dass ich die Stadt verlassen sollte. Dies wollte ich auf keinen Fall tun, zumal überall eine kämpferische Stimmung herrschte. Frauen, Kinder und alte Leute zeigten ungewöhnlichen Mut; ich werde ihren Heroismus, den sie im Bombenhagel bewiesen, niemals vergessen. Vor allem die Frauen verhielten sich während der Belagerung der Stadt wundervoll.“ (12)

Der Komponist hatte sich zu Beginn der Blockade dreimal erfolglos bemüht, in die Rote Armee aufgenommen zu werden, wurde dann als Feuerwehrmann des Konservatoriums und beim Gräben-Ausheben eingesetzt und letztlich Anfang Oktober mit seiner Familie nach Kuibyschew evakuiert. Dort beendete er die Symphonie im Dezember 1941. Für ihn war klar, auf welcher Seite er stand, er unterstützte die „Gewalt“ der Bevölkerung, die sie zur Verteidigung Leningrads und der Errungenschaften der Oktoberrevolution aufwenden mussten.

„Ich wende mich nur an Menschen, die hören können“

Das Unverständnis für die Siebte Symphonie schlägt sich auch in höchst unterschiedlichen Interpretationen der Dirigenten und Orchester nieder: Die erste Aufführung im Ausland unter Arturo Toscanini, die der Forderung nach einer heroischen Kriegssymphonie nachkam, wurde von Schostakowitsch wütend mit den Worten bedacht: „Alles falsch“. In der Nachkriegszeit gibt es Interpretationen von emotionslos bis übertrieben pathetisch, von forsch-fröhlich bis todtraurig, oder auch einfach zu glatt und oberflächlich, wie beispielsweise manche heutige Aufnahmen aus der ehemaligen Sowjetunion – in den meisten Fällen ist vom Kampfgeist der Leningrader Bevölkerung nicht mehr viel zu spüren, ebenso wenig wie von der Tragik der sowjetischen Geschichte.

Am besten sei die Interpretation von Jewgeni Mrawinski mit den Leningrader Philharmonikern, sagte Schostakowitsch selbst. Sie sei präzise und entspräche seinen Intentionen. Die Autorin dieses Artikels hat daher eine Aufnahme von Jewgeni Mrawinski aus den 50er Jahren aufgespürt, um möglichst nahe an die ursprüngliche Interpretation der Leningrader Symphonie heranzukommen.

Die Auffassung, heutige Hörer könnten mit dieser Symphonie nichts mehr anfangen, ist ein elitäres Vorurteil von gut situierten Akademikern und Kulturjournalisten. In Wirklichkeit hat die Symphonie von ihrer emotionalen Wucht nichts eingebüßt. Sie trifft erneut den Nerv der Zeit und die Gefühle von Millionen.

Der erste, 27 Minuten lange Satz – mit dem plötzlichen Einbruch des Marschthemas und ihren elf Variationen, erst leise mit Geigen und Bratschen vorgetragen, begleitet von einer kleinen Militärtrommel, danach variiert durch Flöte, Oboe und Fagott, sich steigernd durch immer mehr Instrumente und schließlich kulminierend in einem Orkan von Bläsern und Trommeln auf dem „prasselnden Hintergrund der Violinen, die mit dem Bogenschaft auf die Saiten geschlagen werden – eine instrumentale Technik, die das Bild tanzender Skelette suggeriert“ (13) – dies lässt niemanden kalt!

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Ausschnitt aus dem ersten Satz, Allegretto (14)

Das so genannte Invasions-Thema ist der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ entlehnt, zugleich klingt es an das Operettenlied „Da geh’ ich zu Maxim“ aus Franz Lehars „Lustige Witwe“ an, der Lieblingsoperette Hitlers.

Ursprünglich hatte Schostakowitsch seine vier Sätze mit den Titeln „Krieg“, „Erinnerungen“, „Heimatliche Weiten“ und „Sieg“ versehen, dies aber wieder zurückgezogen – sie kamen den Wünschen der Stalin-Bürokratie nach einer heroischen Kriegssymphonie zu sehr entgegen.

Schostakowitsch kannte schließlich die Wahrheit: Stalin hatte durch die Enthauptung der Rote Armee Hitler den Weg bereitet. 1937 war sein enger Freund Marschall Michail Tuchatschewski als „deutscher Spion“ und „trotzkistischer Verschwörer“ angeklagt und hingerichtet worden. Er hatte Stalin vor einem drohenden Angriff Hitlers gewarnt, aber dieser schlug die Warnungen in den Wind, schloss 1939 den Hitler-Stalin-Pakt und wiegte das Land in Illusionen. In Leningrad gab es kaum Vorsorge und militärische Abwehrstellungen – Schostakowitsch bemerkt in den Memoiren, dass das Wenige, was vorhanden war, noch auf die Anweisungen Tuchatschewskis zurückging. Stalin habe Leningrad zugrunde gerichtet und Hitler habe den Schlusspunkt gesetzt.

Die beiden ersten Themen des ersten Satzes haben daher auch nichts mit einer Idylle vom „friedlichen Aufbaus des Sozialismus“ zu tun, den die Stalinschen Kulturfunktionäre hineingedichtet haben. Eine wunderschöne und zugleich nachdenkliche Melodie zu Beginn geht in ein liedhaftes, lyrisches Thema über und tritt mit ihm in Dialog: Die Violinen des zweiten Themas klingen jedoch verzerrt, zumindest in der Interpretation von Jewgeni Mrawinski.

Ist es ein Zwiegespräch zwischen den lebenden Menschen in Leningrad und den Toten, den zahllosen Revolutionären vom Oktober 1917, die wie Tuchatschewski auf Stalins Befehl ermordet worden waren? Das Zittern der Violinen steigt aus unbekannten Gräbern auf, mahnend, klagend. Tuchatchewski war nicht nur ein herausragender Armeegeneral, der schon früh vom ehemaligen Führer der Roten Armee Leo Trotzki zum Kommandeur ernannt worden war – er war auch ein ziemlich guter Geiger und soll sogar Geigen gebaut haben! Schostakowitsch sagt in den „Memoiren“, er habe mit seiner Siebten Symphonie ein Denkmal für ihn, für den Regisseur Wsewolod Meyerhold und viele andere Opfer Stalins setzen wollen, die an unbekannter Stelle begraben liegen.

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Ausschnitt aus dem ersten Satz vor dem Invasionsthema 

Am Ende des Kriegs-Infernos des ersten Satzes setzt die Reprise mit einem Adagio ein. Oboe und Fagott beklagen die Opfer der Schlacht, doch die Geigen greifen das Anfangsthema auf und versuchen, das Marschthema zu übernehmen – allerdings werden sie erneut von leise vibrierenden Geigen, den Stimmen aus den Gräbern, vor den Gefahren gewarnt. Prompt ertönt von der Ferne eine leise Trommel mit dem Marschthema, das den Satz beendet.

Der zweite Satz ist ein Scherzo mit unüblicher Struktur, Tanzelementen und einem nachdenklich stimmenden Ende. Ihn durchzieht ein Wechsel von Humor, Tanz und Trauer.

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Ausschnitt aus dem zweiten Satz, Moderato (Poco Allegretto)

Schostakowitsch charakterisiert diesen Satz selbst mit den Worten. „… ein sehr zartes lyrisches Intermezzo. Er enthält kein Programm und keine konkreten Bilder wie der vorangehende Satz. Er hat ein wenig Humor (ich kann nicht ohne diesen!). Shakespeare wusste bestens Bescheid um den Wert des Humors in der Tragödie, und es war ihm klar, dass man den Zuschauer nicht unentwegt in Spannung halten kann.“(15) Die Tonarten wechseln zwischen Dur und Moll, dazwischen zitternde Klänge von Oboen und Geigen, die mit einer leisen Tanzepisode verebben. Die Leningrader Bevölkerung lebt in einem Wechselbad von Hoffnung und Verzweiflung, in einer „Atmosphäre des angehaltenen Atems“. (16)

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Ausschnitt vom Ende des zweiten Satzes

Ein Schauer läuft über den Rücken, wenn der dritte Satz einsetzt. Schwerfällig und düster beginnt der Satz wie eine Totenfeier, gefolgt von traurigen Flötenklängen und Streicherkantilenen, die den unendlichen Schmerz über das Leid der Bevölkerung zum Ausdruck bringen. Doch dies schlägt um in Wut und Kampfbereitschaft, vermittelt durch plötzliches Dur mit lauten Bläsern, Walzerrhythmus und Wiederaufnahme des Marschthemas. Die Musikwissenschaftlerin und Dramaturgin aus der ehemaligen DDR Sigrid Neef bemerkt eine „erstaunlich feine Differenzierung zwischen quasi versteinerter Trauer und einem frei und ungehindert sich verströmenden Schmerz“. (17)

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Ausschnitt aus dem dritten Satz, Adagio

Im Finalsatz, der Zuversicht in den Sieg der Roten Armee vermitteln sollte, gibt es tatsächlich eine Art Siegesmarsch. Aber er ist stark verfremdet und gleitet von hellen Dur-Tonlagen plötzlich in düstere Moll-Tonlagen ab, um klagenden Zwischentönen Platz zu machen, die den Jubel in Frage stellen. Auch das Einsetzen des vollen Orchesters am Ende klingt eher gequält. Die Trauer schwingt mit. Das Schicksal der Sowjetunion wird nicht allein durch den Sieg der Roten Armee entschieden.

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Ausschnitt aus dem vierten Satz, Allegro non troppo

Die Rote Armee hat Hitler nur aufgrund der Kampfbereitschaft der sowjetischen Arbeiterklasse und trotz Stalins besiegt. Eine Zersetzung des Stalin-Regimes durch die Katastrophe des Kriegs und eine Erneuerung des Arbeiterstaats, wie nicht nur Schostakowitsch gehofft hatte, traten jedoch nicht ein.

Nach dem Krieg nutzte Stalin den Sieg, um seinen Unterdrückungsapparat zu festigen. Erneut ging er gegen Künstler wie Schostakowitsch vor, der 1948 bei der Konferenz des Komponistenverbands als Formalist verurteilt und mit Aufführungsverbot vieler seiner Werke belegt wurde. 

„Mit der Siebten begann ich wieder zu leben …“

Gerne verweisen die Kritiker der Siebten Symphonie darauf, dass Schostakowitsch sie schon vor dem faschistischen Angriff geplant habe – in der Tat hatte die Leningrader Philharmonie für die Saison 1941/42 bereits eine siebte Symphonie Schostakowitschs angekündigt. Auch betont er selbst in den Memoiren, sie sei nicht ein „bloßes Echo auf Hitlers Überfall“, sie sei sein „Requiem“ für die vielen Toten des Stalinschen Terrors. (18)

Doch ist dies nur scheinbar ein Widerspruch. Schostakowitschs Opposition gegen das stalinistische Regime war kein Antikommunismus. Er lehnte gefühlsmäßig eine Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen ab, anders als Dissidenten wie Solschenizyn oder Sacharow. Der Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941 – er wollte gerade mit seinem Freund Isaak Glikman zu einem Fußballspiel gehen – hatte seiner schon vorher skizzierten Idee zur Siebten Symphonie eine neue Bedeutung gegeben und ihn mobilisiert, sie schnell zu Papier zu bringen.

„Schon vor dem Krieg gab es in Leningrad kaum eine Familie ohne Verluste. … Jeder hatte um jemanden zu weinen. Aber man musste leise weinen, unter der Bettdecke. Niemand durfte es merken. Jeder fürchtete jeden. … Ich musste ihn [den Kummer] in Musik umsetzen. Ich empfand das als meine Pflicht und Schuldigkeit. Ich musste ein Requiem schreiben für alle Umgekommenen, für alle Gequälten. Ich musste die furchtbare Vernichtungsmaschinerie schildern und den Protest gegen sie zum Ausdruck bringen. Aber wie? Argwohn umgab mich, wo ich ging und stand. … Da kam der Krieg. Der heimliche, der isolierte Kummer wurde zum Kummer aller.“ Und weiter betonte er: „Mit der Siebten begann ich wieder zu leben. …Wir hatten es sehr schwer, dennoch atmeten wir leichter.“ (19)

Was die meisten Interpreten und Biographen nicht verstehen oder verstehen wollen, ist die tief empfundene Solidarität Schostakowitschs mit den sowjetischen Arbeitern. 1906 in einer aufgeklärten Leningrader Familie mit revolutionären polnischen Vorfahren geboren, gehörte er zu den zahlreichen Künstlern der Sowjetunion, die durch die Oktoberrevolution inspiriert wurden. Seine ersten politischen Eindrücke sammelte er mit elf Jahren in der Februarrevolution 1917, als ein Kosak mit seinem Säbel vor seinen Augen einen Jungen niederstach. „Ich werde ihn nie vergessen“, sagt er in den Memoiren. Das Klavierstück in Erinnerung daran – „Trauermarsch zum Gedächtnis der Revolutionsopfer“ – gehörte zu seinen frühesten Kompositionen. Er hatte erst kurz zuvor begonnen, Klavier zu lernen.

Im April 1917 zog er mit Mitschülern zum Finnischen Bahnhof, wo Lenin aus dem Exil ankam – ohne sich natürlich über Lenins Rolle im Klaren zu sein. Mit 16 Jahren wurde er von Alexander Glasunow ins Konservatorium aufgenommen. Als Abschlussarbeit komponierte er seine Erste Symphonie, die von revolutionärem Optimismus nur so sprühte und sofort durchschlagenden Erfolg hatte.

Später holte ihn der legendäre Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold, der Stalins Säuberungen zum Opfer fiel, an sein Moskauer Theater, wo sich nach dem Ende des Bürgerkriegs die künstlerische Avantgarde traf. Hier schuf Schostakowitsch zusammen mit Meyerhold seine Oper „Die Nase“ nach einer Erzählung von Gogol, vertonte Majakowskis „Wanze“ und komponierte schließlich seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“. Diese Oper erlebte weit über 20 erfolgreiche Aufführungen, bis plötzlich 1936 ein von Stalin diktierter Artikel in der Prawda unter dem Titel „Chaos statt Musik“ die Oper verdammte und den Komponisten zum „Volksfeind“ stempelte. Schostakowitsch erhielt ein fast zweijähriges Aufführungsverbot und musste tagtäglich seine Verhaftung befürchten.

Im Unterschied zu manch anderen Komponisten wie Prokofiew ging Schostakowitsch nicht in den Westen, sondern versuchte einen Weg zu finden, weiterhin in der Sowjetunion komponieren zu können, ohne sich Stalin zu unterwerfen. Er vertrat die Ansicht, Komponisten sollten nicht abgehoben von der Bevölkerung sein und für ein breites Publikum schreiben. Seine Memoiren beginnt er mit den Worten: „Ich habe mein Leben nicht als müßiger Gaffer verbracht, sondern als Proletarier“.

Tatsächlich musste er während der Bürgerkriegsjahre für den Lebensunterhalt der Familie mitverdienen, indem er in Kinos die Klavierbegleitung übernahm. Bis zum Ende seines Lebens hatte Schostakowitsch eine fast physische Abneigung gegen privilegierte Intellektuelle, die sich aus Eigennutz an Stalin anbiederten. Auch sein Misstrauen gegen das westliche Ausland war davon bestimmt. Gegenüber Solomon Wolkow spricht er mit beißendem Sarkasmus über westliche Journalisten, die die dümmsten Fragen stellen und damit Geld verdienen. Besonders scharf brandmarkt er die westlichen linken Intellektuellen, die als „Freunde der Sowjetunion“ nach Moskau kamen und beschönigende Artikel über die Moskauer Prozesse schrieben – darunter Leon Feuchtwanger, André Malraux, George Bernhard Shaw und „der noch berühmtere Humanist Romain Rolland“, der ihm „Brechreiz“ verursache.

Schostakowitsch hatte sich vor der Siebten Symphonie mit der Orchestrierung von Modest Mussorgskis Oper „Boris Godunov“ auseinandergesetzt. Interessant sind seine Parallelen, die er in den „Memoiren“ zwischen dem Thema dieser Oper und dem Stalin-Regime zieht: „Ich war sehr angetan von Mussorgskis Überzeugung, dass der Widerspruch zwischen der Macht und dem unterdrückten Volk unlöslich sei, die Macht aber, im Bestreben, sich selbst zu erhalten, sich zersetzen werde. Es werde zum Chaos und schließlich zur Katastrophe kommen. … Und das erwartete ich 1939.“

Er stimme mit der ethischen Grundlage des „Boris Godunow“ überein, sagt er weiter. „Kompromisslos verurteilt der Komponist die amoralische volksfeindliche Macht. Eine solche Macht ist verbrecherisch. Ich würde sogar sagen unabwendbar verbrecherisch. Sie ist im Innersten verfault. Und sie ist ganz besonders ekelhaft, wenn sie sich als im Namen des Volkes ausgeübt zu tarnen sucht.“ (20)

Schostakowitsch war kein Politiker, und auch wenn er die Haltung von Trotzkisten wie dem Kunstkritiker Alexander Woronski bewunderte, verstand er nicht die Bedeutung der politischen und theoretischen Auseinandersetzungen der Linken Opposition mit der Stalin-Bürokratie. An einer Stelle in seinen Memoiren erklärt er, diese Konflikte seien eher scholastisch gewesen und Woronski hätte lieber Stalin zugestehen sollen, das seine Vorstellung vom Aufbau des Sozialismus richtig sei; dann wäre er vielleicht nicht ermordet worden und hätten den anderen Künstlern helfen können. (21) 

Dennoch hat Schostakowitsch zwei Grundpositionen der Linken Opposition wenn nicht verstanden, so doch künstlerisch erspürt: Erstens kann man die Stalin-Bürokratie nicht reformieren – denn sie ist „im Innersten verfault“, und zweitens hat die Tatsache, dass Stalin die Verbrechen im Namen des Sozialismus durchführt, die schlimmsten Auswirkungen, ist „besonders ekelhaft“. Daher stand Schostakowitsch auch Sympathisanten Leo Trotzkis wie Meyerhold und Tuchatschewski so nahe.

Die Leningrader Symphonie ist Ausdruck der Verbundenheit Schostakowitschs mit den revolutionären Traditionen in der Sowjetunion, die im Jahr 1941 trotz Stalins Terrorregime unter den Arbeitern noch lebendig waren. Sie zögerten nicht, die übrig gebliebenen Errungenschaften des Oktoberumsturzes zu verteidigen. 50 Jahre später, im Jahr 1991, verübte die stalinistische Bürokratie ihr letztes Verbrechen und löste die Sowjetunion auf.

Schostakowitsch hat diesen geschichtlichen Moment mit all seiner Widersprüchlichkeit und Tragik in ein musikalisches Meisterwerk übertragen. Er sah die Mobilisierung der Arbeiter zur Verteidigung der Sowjetunion als Chance für eine kulturelle Erneuerung des Arbeiterstaats und die Überwindung des reaktionären Stalin-Regimes. Darin besteht das Rätsel seiner Siebten Symphonie.

Anmerkungen:

Eine schöne Aufnahme von Jewgeni Mrawinski und den Leningrader Philharmonikern von 1953, die der im Artikel untersuchten von 1957 ähnelt, ist bei Amazon als MP3 erhältlich, sowie in wenigen Exemplaren auch als CD. Über Youtube lässt sich eine nicht genauer angegebene Aufnahme anhören, die nahe an Mrawinskis Interpretation herankommt: http://www.youtube.com/watch?v=dEt_0r1JEHc

1) zitiert nach Krzysztof Meyer: Schostakowitsch. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. Deutsche Ausgabe im Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1995, S. 287

2) ebd.

3) Solomon Wolkow (Hrsg.): Zeugenaussage. Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch. Albrecht Knaus Verlag, Hamburg 1979. 

4) zitiert nach Fred Mazelis, „Das Erbe von Dmitri Schostakowitsch“, gekürzte deutsche Fassung vom 7. Juni 2000 auf wsws.org/de. Die Biographie von Ian McDonald The New Shostakovich wurde 2006 neu aufgelegt.

5) zitiert nach Schostakowitsch-Studien, Bd. 2: Dmitri Schostakowitsch – Komponist und Zeitzeuge, hrsg. von G. Wolter und Ernst Kuhn. Berlin 2000, S. 23

6) Solomon Wolkow, Stalin und Schostakowitsch. Berlin 2004, S. 278

7) K. Meyer, S. 288f.

8) ebd., S. 22. Die von Jacek Kuroń gegründete KOR verband ihren Anti-Stalinismus mit Pro-Kapitalismus. Kuroń beteiligte sich an den ersten bürgerlichen Regierungen nach der Wende als Arbeitsminister.

9) Bernd Feuchtner: „Und Kunst geknebelt von der groben Macht“ – Dimitri Schostakowitsch. Künstlerische Identität und staatliche Repression, Sendler Verlag, Frankfurt a.M. 1986, S 170 f.

10) Wolkow, ebd., S. 174 

11) Isaak Dawydowitsch Glikman: Chaos statt Musik? Argon Verlag Berlin: 1998, S. 23

12) zitiert nach Krzysztof Meyer, ebd., S. 282

13) zitiert nach Sigrid Neef, „Ich horchte auf das Leben meines Volkes und sah seinem Kampf zu …“, in: Programmheft der Münchner Philharmoniker 12.-15. Dez. 2009, S. 16.  Iwan Sollertinski (1902-1944) war Musikwissenschaftler und enger Freund Schostakowitschs. Er galt als Experte für Gustav Mahler und machte ihn in der Sowjetunion bekannt. Schostakowitsch wurde durch ihn ein großer Anhänger und Verehrer von Mahler. In den 20er Jahren war er Programmdirektor der Leningrader Philharmonie und nahm Werke der westlichen Avantgarde, wie die Gurre-Lieder von Schönberg oder das Klavierkonzert von Křenek ins Programm auf. 

14) Schostakowitsch: 7. Symphonie „Leningrad“. Leningrader Philharmoniker. Dirigent: Jewgeni Mrawinski, Aufnahme von 1957. Omega Classics 2000.

15) zitiert nach K. Meyer, S. 281.

16) Sigrid Neef, wie Anm. 13, S. 18

17) ebd.

18) Wolkow, S. 157

19) ebd., S. 156 f.

20) Wolkow, S. 250

21) ebd., S. 209

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