„Maestro“: Ein hoffnungslos einseitiges Porträt von Leonard Bernstein

Der Titel des neuen Films „Maestro“ lässt vermuten, dass es sich um eine Filmbiografie über eine der bemerkenswertesten internationalen Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, Leonard Bernstein, handelt.

Das ist jedoch nicht der Fall. Die Macher des Films, der Regisseur Bradley Cooper (der Bernstein in dem Film darstellt) und die Koproduzenten Martin Scorsese und Steven Spielberg, haben sich - zusammen mit Tochter Jamie Bernstein und ihren beiden Geschwistern in beratenden Rollen - stattdessen entschieden, uns ein Porträt von Bernsteins Ehe mit der Schauspielerin Felicia Montealegre zu zeigen.

Die musikalische Karriere des berühmten Komponisten und Dirigenten, den der weltberühmte Pianist Arthur Rubinstein einmal als „den größten Pianisten unter den Dirigenten, den größten Dirigenten unter den Komponisten, den größten Komponisten unter den Pianisten“ bezeichnete, wird fast durchwegs ignoriert, es sei denn, sie diene als Kulisse für sein kompliziertes und oft unruhiges Privatleben.

Bradley Cooper und Carey Mulligan in „Maestro“

Es ist sicherlich legitim, jeden Aspekt von Bernsteins Leben, einschließlich seiner Ehe, zu erforschen. Aber was „Maestro“ zeigt, ist inakzeptabel einseitig - und daher irreführend. Einer jüngeren Generation, die mehr über diese Persönlichkeit erfahren möchte, die fast 50 Jahre lang bis zu ihrem Tod im Jahr 1990 eine so herausragende Rolle in der Welt der klassischen Musik spielte, wird stattdessen vor allem ein Bild von Bernstein als einem geschädigten Genie vermittelt, das seiner leidgeprüften Frau und Familie viel Schmerz zufügte.

Der Film beginnt mit Bernstein (den Cooper in den verschiedenen Lebensabschnitten des Komponisten und Dirigenten eindrucksvoll darstellt) als altem Mann, der sich dem Ende seines Lebens nähert und sich etwas reumütig an die wichtigsten Erfahrungen erinnert, die er gemacht hat. Der Film zeigt dann sein Leben in chronologischer Reihenfolge, beginnend mit dem berühmten Telefonanruf Ende 1943, in dem ihm mitgeteilt wird, dass Bruno Walter zu krank ist, um an diesem Abend in der Carnegie Hall zu dirigieren. Bernstein, der zu diesem Zeitpunkt Assistenzdirigent der New Yorker Philharmoniker ist, muss Walters Platz einnehmen.

Der Anruf weckt Bernstein, den wir im Bett neben seinem damaligen Liebhaber vorfinden. Damit ist das zentrale Thema des Films schnell gesetzt: Es geht darum, wie sich Bernsteins Homosexualität auf seine Familie auswirkt.

Das junge Wunderkind der klassischen Musik, das nach seinem Debüt in der Carnegie Hall im Alter von 25 Jahren zu großem Ruhm gelangt ist, trifft bald auf die Schauspielerin Felicia Montealegre (Carey Mulligan). Montealegre, die in Costa Rica geboren und in Chile ausgebildet wurde, steht am Anfang einer Bühnen- und Fernsehkarriere. Lenny und Felicia verlieben sich ineinander und beschließen zu heiraten. Montealegre versichert Bernstein, sie wisse sehr wohl, dass er schwul sei („Ich weiß alles über dich“), aber: „Lass es uns versuchen.“

Ein Großteil der Geschichte wird in einer verschachtelten Weise erzählt, was manchmal etwas verwirrend ist. Tatsächlich lernten sich Montealegre und Bernstein 1946 kennen, heirateten aber erst 1951. Der Film „Maestro“ liefert nur minimale Details über Bernsteins Karriere, gerade genug, um zu zeigen, dass Musik seine absolute Leidenschaft ist und dass sein musikalisches Leben außerordentlicher erfüllt ist. In einer kurzen Szene drängt ihn Serge Koussevitsky (der berühmte russischstämmige Dirigent des Bostoner Symphonieorchesters und wichtigste Mentor des jungen Bernstein), er solle sich vom Broadway fernhalten und seinen Namen in „Berns“ ändern, um zu nationalem Ruhm zu kommen.

Wir sehen Proben für das Bernstein-Jerome Robbins-Ballett „Fancy Free“. Im Hintergrund erklingt die berühmte Ouvertüre zur Operette „Candide“ von 1956. Das alles vergeht wie im Flug, wobei der Schwerpunkt immer auf Bernsteins Promi-Ehe liegt.

Ein berühmtes Interview mit Bernstein und seiner Frau aus dem Jahr 1955 wird dargestellt. Es war Teil der Fernsehserie „Person to Person“ von Edward R. Murrow. Die Bernsteins werden in ihrem luxuriösen Haus gezeigt, wo sie über ihr geschäftiges Leben sprechen, zu dem inzwischen zwei Kinder gehören (das dritte sollte erst 1962 zur Welt kommen). Andere Szenen zeigen den Wohlstand ihres Lebens im berühmten Dakota Apartmenthaus in Manhattan sowie in einem Vorort von Connecticut. Gleichzeitig verschärft sich die Krise zwischen den Ehepartnern, die sich gelegentlich in erbitterten Auseinandersetzungen entlädt. Obwohl Felicia versichert hat, dass sie Bernsteins Bedürfnisse versteht, wehrt sie sich gegen seine Indiskretionen. In einer Szene explodiert sie und sagt Bernstein, er sei unfähig, sich selbst zu lieben, und warnt ihn, er solle sich davor hüten, „als einsame alte Königin zu sterben“.

Bernstein verlässt Felicia für einen jüngeren Liebhaber und kehrt zurück, als bei ihr Lungenkrebs im Endstadium diagnostiziert wird. Felicias Tod im Jahr 1978 wird zu Recht als ein erschütternder Schlag für den alternden Komponisten dargestellt, aber der Film springt dann ziemlich schnell ein Jahrzehnt weiter, zu Bernsteins letzten Jahren.

Wie bereits erwähnt, ist die Musik in Bernsteins Leben im Film nur die passive Kulisse für seine Ehe. Der wichtigste längere musikalische Moment ist ein fünf- oder sechsminütiger Ausschnitt aus einer Bernstein-Aufführung der berühmten Auferstehungssinfonie von Gustav Mahler. Mit dem großen Wiener Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts ist Bernstein besonders eng verbunden. Es gibt nur wenige Hinweise auf die große Karriere Bernsteins als Dirigent: Sie führte ihn in den 20 Jahren, die auf seinen Rücktritt als Dirigent der New Yorker Philharmoniker (1958-69) folgten, zu allen berühmten Orchestern und Spielstätten der klassischen Musik in der Welt; sie ist auf 121 CDs und 36 DVDs zu hören.

Kurze Hinweise gibt es auf diejenigen Kompositionen, die Bernstein besonderen Ruhm einbrachten: „Candide“, die „West Side Story“. ) Die vielen anderen, weniger bekannten Werke werden überhaupt nicht erwähnt. Das einzige andere große Werk Bernsteins, das einigermaßen hervorgehoben wird, ist seine Messe für die Eröffnung des Kennedy Centers in Washington D.C. im Jahr 1971. Dies ist aufschlussreich. Die „Spiritualität“ und der vage Multikulturalismus der Messe spiegeln eine bestimmte Phase von Bernsteins Odyssee wider. Sie sind Teil der Sichtweise, die zweifellos seine Tochter Jamie Bernstein, eine prominente Beraterin des Films, und die beiden Filmemacher stark vertreten.

Es fehlen nicht nur die musikalischen Ausschnitte, die hätten zeigen können, wie entschlossen der Komponist danach strebte, die Kluft zwischen populärer und klassischer Musik zu überbrücken. Auch Bernsteins Rolle als Verfechter der Tonalität in einer Zeit, in der diese nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Kreisen zugunsten der Atonalität und der Zwölftonschule Arnold Schönbergs gemieden wurde, kommt in dem Film nicht vor.

Erstaunlicherweise gibt es auch keinen Hinweis auf Bernsteins Vermächtnis als Pädagoge, vor allem auf seine berühmten „Young People's Concerts“ und andere Fernseharbeiten, kommen nicht vor. Sie brachten Millionen von Menschen die klassische Musik näher und machten sie populär, ohne das Niveau zu senken.

Bradley Cooper in „Maestro“

Bernsteins Karriere lässt sich, wie er selbst betonte, nicht losgelöst von der komplexen Geschichte des 20. Jahrhunderts verstehen. Doch in diesem Film wird nichts über den glühenden Liberalismus des Komponisten, seine Sympathie für den Sozialismus und, in seiner Jugend, für die Sowjetunion erzählt. Nichts über den McCarthyismus, die antikommunistische Hysterie der 1950er Jahre, die den jungen Dirigenten dazu zwang, bei der Erneuerung seines Passes eine demütigende eidesstattliche Erklärung abzugeben, in der er seine politische Naivität eingestand und seinen Patriotismus bescheinigte. In Bezug auf eine spätere Periode enthält „Maestro“ keine Hinweise auf den Vietnamkrieg und die Versuche der Bernsteins, Gelder für die juristische Verteidigung der Black Panthers zu sammeln, Bemühungen, die den Zorn der New York Times und anderer offizieller Stimmen hervorriefen.

Diejenigen, die von Bradley Coopers „Maestro“ begeistert sind, mögen das Fehlen all dieser musikalischen und historischen Elemente bemerken, würden aber darauf bestehen, dass diese Aspekte nicht dazugehören, weil es in diesem Film um das Privatleben der beiden und vor allem um Felicia Montealegre geht.

Während die Kritiker Coopers Leistung als Bernstein würdigen, bestehen einige darauf, dass Carey Mulligan der wahre Star des Films sei. Ihre Leistung ist in der Tat gut, aber das Lob passt zu der übergreifenden Prämisse von „Maestro“. Der Film ist vor allem als eine Hommage an Montealegre gedacht, eine Hommage, die als längst überfällig gilt.

Die Konzentration auf Lennys und Felicias „Innenleben“ steht im Einklang mit der identitätspolitischen Sichtweise, die das kulturelle und politische Leben heute durchdringt, auch und vielleicht am stärksten in Hollywood. Der Film ist ein Versuch, Felicia Montealegre dafür zu entschädigen, dass sie es mit Leonard Bernstein ausgehalten hat. Bernstein wird nicht diskreditiert, aber als eine etwas tragische Figur dargestellt.

Die Logik der Identitätspolitik findet einen absurden Ausdruck in der Kritik, die in einigen Kreisen an der Nasenprothese geübt wird, die Cooper verwendet, um Bernstein ähnlich zu sein. An diesem Kunstgriff ist nichts Anstößiges, und er ist in „Maestro“ ziemlich gelungen. Er wurde jedoch als Beispiel für ein „Judengesicht“ bezeichnet, mit der reaktionären Andeutung, dass nur Juden jüdische Charaktere spielen dürften.

Obwohl Jamie Bernstein, wie bereits erwähnt, bei dem Film nur eine beratende Rolle spielte, hat sie ausführlich über ihre Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Cooper gesprochen, und tatsächlich ist die Figur von Jamie (Maya Hawke) im Film selbst ziemlich prominent. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass „Maestro“, obwohl er nicht ungenau ist, zu einem großen Teil auf den Erinnerungen von Jamie basiert, die 26 Jahre alt war, als ihre Mutter starb.

Ein weiteres Thema des Films, das zwar angedeutet, aber nicht ausgesprochen wird, ist die Auseinandersetzung mit dem Preis, den man angeblich dafür zahlt, „sich selbst nicht treu zu sein“. Man kann sich leicht vorstellen, dass viele der an „Maestro“ Beteiligten, ob schwul oder nicht, den Kopf schütteln und sich über Bernsteins „unverantwortliches“ Verhalten mokieren.

Diese Haltung, die so typisch für die ahistorischen Verfechter der Identitätspolitik ist, ignoriert die Tatsache, dass Homosexualität in weiten Teilen der Vereinigten Staaten während der im Film dargestellten Zeit kriminalisiert war. Ein offen schwuler „Lebensstil“ hätte eine öffentliche Musikkarriere Bernsteins mindestens für die ersten zwanzig bis dreißig Jahre ausgeschlossen. Mit anderen Worten, wir hätten nicht den Bernstein gehabt, den wir heute kennen.

Wenn die Ehekrise der Bernsteins neben seinem musikalischen Ruhm ernsthaft untersucht werden soll, kann sie nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen jener Zeit verstanden werden. Bernstein geriet zunehmend ins Abseits, sowohl in kreativer als auch in persönlicher Hinsicht. Die beiden Seiten seines Lebens waren nicht unverbunden. Die Bedingungen, die ihn in den 1940er, 50er und 60er Jahren inspiriert hatten, wichen in den 1970er und 80er Jahren einem anderen und weit weniger förderlichen politischen Klima, was sich insbesondere in seinen Schwierigkeiten als Komponist niederschlug. Er versuchte, an seinem Liberalismus festzuhalten, mag aber unter dem Altern und zweifellos auch unter Schuldgefühlen wegen seiner Ehe gelitten haben.

Wie die WSWS im August 2018 argumentierte: „Wenn man alle Wendungen von Bernsteins bemerkenswerter 50-jähriger Karriere in Betracht zieht, ist es jedoch klar, dass sein Vermächtnis 100 Jahre nach seiner Geburt und 75 Jahre, nachdem er zum ersten Mal berühmt wurde, auch heute noch hell leuchtet.“

Wir fuhren fort: „Seine künstlerische und technische Virtuosität im Klavierspiel und im Komponieren von Klaviermusik, sowie seine Pädagogik, seine prinzipielle Verteidigung der musikalischen Tonalität und die Tausenden von Aufführungen, die er als Dirigent in der ganzen Welt leitete, sprechen für sich. Sein Vermächtnis als Komponist muss im Lichte der Bedingungen und Hindernisse, mit denen er konfrontiert war, gewürdigt und verstanden werden.“ Der Film, der diese Komplexität erfolgreich erfasst und darstellt, muss erst noch geschaffen werden.

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Eine kleine Auswahl von Leonard Bernsteins vielen denkwürdigen Aufführungen, Jugendkonzerten und Vorträgen:

Glenn Gould and Leonard Bernstein: Bach's Keyboard Concerto No. 1 (I) in D minor (BWV 1052)

Leonard Bernstein in Salzau – Shostakovich’s Symphony No. 1

Leonard Bernstein - Young People's Concerts: What Does Music Mean?

George Gershwin - Rhapsody in Blue - Leonard Bernstein, New York Philharmonic (1976)

Candide Overture: Leonard Bernstein conducting

Mahler rehearsals with Leonard Bernstein

Beethoven - 5th Piano Concerto “Emperor” (Krystian Zimerman, Leonard Bernstein, Vienna Philharmonic)

The Unanswered Question 1973 Leonard Bernstein Norton Lecture

Brahms Symphonies 3 and 4 with Leonard Bernstein and the Vienna Philharmonic

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