Das brutale Gesicht des Neokolonialismus in Afghanistan

US-Außenminister John Kerry hat in den vergangenen Tagen eine Reihe öffentlicher Erklärungen abgegeben, in denen er seine Trauer um eine fünfundzwanzigjährige Beamtin des Außenministeriums bekundete. Anne Smedinghoff gehörte zu einer Gruppe von fünf Amerikanern – darunter drei Soldaten - die am Samstag bei einem Autobombenanschlag der Taliban in der südafghanischen Provinz Zabul getötet worden waren.

Dass jemand so jung stirbt, ist ebenso tragisch wie der Tod der fast 2.200 amerikanischen Soldaten in elf Jahren Krieg und Besatzung. Doch Kerry war nicht daran gelegen, trauernden Familienmitgliedern und Freunden Trost zu spenden. Ihm ging es nur darum, den Krieg zu rechtfertigen, der diese junge Frau das Leben gekostet hat.

Ihr Tod zeige der Welt "den Unterschied zwischen zwei unterschiedlichen Wertesystemen", sagte Kerry. Auf der einen Seite stehe „eine tapfere Amerikanerin... die entschlossen war, Schüler, die sie nicht kannte, zu deren Hilfe sie sich aber verpflichtet fühlte, durch Bücher in deren Muttersprache zu bilden.“ Dem stünden auf der anderen Seite feige Terroristen gegenüber, die "entschlossen sind, Fremden Tod und Vernichtung zu bringen.“

Am selben Tag, als Anne Smedinghoff starb, kamen bei einem amerikanischen Luftangriff in Afghanistan mindestens achtzehn Menschen ums Leben, darunter elf Kinder im Alter zwischen wenigen Monaten und acht Jahren. Sechs Frauen wurden bei dem Angriff schwer verwundet. Kerry hatte nicht ein einziges Wort des Mitleids übrig, weder für die Toten, noch für ihre trauernden Angehörigen. Angesichts der Verachtung der amerikanischen Medien für die afghanische Bevölkerung ist es überflüssig zu erwähnen, dass der Tod von elf Kindern ihnen nicht einmal ein Bruchteil der Berichterstattung anlässlich des Todes der amerikanischen Diplomatin wert war.

Man sollte sich daran erinnern, dass der neue Außenminister und ehemalige demokratische Senator aus Massachusetts seine politische Karriere als junger Vietnamveteran begann, der den Krieg öffentlich verurteilte. Mittlerweile ist Kerry der reichste Mann im Senat, rechtfertigt neue imperialistische Angriffskriege und versucht, die gleichen Verbrechen zu vertuschen, die er einst aufdecken wollte.

Kerrys Worte, die Amerikaner würden Afghanistan selbstlos „Licht“ und „Zukunft“ bringen, und ihre Gegner seien Feiglinge, Terroristen und Mächte der Dunkelheit, sind so alt wie der Kolonialismus selbst. Die Franzosen in Algerien und in Indochina, die Briten in Indien, Afrika und anderen Erdteilen, ebenso wie alle anderen europäischen Mächte, die in den letzten dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts über ein Viertel der Erde eroberten, benutzten allesamt fast die gleichen Worte – sie sprachen über zivilisatorische und humanitäre Prinzipien, während sie diese Länder ausbeuteten und ihre Bevölkerungen massakrierten.

Afghanistan leidet seit mehr als 30 Jahren unter dem US-Imperialismus, während der letzten elf Jahre in Form einer direkten militärischen Besetzung und einer halbkolonialen Kontrolle unter einer korrupten US-gesteuerten Marionettenregierung. Welches „Licht“ und welche „Zukunft“ hat das dem afghanischen Volk gebracht?

Im Jahr 1979 begann der US-Imperialismus unter dem Demokraten Jimmy Carter eine kriminelle Politik, die darauf abzielte, das prosowjetische Regime in Kabul zu destabilisieren und die Sowjetunion zu einer Militärintervention zu provozieren. Der nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski erklärte, das Ziel sei damals gewesen, „der UdSSR ihr eigenes Vietnam zu geben.“ Diese Politik erwies sich als erfolgreich, aber das afghanische Volk wurde dabei zum Kollateralschaden. Washingtons Machenschaften führten zu einem Bürgerkrieg, der bis heute andauert und Millionen von Afghanen das Leben gekostet hat.

Mit Hilfe der CIA pumpte Washington Waffen, Berater und Geld nach Afghanistan und arbeitete Hand in Hand mit ausländischen und rechtsgerichteten afghanischen Islamisten, darunter dem saudischen Millionär Osama bin Laden, dessen Name den meisten Amerikanern erst durch den 11. September 2001 bekannt werden sollte, und den Gründern der Taliban und anderer Milizen, gegen die die US-Truppen heute in Afghanistan kämpfen.

In den Jahren der Besatzung hat Washington mehr als 100 Milliarden Dollar in den „Wiederaufbau“ von Afghanistan gesteckt, aber die Prüfungskommissionen der Regierung können derzeit nur zehn Prozent davon belegen. Der Löwenanteil ging an korrupte Vertragspartner, Kollaborateure und Politiker wie Karzai und seinesgleichen.

Nach mehr als zehn Jahren unter Washingtons Herrschaft sind die Bedingungen in Afghanistan so desolat wie davor, wenn nicht schlimmer. Die Lebenserwartung für Männer liegt bei 44,5, für Frauen bei 44 Jahren. Die Müttersterblichkeit gehört zu den höchsten der Welt (1.600 Tote bei 100.000 Lebendgeburten) und mehr als die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt.

Ein Drittel aller Afghanen lebt unter der Armutsgrenze, etwa 40 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos. Umfragen zufolge leiden 65 Prozent aller Afghanen unter Belastungsstörungen und anderen Formen von psychischen Erkrankungen, eine Folge des endlosen Krieges.

Beherrscht wird dieses humanitäre Katastrophengebiet von einer Ansammlung von Verbrechern und Warlords, die mit Hilfe amerikanischer Waffen ihre Macht sichern und von Hilfsgeldern aus dem Ausland und dem afghanischen Opiumhandel profitieren, der 90 Prozent des weltweiten Opiumhandels ausmacht.

Dem US-Imperialismus geht es in Afghanistan nicht um den Kampf gegen den Terrorismus – dieser Vorwand wurde widerlegt, als sich Washington mit Milizen, die mit Al Qaida verbündet sind, zusammengetan hat, um in Libyen und Syrien auf kriegerischem Weg einen Regimewechsel herbeizuführen – und auch nicht, um dem afghanischen Volk „Licht“ zu bringen. Der US-Imperialismus ist hier, wie im Nahen Osten und in Afrika, eingeschritten, um Washingtons Hegemonie über die geostrategisch wichtigen und rohstoffreichen Regionen der Welt gegen seine europäischen und asiatischen Rivalen – vor allem gegen China - zu verteidigen.

Während die Regierung Obama eine formelle Frist bis Ende 2014 für den Abzug aller US-Truppen aus Afghanistan festgelegt hat, verhandelt sie mit dem Regime von Präsident Hamid Karzai über den dauerhaften Verbleib von tausenden von Soldaten und den weiteren Betrieb von mehreren US-Stützpunkten in Afghanistan. Zu diesen Truppen gehören Spezialkräfte, die weiterhin Jagd auf Widerstandskämpfer gegen die Besatzung machen werden, sowie Ausbilder und Berater für die afghanischen Marionettentruppen und natürlich Luftstreitkräfte, die Bombenangriffe ausführen - wie den, der letzten Samstag in Kunar elf Kinder das Leben kostete.

Washington versucht, Afghanistan als Basis für seine „Machtprojektion“, wie es das Pentagon nennt, im Kaspischen Becken mit seinen riesigen Öl- und Gasvorkommen gegen Russland und China zu erhalten. Diese Strategie birgt den Keim zu einem viel größeren und katastrophaleren Konflikt.

Der Kampf für die Zukunft des afghanischen Volkes und der Arbeiterklasse der ganzen Welt erfordert die Wiederbelebung einer echten Bewegung gegen Krieg und Neokolonialismus auf der Grundlage der unabhängigen Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen seine Quelle, das kapitalistische Profitsystem.

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