Am Montag den 30. August verließen die letzten US-Soldaten Afghanistan. Das militärische Transportflugzeug vom Typ C-17 startete eine Minute vor Mitternacht Kabuler Ortszeit, d.h. vor Ablauf der Frist am 31. August, die Washington mit den Taliban ausgehandelt hatte. Mit diesem Abflug geht das Debakel dieses 20-jährigen Kriegs der USA zu Ende, des längsten in der amerikanischen Geschichte.
Mit dem Abzug der letzten Truppen am Montag endete eine zwei Wochen andauernde Evakuierung, in deren Verlauf 122.000 Menschen aus dem Land gebracht wurden. Neben 5.400 US-Bürgern waren es Afghanen, die in den letzten 20 Jahren mit der US-Besatzung zusammengearbeitet hatten, sowie deren Familien. Am Montag wurde der Rest des diplomatischen „Kernpersonals“ vom Kabuler Flughafen ausgeflogen, und so steht eine der weltweit größten amerikanischen Botschaften, deren Bau 800 Millionen Dollar gekostet hat, jetzt leer.
Bezeichnend für den chaotischen Charakter der gesamten Evakuierung war der Selbstmordanschlag vom letzten Donnerstag, den der Islamische Staat Chorasan (IS-K) für sich reklamiert. Dabei wurden 13 US-Militärangehörige sowie 170 Afghanen getötet. Es ist noch nicht geklärt, wie viele der Afghanen die US-Soldaten selbst getötet haben, indem sie als Reaktion auf den Anschlag das Feuer eröffneten. Am Montag ist der Kabuler Flughafen dann mit Raketen beschossen worden. Der demütigende Rückzug unter Beschuss erinnert an die Flucht vom Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon 1975, und das herrschende Establishment der USA reagiert darauf mit erbitterten Vorwürfen gegen die Biden-Regierung, u.a. wegen grob fehlerhafter „Durchführung“ der Operation.
Die Bedingungen für diesen Abzug sind jedoch das Ergebnis der gesamten 20-jährigen imperialistischen Intervention. Sie war nicht in der Lage, ein überlebensfähiges Marionettenregime zu installieren, und hat durch ihre Bomben- und Drohnenangriffe, ihre nächtlichen Überfälle, Verhaftungen und Folterungen in der Bevölkerung Hass und Wut hervorgerufen.
Als Präsident Joe Biden den Rückzug im April genehmigt hatte, ging man noch davon aus, dass die afghanischen Sicherheitskräfte den Fall von Kabul mindestens sechs Monate oder sogar bis zu einem Jahr lang hinauszögern könnten. Nur wenige Tage, ehe die Taliban-Kämpfer am 15. August die Hauptstadt eroberten, korrigierten die US-Geheimdienste diese Einschätzung auf ein Worst-Case-Szenario von einem Monat. Die US-Regierung hatte die afghanischen Sicherheitskräfte für über 80 Milliarden Dollar ausbilden, bewaffnen und finanzieren lassen, aber letzten Endes brachen sie ein wie ein Kartenhaus. Sie waren nicht bereit, ein Regime zu verteidigen, das nur die US-Besatzung und die daraus hervorgegangene Kleptokratie repräsentierte.
Die 20 Jahre währende Besatzung hat 2.461 US-Soldaten und Zivilisten, 1.144 weiteren Soldaten der Nato und anderer Verbündeter sowie weit über 100.000 Afghanen das Leben gekostet. Mindestens zwei Billionen Dollar wurden dafür verschwendet. Nach alledem lassen die USA Afghanistan unter der Herrschaft derselben islamistischen Taliban-Milizen zurück, die sie während der Intervention im Oktober 2001 vertrieben hatten.
In Kabul wurde der Abzug der letzten US-Truppen mit Feuerwerk und Freudenschüssen gefeiert. Der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid twitterte am Dienstagmorgen: „Unser Land hat mit Gottes Hilfe die volle Unabhängigkeit erreicht.“
Der Oberbefehlshaber des US Central Command, General Kenneth McKenzie Jr., gab zu, dass auch nach dem Ende der Evakuierungen noch einige hundert Amerikaner im Land seien. Schätzungen gehen davon aus, dass sich noch mindestens 100.000 Afghanen im Land befinden, die ein Visum zur Einreise in die USA besitzen oder es erhalten könnten.
Beispielhaft für das blutige Vermächtnis der 20-jährigen US-Intervention war ein präventiver Drohnenangriff kurz vor dem letzten Evakuierungsflug. Er galt laut dem US-Militär einem Auto, in dem sich angeblich ein Selbstmordattentäter befand. Dabei wurden zehn afghanische Zivilisten getötet, von denen neun aus der gleichen Familie stammten. Zu den Opfern gehören sieben Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren, ihr Vater, dessen Bruder (ein 19-jähriger Student) und ein Nachbar.
Dieser Angriff am Sonntag ereignete sich, während die USA dabei waren, ihre letzte Evakuierungsoperation vom Kabuler Flughafen abzuschließen. Das Pentagon beschrieb ihn als „unbemannten Überhorizont-Angriff zur Selbstverteidigung“ gegen den Islamischen Staat Chorasan, der die Verantwortung für den Selbstmordanschlag auf dem Flughafen am letzten Donnerstag übernommen hatte.
Das Drohnenmassaker war nur ein weiteres von zahllosen ähnlichen Verbrechen im Verlauf des 20 Jahre andauernden neokolonialen Kriegs und der Besatzung, die Afghanistan zerstört hat. Da die Washingtoner Regierung weiterhin das Recht beansprucht, auch nach dem Abzug der letzten US-Truppen nach eigenem Ermessen Angriffe auf Ziele durchzuführen, die sie für Terroristen hält, wird es zweifellos nicht das letzte sein.
Pentagon-Sprecher John Kirby bestätigte auf einer Pressekonferenz am Montag Berichte über das Drohnenmassaker und erklärte, das US-Militär würde Berichte „auswerten und untersuchen“, laut denen zehn Zivilisten getötet wurden. Weiter erklärte er: „Wir sind nicht in der Position, das abzustreiten.“
Im Gegensatz zu den meisten US-Drohnenangriffen, die bereits am ersten Tag der US-Invasion im Oktober 2001 begannen, hatte sich der Angriff vom Sonntag nicht in einem abgelegenen Dorf, sondern in einem dicht besiedelten Stadtviertel von Kabul ereignet. Damit ist es für das Pentagon schwieriger, die berichteten zivilen Opfer, wie sonst üblich, abzustreiten.
Die Berichte aus Kabul zeichnen ein grauenhaftes Bild vom Schauplatz des Drohnenangriffs. Empörte Nachbarn der Familie Ahmadi berichteten Al Jazeera: „An den Mauern klebte Menschenfleisch. Knochen waren in die Büsche geschleudert worden. Die Wände waren voller Blut.“ Ein Nachbar sagte, von dem jüngsten getöteten Kind habe man „nur die Beine“ gefunden.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Unter den toten Kindern waren drei Zweijährige und zwei Dreijährige.
Die Rakete schlug in dem Moment ein, als der Vater der Kinder von der Arbeit heimkam und die Kinder zum Auto rannten, um ihn zu begrüßen.
Der Vater, Zemarai, hatte für die Hilfsorganisation Nutrition and Education International gearbeitet, weshalb die Familie ein Sondervisum für die USA erhalten hatte. Sie hatten bereits ihre Koffer gepackt und warteten auf den Anruf, dass sie zum Kabuler Flughafen kommen könnten. Der andere Erwachsene, der bei dem Angriff getötet wurde, war ein ehemaliges Mitglied der afghanischen Nationalen Armee.
Ramin Yousufi, ein Verwandter der ermordeten Familien, erklärte gegenüber BBC, der Drohnenangriff habe „die Hölle in unser Leben gebracht“. Schluchzend fragte er: „Warum haben sie unsere Familie, unsere Kinder getötet? Sieben Kinder sind verbrannt. Wir können sie anhand der Gesichter oder Leichen nicht einmal identifizieren.“
Während das US-Militär den letzten Flug aus Kabul organisierte, traf sich der UN-Sicherheitsrat zu einer Sondersitzung zur Krise in Afghanistan und verabschiedete eine Resolution, in der die Taliban aufgefordert wurden, allen Ausreisewilligen sicheres Geleit zu erlauben. Unberücksichtigt blieb dabei ein Vorschlag von Frankreich und Großbritannien, eine „sichere Zone“ für Anhänger des gestürzten US-Marionettenregimes in Kabul zu schaffen. Diese Maßnahme wäre von den Taliban zweifellos als krasse Verletzung der afghanischen Souveränität abgelehnt worden. Die Resolution wurde mit 13 Ja-Stimmen angenommen, China und Russland enthielten sich.
Nun schwingen die USA und ihre Verbündeten im Sicherheitsrat große Reden über die unverletzlichen Rechte der Afghanen, ihr Land verlassen zu dürfen. Gleichzeitig hat die Europäische Union ein Treffen organisiert, um Notfallmaßnahmen abzusegnen, die, wie es in einem Resolutionsentwurf heißt, darauf abzielen, „die Wiederholung unkontrollierter großer illegaler Migrationsbewegungen wie in der Vergangenheit zu verhindern“.
Weiter heißt es: „Die EU sollte auch die Unterstützung der Länder in der unmittelbaren Nachbarschaft Afghanistans verstärken, um sicherzustellen, dass Bedürftige vorrangig in der Region angemessenen Schutz erhalten.“ Mit anderen Worten, das Ziel ist es, Afghanistans Nachbarstaaten finanziell zu unterstützen, damit diese im Gegenzug als Grenzwächter der EU agieren und afghanische Migranten daran hindern, nach Europa zu kommen. Einen ähnlich reaktionären Deal hatte die EU bereits im Jahr 2015 mit der Türkei ausgehandelt, um syrische Flüchtlinge fernzuhalten.