Am Sonntag haben im nordbelgischen Genk rund 20.000 Menschen für den Erhalt des dortigen Fordwerks demonstriert. Die Spitze des US-Autokonzerns hatte am 24. Oktober die Schließung des Werks angekündigt. Betroffen sind 4.600 Ford-Arbeiter sowie mehr als 5.000 Beschäftigte in der Zulieferindustrie. In Genk werden der Mittelklassewagen Mondeo, der Sportvan S-Max und der Van Galaxy produziert.
Neben den unmittelbar Betroffenen und ihren Familien nahmen auch Vertreter anderer Belegschaften an der Demonstration teil, u. a. von Audi in Brüssel und von Philipps. Aus Deutschland waren rund 500 Fordarbeiter mit zehn Bussen angereist.
Wird das Ford-Werk geschlossen, blutet die ohnehin strukturschwache Gegend weiter aus. Erst vor zwei Jahren war das knapp 100 Kilometer entfernt liegende Opel-Werk in Antwerpen geschlossen worden.
Genk und die Provinz Limburg waren einst ein industrielles Zentrum mit Stahlhütten und Zechen. In Genk selbst hatte die erste von drei Zechen bereits in den 1960er Jahren geschlossen. Die beiden anderen stellten 20 Jahre später die Arbeit ein. Stahl wird nur noch von ArcelorMittal mit wenigen Hundert Beschäftigten produziert. Das 1964 eröffnete Ford-Werk ist der mit Abstand größte Arbeitgeber der 65.000 Einwohner zählenden Stadt.
Die Demonstration zeichnete diesen Niedergang symbolisch nach. Sie verlief aus der Stadtmitte hinaus zum alten Zechengelände, das nun einen Kinokomplex mit zehn Kinos beherbergt.
Die Gewerkschaften und die Betriebsräte haben Ford in der Vergangenheit immer wieder Zugeständnisse gemacht, um die Produktion in Genk zu halten. Erst vor zwei Jahren hatten sie einer Lohnkürzung von zehn Prozent zugestimmt. Trotzdem soll nun die belgische Produktion nach Spanien und Teile der spanischen Produktion ins deutsche Werk Saarlouis verlagert werden.
Die Gewerkschaften haben darauf keine Antwort. Der „Marsch für die Zukunft“, zu dem sie aufgerufen haben, beschränkte sich auf einen Appell an das Ford-Management, sich seiner „Verantwortung“ zu stellen. Am Dienstag wird die Produktion im Fordwerk für drei Tage fortgesetzt, während die Gewerkschaften über einen Sozialplan verhandeln.
Das heißt, sie haben die Schließung bereits akzeptiert und feilschen nur noch um den Preis und die Höhe der Abfindung. Rohnny Champagne, der regionale Vorsitzende des sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbands ABVV-Metaal, bestätigte dies auf der abschließenden Kundgebung. „Um die Zukunft unserer Kinder zu sichern, lassen wir uns von den Amerikanern nicht einfach abschlachten“, rief er. Wenn das Frühverrentungen mit 50 Jahren bedeute, „dann wird es Frühverrentungen mit 50 geben“.
Die Arbeiter und Arbeiterinnen, mit denen wir sprachen, waren enttäuscht und wütend. Gleichzeitig wussten sie, dass ihr Werk ohne die internationale Solidarität der Fordarbeiter sowie aller anderen Autoarbeiter nicht zu verteidigen ist. Ihr Vertrauen in die Gewerkschaften war gering.
Franco Langone gehört zu den älteren Ford-Arbeiter, für die Champagne eine Frühverrentung durchsetzen möchte. Er arbeitet seit 35 Jahren bei Ford, derzeit am Montageband des S-Max. Mit seinen 52 Jahren sieht er keine Chance, woanders einen Job zu bekommen.
„Wenn Ford schließt, kann ich mich beim Arbeitsamt einreihen und stempeln gehen“, sagte Langone. Er meinte, man müsse mehr unternehmen, auch streiken, und zwar in allen Fordwerken Europas. „Die Arbeiter müssten eins sein und mit einer Stimme sprechen. Doch die Gewerkschaften tun das nicht.“ Die Funktionäre säßen mit dem Management zusammen und verhandelten über die Schließung.
Decraie Chartal hatte im inzwischen geschlossenen Opel-Werk in Antwerpen gearbeitet. Sie hatte sich mit einigen anderen ehemaligen Kollegen über Facebook verabredet, gemeinsam nach Genk zu fahren und die Fordarbeiter zu unterstützen. „Wir haben das alles schon durchgemacht, wir müssen daraus lernen“, sagte sie. Arbeiter müssten sich über die Grenzen hinweg zusammenschließen. Die ständigen Zugeständnisse der Gewerkschaften seien „der Anfang vom Ende und bereiten die Schließung vor“.
Decraie ärgerte sich darüber, dass die Arbeiter nun von allen Seiten gemahnt würden, die Gesetze zu befolgen. Die Konzerne hielten sich nicht an Gesetze oder Abmachungen. „In Antwerpen hatten wir einen Vertrag über Produktionszusagen bis 2016, die Kollegen von Ford sogar bis 2020.“
Cynthia und ihr Freund Rogerio bangen um ihre Zukunft. Die 21jährige Cynthia macht derzeit eine 15-monatige Ausbildung bei Ford und arbeitet am Band. Sie montiert die Armaturenbretter in den S-Max. Rogerio, 23, arbeitet bei einem Zulieferer und verdient mit 1.500 Euro im Monat noch weniger als seine Freundin.
„Wir leben zusammen“, erzählte Cynthia. „Wir müssen Miete zahlen, Strom und alles andere.“ Eigentlich hätten sie vorgehabt, eine Wohnung oder ein kleines Haus zu kaufen und Kinder zu bekommen. „Die normalen Wünsche eben“, sagte sie. „Doch wenn wir keine Arbeit mehr haben, können wir uns das nicht leisten.“ Die älteren Kollegen, die schon ein Haus und Familie hätten, seien noch übler dran. Schon jetzt sei es schlimm in der Gegend.
Rogerio warf ein, dass treffe für ganz Europa zu. Während Cynthias Eltern vor Jahrzehnten aus Spanien eingewandert waren, hat Rogerio portugiesische Wurzeln. Beide haben Verwandte in Spanien und Portugal, wo die Lage furchtbar sei.
Rogerio regte sich darüber auf, dass der Mondeo jetzt in Spanien produziert werden solle, obwohl Genk eine Zusage für dessen Produktion habe. „Das ist Vertragsbruch.“ Gleichzeitig werde, wie beide von Verwandten wissen, den spanischen Ford-Arbeitern erklärt, die Mondeo-Produktion gehe nach Deutschland. Das sei für alle ziemlich verwirrend, keiner wisse, woran er sei.
Offensichtlich schachern die Gewerkschaften und Betriebsräte der einzelnen europäischen Standorte noch über die Aufteilung der belgischen Produktion. Den Gewerkschaften trauen sowohl Cynthia als auch Rogerio nicht. „Die Gewerkschaften tun gar nichts für uns“, sagte Rogerio. „Niemand tut etwas für uns“, ergänzte Cynthia. „Deswegen sind wir hier. Wir wollen arbeiten.“
Cengiz Baykal arbeitet wie sein älterer Bruder seit 20 Jahren bei Ford. Der 39-Jährige ist im Presswerk beschäftigt. Er war mit zweieinhalb Jahren aus der Türkei nach Belgien gekommen. Sein Vater arbeitete bis zuletzt auf der Zeche. 1983 habe ihn „die Arbeit verlassen“, wie sein Vater es ausdrücke, sagte Cengiz. Er sei immer froh gewesen, dass seine beiden Söhne seinen Rat befolgt und die Arbeit bei Ford angetreten hätten. Nun wisse auch sein Vater nicht, wie es weiter gehen soll.
Cengiz berichtete, die Arbeiter hätten schon seit längerem mit Kürzungen und Arbeitsplatzabbau gerechnet. „Aber wir dachten schlimmstenfalls an einen Abbau von 1.500 Jobs. Und dann erfahre ich aus den Nachrichten von der Schließung.“ Der Konzern und die Gewerkschaftsvertreter hätten immer betont, das Presswerk fertige als einziges Felgen für die gesamte europäische Produktion. Er wisse nicht, wo diese jetzt gefertigt werden sollen.
Was Cengiz und seine Kollegen nicht verstehen, ist, warum die Produktion innerhalb Europas verlagert wird. „Wenn sie nach Asien gehen würde, könnte ich das verstehen“, sagt er. Mit den niedrigen Löhnen dort, etwa in China, könnten belgische Arbeiter nicht konkurrieren.
„Aber warum Spanien und Deutschland? Sind die Löhne dort so viel niedriger als hier?“, fragte Cengiz. Er habe wie seine Kollegen immer hart und schwer gearbeitet und dafür auch gut verdient. „Wenn wir nun andere Jobs annehmen müssen, wenn wir denn welche finden, werden wir alle niedrigere Löhne hinnehmen müssen.“
Auf die Gewerkschaften und viele Betriebsräte ist Cengiz nicht gut zu sprechen. „Sie vertreten nicht die Arbeiter.“ Früher sei das noch anders gewesen. „Wir wissen nicht, was sie hinter verschlossenen Türen mit dem Management besprechen.“
Cengiz sieht auch einen Zusammenhang mit dem Sozialabbau in Europa. Die Bevölkerung in Griechenland, Spanien oder Portugal könne sich die Autos schlicht nicht mehr leisten. Deshalb seien die spanischen Arbeiter auch misstrauisch, weil sie nun das Modell S-Max produzieren sollen. „Der S-Max ist ein großes teures Auto. Wer kann sich den noch leisten?“ Es sei eine Frage der Zeit, bis auch in Spanien Stellen abgebaut würden.
Cengiz hält die Politiker in Brüssel für die richtige Adresse für Proteste: „Die EU hilft den Banken, nicht den Arbeitern. Wir haben alles allein zu zahlen.“
Er berichtete, dass am Mittwoch vergangener Woche rund 170 Vertreter der christlichen und liberalen Gewerkschaften zum Ford-Werk in Köln gefahren seien. Als sie während ihrem harmlosen Protest vor dem Werktor einige Knallkörper und Reifen anzündeten, wurden alle Anwesenden von der Polizei erkennungsdienstlich erfasst. Zehn Gewerkschafter wurden verhaftet. Die Staatsanwaltschaft will sie wegen Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und leichter Körperverletzung – einige Polizisten sollen ein „Knalltrauma“ erlitten haben – anklagen.