Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein

Teile 20-22

Die World Socialist Web Site schließt heute die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von "Marxism, History & Socialist Consciousness" von David North ab. Es handelt sich um die Antwort auf eine Kritik der Politik des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die von Alex Steiner und Frank Brenner unter dem Titel "Objektivismus oder Marxismus" verfasst wurde. Steiner und Brenner sind ehemalige Mitglieder der Workers League (der Vorgängerin der heutigen Socialist Equality Party). David North ist Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in den USA und Chefredakteur der WSWS.

Die englischsprachige Originalfassung von Norths Antwort ist kürzlich bei Mehring Books in Buchform erschienen und kann online bestellt werden.

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20. Wilhelm Reichs Auffassung von sozialistischem Bewusstsein

Bei der Verteidigung Geoghegans bezieht ihr euch zustimmend auf das Werk von Wilhelm Reich. In diesem Fall habe ich nichts gegen die Verbindung einzuwenden, die ihr zwischen den beiden zieht. Es stimmt, dass Geoghegan mit der Behauptung, die Nazis seien "mit ihren Appellen an die Massenpsychologie weit erfolgreicher gewesen als die deutsche Linke", im Wesentlichen die Argumente Wilhelm Reichs aus den 1930er Jahren wiederholt, wie ihr sagt. In Übereinstimmung mit Reich schreibt ihr dann, das politische Bewusstsein "war ein Schlachtfeld, das die Linke ignorierte, mit verheerenden Folgen". Und weiter: "Der Sozialismus hätte nur triumphieren können, wenn er die Ergebenheit von Millionen Arbeitern gewonnen hätte, und dazu hätte die Linke Wege finden müssen, um die Hoffnungen, Ängste und Träume dieser Millionen zu begeistern."

Das wirft die Frage auf, wie Wilhelm Reich die Entwicklung von "politischem" und "sozialistischem" Bewusstseins verstanden hat. In eurem Dokument habt ihr überraschend wenig zu diesem Thema zu sagen. Ihr bemerkt nur beiläufig, Reich habe "mit der faszinierenden Arbeit, die er in den frühen Dreißigern mit deutschen Arbeiterjugendlichen in der Sexpol-Bewegung leistete, ... praktisch vorgeführt", wie ein "erneuerter sozialistischer Idealismus" entwickelt werden könne. Ihr deutet damit zwar an, dass sein Werk wichtige Lehren für zeitgenössische Sozialisten enthalte, gebt aber weder eine Zusammenfassung von Reichs Ansichten, noch erklärt ihr deren anhaltende Bedeutung. In einem Dokument, das du Genosse Steiner 2004 an Genosse Steve Long vom IKVI geschickt hast, gibst du aber einen Hinweis, was du für die wichtige Erkenntnis von Wilhelm Reich hältst. Du verteidigst Standpunkte, die Herbert Marcuse in seiner Schrift Triebstruktur und Gesellschaft vorbringt, und erklärst, Marcuse wolle "im Wesentlichen auf dasselbe hinaus, wie Reich in Die Massenpsychologie des Faschismus, dass nämlich der Faschismus die unterdrückten libidinösen Triebe nutzen werde, um uns ins Zeitalter der Barbarei zurückzuwerfen, falls die marxistische Bewegung keinen Weg finde, diese Triebe in eine progressive Richtung zu lenken". Du fügst hinzu: "Ich könnte sehr viel mehr zu diesem Thema sagen, aber ich habe meinen Standpunkt, glaube ich, klar gemacht."

Das hast du tatsächlich. Was du unter dem Kampf für "politisches" und "sozialistisches" Bewusstsein verstehst, hat mit Marxismus nicht das Geringste zu tun. Viel von dem, was du schreibst, stützt sich auf das Werk Wilhelm Reichs, dessen Vorstellungen dem historischen Materialismus und der revolutionären marxistischen Tradition völlig fremd sind. Reich war natürlich ein Produkt seiner Zeit und Kultur, und es gibt ein wirklich tragisches Element in seinem Leben. Er war, wie viele andere, ein Opfer der Katastrophe, die in den 1930er und 1940er Jahren über die Arbeiterklasse und über sozialistische Intellektuelle hereinbrach. Sein Werk und seine Auffassungen, die nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten einen zunehmend besessenen, desorientierten und selbst politisch rechten Charakter annahmen, waren unauslöschlich von der massiven Niederlage geprägt, die der Faschismus der deutschen und europäischen Arbeiterklasse im Laufe der 1930er Jahre zugefügt hatte. Man muss Mitleid empfinden mit dem traurigen Schicksal dieses exilierten europäischen Psychologen, der aus dem Wiener und Berliner Milieu herausgerissen wurde, in dem seine intellektuelle Entwicklung wurzelte, und der mit seiner Erforschung der menschlichen Sexualität den Zorn rachsüchtiger amerikanischen Behörden erregte, die ihn ins Gefängnis von Lewisburg, Pennsylvania sperrten, wo er 1957 im Alter von sechzig Jahren starb. Sein Leben verdient es, mit Verständnis und Respekt behandelt zu werden, und glücklicherweise hat Myron Sharaf dies in der Biografie Der heilige Zorn des Lebendigen auch getan.

Aber wenn die menschliche und kulturelle Tragödie Wilhelm Reichs Verständnis verdient, so gilt dies nicht für deine Bemühungen, den Marxismus und Trotzkismus mit Reichscher "Sex-Politik" zu verdünnen oder sie durch diese zu ersetzen. Dafür bringen wir nicht die geringste Geduld auf. Der Versuch, aus Reichs Sexualtheorien, insbesondere den in Die Massenpsychologie des Faschismus entwickelten, eine Strategie für den Sozialismus abzuleiten, kann nur zu einer politischen Fehlorientierung in übelster Form führen. Reichs Antworten auf eine der wichtigsten Fragen, die sich aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts ergeben - nach der Ursache für die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse gegenüber Hitler und den Nazis -, sind von einem krankhaften Pessimismus durchdrungen, der sich nicht mit einer revolutionären Perspektive vereinbaren lässt. Er sieht die Wurzeln des Faschismus in einer angeborenen, allgemein gestörten menschlichen Psychologie. Dafür gibt es keine Grundlage im historischen Materialismus. Reichs Antworten führen nicht nur zu einer falschen Perspektive und einem falschen Programm, wer sie anerkennt, muss zwangsläufig von der revolutionären Politik und vom Sozialismus wegdriften, eine Entwicklung, die Reichs eigener Werdegang vorweggenommen hat.

Im Dezember 1933 schrieb Reich, dem die Flucht nach Dänemark gelungen war, unter dem Pseudonym Ernst Parell eine Broschüre mit dem Titel Was ist Klassenbewusstsein? In diesem relativ kurzen Werk fasst er seine Schlussfolgerungen aus der Niederlage der deutschen Arbeiterklasse zusammen.

Das Bemerkenswerteste an diesem Text ist, dass er nur flüchtig auf Fragen des Programms und der Perspektive eingeht. Über die Politik der Sozialdemokratie und der Stalinisten, die die Arbeiterklasse demoralisierte und spaltete und den Weg für den Sieg der Nazis ebnete, wird so gut wie nichts gesagt. Dafür zeigt Reich kein Interesse. Die wesentliche Ursache für die Niederlage der Arbeiterklasse ist für ihn nicht der feige Opportunismus der Sozialdemokraten oder das ultralinke Abenteurertum der "Dritten Periode" der Kommunistischen Partei, sondern "der Mangel einer brauchbaren marxistischen politischen Psychologie.... Dieser Mangel auf unserer Seite wurde zum größten Vorteil des Klassenfeindes, wurde die mächtigste Waffe des Faschismus. Während wir den Massen großartige historische Analysen und ökonomische Auseinandersetzungen über die imperialistischen Gegensätze vorlegten, entbrannten sie für Hitler aus tiefsten Gefühlsquellen." [Wilhelm Reich, "Was ist Klassenbewusstsein?", Kopenhagen, 1934, S. 8f]

Bei der Darstellung seiner Auffassung von Klassenbewusstsein legt Reich eine Auffassung der intellektuellen Fähigkeiten der Arbeiterklasse an den Tag, die an pure Verachtung grenzt. Er hielt die Auffassung schlicht für absurd, die Arbeitermassen seien empfänglich für das "Wissen um die Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems, um die ungeheuren Möglichkeiten der sozialistischen Planwirtschaft, um die Notwendigkeit der sozialen Revolution als der Angleichung der Aneignungsform an die Produktionsform, um die vorwärts- und rückwärtstreibenden Kräfte der Geschichte." Diese Dinge seien wichtig für die Parteiführer, sie seien Bestandteil ihres höher entwickelten Klassenbewusstseins. Aber das Klassenbewusstsein der Massen "ist von solchem Wissen weit entfernt, ebenso von großen Perspektiven, da geht es um kleines und kleinstes, alltägliches, banales". Die politischen Führer müssten sich natürlich um die Probleme der internationalen Politik kümmern. Aber das Arbeiterklasse-Bewusstsein der Massen "ist an den russisch-japanischen oder englisch-amerikanischen Gegensätzen gänzlich uninteressiert, ebenso am Fortschritt der Produktivkräfte; es orientiert sich einzig und allein an den subjektiven Spiegelungen, Verankerungen, Auswirkungen dieses objektiven Geschehens in millionenfach verschiedenen kleinsten Alltagsfragen; sein Inhalt also ist das Interesse an Nahrung, Kleidung, Mode, familiären Beziehungen, den Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung im engsten Sinne, an den sexuellen Spielen und Vergnügungen im weiteren Sinne, wie Kino, Theater, Schaubuden, Rummelparks und Tanz, ferner an den Schwierigkeiten der Kindererziehung, an Hausschmuck, an Länge und Gestaltung der Freizeit etc. etc." [ebd. S. 13-14]

Marxisten müssten daher, und das sei ihre wichtigste Aufgabe, "den Anschluss an das kleine, banale, primitive, einfache Alltagsleben und Wünschen, der breitesten Masse in allen ihren Verschiedenheiten nach Land und Schichte finden." [ebd. S. 14]

Selbst wenn man von der Frage der Sexualität absieht, auf die Reich ein derart überragendes Gewicht legte, so widerspiegelt seine Haltung gegenüber der Entwicklung sozialistischen Bewusstseins den Einfluss starker gesellschaftlicher Einflüsse, die von außerhalb der großen intellektuellen und kulturellen Traditionen der marxistischen Bewegung stammen. Reichs Anschauungen brachten eine besonders vulgäre Form des politischen Opportunismus zum Ausdruck, wie man sie öfters unter Intellektuellen findet, deren Verständnis der Arbeiterklasse impressionistisch, unhistorisch und in den Vorurteilen ihres eigenen kleinbürgerlichen und beruflichen Milieus befangen ist. Sie fassen die Arbeiterklasse nicht als historisch aufsteigende Klasse auf, als Protagonistin einer neuen und höheren Gesellschaftsorganisation. Sie sehen in ihr lediglich eine Ansammlung rückständiger und unwissender Individuen, die sich kaum über das Niveau wilder Bestien erheben, unwissend, gleichgültig gegenüber kulturellen Fragen und ohne ernsthafte Interessen. Wozu, denken solche Intellektuelle, soll man den Arbeitern mit Geschichte, Politik, Ökonomie und Kultur kommen? Man muss sich auf das niedrigstmögliche Niveau begeben, damit unsere Ideen den Massen zugänglich werden. Seltsamerweise geht eine solche Haltung oft Hand in Hand mit der Verherrlichung einer unpolitischen Gewerkschaftsarbeit.

Man muss die Frage stellen, warum die erste, mächtigste und politisch fortgeschrittenste Arbeitermassenpartei der Geschichte in Deutschland entstand. Dieses historische Phänomen ist zweifellos mit der erstaunlichen kulturellen Entwicklung verbunden, die mit der Aufklärung einherging. Die deutsche sozialistische Massenbewegung stützte sich auf die Revolution im philosophischen Denken, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Kant einsetzte; ihre Geschichte zeugt vom organischen Zusammenhang der fortgeschrittenen Theorie und einer mächtigen, klassenbewussten Arbeiterbewegung. Das Erbe Kants, Lessings, Hegels, Feuerbachs, Goethes, Schillers, Kleists, Mozarts und Beethovens schuf, im Wechselspiel mit den Auswirkungen der französischen Revolution, ein außergewöhnliches kulturelles, intellektuelles Umfeld, dass sich für die Entwicklung eines sozialistischen Massenbewusstseins im neuen Proletariat, das mit der Industrialisierung Deutschlands schnell heranwuchs, als äußerst günstig herausstellte. In der überragenden Figur Marx’ fand die gesamte vorangegangene intellektuelle Entwicklung Deutschlands ihren konzentrierten Ausdruck.

Hätte Marx das Proletariat auf Reichsche Weise aufgefasst, hätte er niemals schreiben können, die Philosophie sei der Kopf, das Proletariat das Herz der menschlichen Emanzipation. Noch hätte Engels erklärt: "Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie." (MEW Bd. 21, S. 307) Die deutsche Sozialdemokratie mit ihren unzähligen Schulungsvereinen und -projekten, war nicht nur eine politische, sondern auch eine mächtige kulturelle Bewegung der Arbeiterklasse, beflügelt von Lehrern, die von einem theoretisch fundierten Verständnis der historischen Mission der Arbeiterklasse erfüllt waren. Wie hätten sie sich ihrer revolutionären Erziehungsarbeit widmen und pausenlos lehren und schreiben können, wenn sie der Ansicht gewesen wären, der deutschen Arbeiterklasse seien ihre Anstrengungen gleichgültig? Es ist unvorstellbar, dass Franz Mehring und Rosa Luxemburg in gleicher Weise wie Reich über das Proletariat geschrieben hätten. [27]

Reichs abschätzige Auffassung von Klassenbewusstsein ist nicht nur Ausdruck seiner eigenen gesellschaftlichen Vorurteile, sondern auch der Verzweiflung, die durch eine politische Katastrophe ausgelöst wurde, deren Ursachen er nicht verstand. Politischer Opportunismus ist nicht selten ein Nebenprodukt von Verzweiflung. Man hat den Eindruck, Reich habe in der Sexualfrage ein Mittel entdeckt, das ihm Zugang zum Massenbewusstsein verschaffen sollte, ohne dass er sich mit den komplizierten politischen und theoretischen Fragen befassen musste, von denen er glaubte, die Arbeiterklasse könne sie nicht verstehen. Vor allem junge Leute waren seiner Meinung nach für eine solche Herangehensweise empfänglich: "Wir können der Jugend aller Länder und Erdteile die Notwendigkeit der sozialen Revolution nicht theoretisch beweisen, sondern sie nur aus den Nöten und Widersprüchen der Jugend entwickeln. Im Zentrum dieser Nöte und Widersprüche steht die riesenhafte Frage des Geschlechtslebens der Jugend." [ebd. 21] [28]

Der krasse Opportunismus der reichlich naiven Auffassung Reichs, "Sex-Politik" sei der Generalschlüssel für den Zugang zu den Maßen, illustriert die folgende längere Passage. Reich will darin nachweisen, dass Sozialisten, die verdeckt auf faschistischen Versammlungen eingreifen, sogar bei ergebenen Nazis Unterstützung finden können, wenn sie eine schlaue Diskussion über zulässige Formen sexuellen Verhaltens einfädeln.

... Wäre ein einfach überlegender Mann in einer [Nazi-] Versammlung aufgestanden und hätte gefragt, wodurch sich konkret die Moral vom Moralin unterscheidet, jeder Nazifunktionär wäre in tiefste Verlegenheit gekommen. Die Frage hätte nur konkret lauten müssen. Einer Frau das Ausgehen mit einem jungen Mann zu verbieten, sei also Moralin, nicht aber Moral, die der Nationalsozialismus fordere; das Alleinausgehen sei also gestattet. Wie nun, wenn der junge Mann die Frau küsst? Ist das Moralin oder noch Moral, oder gar wenn er ein Liebesverhältnis mit ihr wünscht? Das gehöre doch zur Lebensfreude, oder nicht? Sollte der Nationalsozialist an dieser Stelle noch mehr opfern und sogar die freie Liebe zugeben, was wir ihm gewiss zutrauen können, könnte weiter gefragt werden, ob denn das der Festigung der Ehe und Familie nicht schaden würde...

Reich führt den eingebildeten Dialog in dieser Weise fort, um dann zu behaupten:

Man wird zugeben, dass derartig sich eine lebhafte öffentliche Debatte in völlig unpolitischen Formen entwickeln könnte, die den Nazis hundert Mal unangenehmer werden könnte, als tausend Flugblätter, aus dem einfachen Grunde, weil die Nazis selbst für uns Propaganda machen würden, gänzlich unbewusst. Es gibt kein Klassenbewusstsein? Es sitzt in allen Ritzen des Alltagslebens! Es sei unmöglich es zu entwickeln, denn man wandere in den Kerker? Greift Fragen auf, die jedem Nazi am nächsten auf den Leib rücken, solche, die die Reaktion nie beantworten kann, und Ihr braucht über die Frage des Klassenbewusstseins nicht nachzudenken. Rolle der Avantgarde in der Illegalität? Hier liegt sie vergraben! In den konkreten Inhalten der proletarischen Demokratie, nicht im Wort oder in der Parole von der proletarischen Demokratie, unter denen sich von 100 90 nichts vorstellen. [ebd. S. 26-27]

Aus seiner Überzeugung heraus, eine revolutionäre Politik könne nur Erfolg haben, wenn sie der Form und dem Inhalt nach das primitive, unkomplizierte Empfinden der breiten Masse zum Ausdruck bringe, hielt Reich das Gewicht, das Trotzki auf die Klärung der Differenzen zwischen politischen Tendenzen legte, natürlich für Zeitverschwendung. In einem Absatz, der sich direkt gegen Trotzkis Aufruf zur Gründung der Vierten Internationale richtet, schrieb er: "Die Masse versteht aber von den feinen Differenzen zwischen den einzelnen revolutionären Richtungen nichts, sie ist daran uninteressiert." [ebd. S. 45]

Reichs Werk Die Massenpsychologie des Faschismus, in dem er seine Erklärung für den Erfolg der Nazis gibt, ist Ausdruck tiefster Verzweiflung. Das Anwachsen des Faschismus zu einer Massenbewegung sei nicht das Ergebnis politischer Umstände, sondern des krankhaften Zustands der menschlichen Psyche. Reich beharrt darauf, dass man den Faschismus seinem Kern nach nicht als politische Bewegung betrachten könne. Seine politische Struktur sei lediglich die äußere Form eines tiefer verwurzelten menschlichen Phänomens. Reich schreibt:

... meine ärztlichen Erfahrungen mit Menschen vieler Schichten, Rassen, Nationen, Glaubensbekenntnissen etc. [hatten mich] gelehrt, dass ‚Faschismus’ nur der politisch organisierte Ausdruck der durchschnittlichen menschlichen Charakterstrukturen ist, eine Struktur, die weder an bestimmte Rassen oder Nationen noch an bestimmte Parteien gebunden ist, die allgemein und international ist. In diesem charakterlichen Sinne ist ‚Faschismus’ die emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen der maschinellen Zivilisation und ihrer mechanistisch-mystischen Lebensauffassung. ["Die Massenpsychologie des Faschismus", Köln, 1971, S. 15]

Reich schrieb, er sei zur Überzeugung gelangt, "dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge.... Der Faschismus ist in seiner reinen Form die Summe aller irrationalen Reaktionen des durchschnittlichen menschlichen Charakters." [ebd. S. 15f]

Die marxistischen Parteien konnten laut Reich Hitler deshalb nicht aufhalten, "weil sie den Faschismus des 20. Jahrhunderts, eine grundsätzlich neue Erscheinung, mit Begriffen zu fassen versuchten, die dem 19. Jahrhundert entsprachen." [ebd. S. 24] Der Marxismus habe den Fehler begangen, den Faschismus im Rahmen der historischen Entwicklung des Kapitalismus während der letzten 200 Jahre zu analysieren. Aber der Faschismus "warf im Gegensatz dazu die Grundfrage der menschlichen Charakterbeschaffenheit, der menschlichen Mystik und Autoritätssucht auf, die einem Zeitraum von etwa 4.000 bis 6.000 Jahren entsprechen. Auch hier versuchte der Vulgärmarxismus einen Elefanten in ein Fuchsloch zu stecken." [ebd. S. 29]

Der Zustand der Menschheit, wie ihn Reich diagnostizierte, war so gut wie hoffnungslos:

Es ist ein Stück peinlicher Wahrheit: Der Faschismus sitzt als Verantwortungslosigkeit in den Menschenmassen aller Länder, Nationen, Rassen etc. Faschismus ist das Resultat jahrtausendealter Verunstaltung des Menschen.... Dass eine alte gesellschaftliche Entwicklung Schuld daran ist, ändert nichts an der Tatsache; wir können keine ‚historischen Entwicklungen’ an Stelle der lebendigen Menschen verantwortlich machen. An der Verschiebung der Verantwortung vom lebendigen Menschen auf die ‚historische Entwicklung’ gingen die sozialistischen Freiheitsbewegungen zugrunde. [ebd. S. 311f]

Bei allen exotischen und originellen Elementen, die Reichs psycho-sexuelle Erklärung für den Abstieg des Menschen in den Faschismus enthält, decken sich seine Argumente im Wesentlichen mit der in demoralisierten linken Kreisen weit verbreiteten Ansicht, Hitlers Sieg sei der unwiderlegbare Beweis für die organische Unfähigkeit der Arbeiterklasse, eine soziale Revolution zu vollbringen. Vielleicht erinnert ihr euch aufgrund eurer früherer Studien vage daran, Genossen Steiner und Brenner, dass in den 1930er Jahren zahlreiche linke Gruppierungen nicht mit Trotzki einverstanden waren, der die Verantwortung für die Niederlagen der Arbeiterklasse der falschen Politik der Arbeiterführer, der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien zuwies. Eine solche Erklärung war laut Trotzkis linkszentristischen Kritikern völlig unzureichend. Die Führer hatten vielleicht Fehler gemacht oder ihre Anhänger sogar bewusst verraten. Aber warum hatten die Massen "zugelassen", dass sie verraten wurden? Trugen sie kein Verantwortung für das Geschehene? Hätten sie sich ihren Führern nicht widersetzen können? Musste man nicht die Maßen selbst kritisch hinterfragen und jene organischen Bestandteile ihres Seins identifizieren, sei es in den unveränderlichen Eigenschaften ihrer gesellschaftlichen Existenz oder in ihrer Psyche, die sie dazu brachte, falschen Führern zu folgen und die eigene Niederlage hinzunehmen?

Derartige Fragen waren Ausdruck einer apologetischen Haltung gegenüber den Parteien, die bei den von den Massen erlittenen Katastrophen eine führende Rolle gespielt hatten. Trotzki antwortete darauf, indem er auf die Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und ihrer Führung einging. Es stimmt nicht, schrieb Trotzki, dass das Volk die Regierung - oder die Arbeiterklasse die Führung - haben, die sie verdienen. Regierungen und Führer sind Produkte komplexer historischer Entwicklungen, des Kampfs zwischen den Klassen und der inneren Konflikte zwischen den verschiedenen Schichten, aus denen sich diese Klassen zusammensetzen. Die Herausbildung der Führung der Arbeiterklasse ist ein höchst schwieriger und langwieriger Prozess, der sich im manchmal jahrzehntelangen Kampf von Tendenzen widerspiegelt. Die Bildung einer zuverlässigen Führung aus diesem Prozess heraus, die durch einen langen und schwierigen Kampf Prestige unter den Massen gewonnen hat, ist eine historische Errungenschaft. Doch es bleibt die Gefahr, dass diese angesehene Führung im Laufe der Zeit unter den Druck anderer Klassen gerät und innerlich degeneriert. Weder die Tatsache, geschweige den das Ausmaß dieser Degeneration ist den Massen unmittelbar ersichtlich, die weiterhin ihrer traditionellen Führung trauen. Besonders unter Bedingungen relativer sozialer Ruhe - das heißt in Zeiten, in denen eine ruhige, alltägliche Routinearbeit die Tendenz zur opportunistischen Anpassung fördert - ist die natürliche Neigung, ihr über die politisch zulässige Schwelle hinaus zu vertrauen, besonders ausgeprägt. Die Kluft zwischen dem politischen Kurs der alten Parteien und den veränderten Anforderungen, die sich aus der rasch wechselnden politischen Situation ergeben, wird nicht wahrgenommen - bis die durch unsichtbare sozio-ökonomische Widersprüche vorbereitete Krise in Form eines großen historischen Schocks hereinbricht. Trotzi erklärte:

Die mächtigsten historischen Schocks sind Kriege und Revolutionen. Genau aus diesem Grund wird die Arbeiterklasse oft unversehens von Krieg und Revolutionen überrascht. Aber sogar dann, wenn die alte Führung ihre innere Korruption offenbart hat, kann die Klasse sich nicht aus dem Stegreif eine neue Führung schaffen, zumal wenn sie nicht aus der vorangegangenen Periode starke revolutionäre Kader ererbt hat, die fähig sind, sich den Zusammenbruch der alten führenden Partei zunutze zu machen. ["Klasse, Partei und Führung", in "Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39", ISP-Verlag 1976, S. 341]

Trotzki verurteilte jede Form der politischen Rechfertigung, die der Arbeiterklasse die Verantwortung für die Fehler und Verbrechen der Führer auflädt, "Fragen nach solch konkreten Faktoren wie Programmen, Parteien, Persönlichkeiten, die die Organisatoren der Niederlage waren", nicht aufwirft und den Sieg des Faschismus in Deutschland, Spanien oder Italien "als notwendige Glieder in der Kette überirdischer Entwicklungen" hinnimmt. [ebd. S.346] Der einzige grundlegende Unterschied zwischen Reichs Erklärung für die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse und derjenigen der zentristischen Tendenzen, die Trotzki kritisiert, besteht darin, dass für Reich die "überirdischen Entwicklungen", die den Triumph des Faschismus vorherbestimmten, nicht gesellschaftlich-politischer, sondern sexueller Natur waren.

Doch wenden wir uns nun der Frage der Massenpsychologie zu, die von Revolutionären nicht umgangen werden kann. Man kann aus Trotzkis Schriften weit mehr über die gesellschaftliche Psychologie erfahren, aus der sich der deutsche Faschismus ergab, als wenn man über Reichs Büchern brütet. Wann, Genossen Steiner und Benner, habt ihr zum letzten Mal Trotzkis glänzende Schrift "Porträt des Nationalsozialismus" gelesen? Hier beschreibt Trotzki die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, und politischen Zustände, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die psychologischen Voraussetzungen schufen, unter denen Hitlers barbarische Bewegung Millionen Anhänger in der Mittelklasse finden konnte:

Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten - mit Mühe durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt - fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus.

Die Vielzahl der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die soziale Krise durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die scharfen Kränkungen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand.

Die Fahne des Nationalsozialismus wurde erhoben von der unteren und mittleren Offiziersschicht des alten Heeres. Die ordengeschmückten Offiziere und Unteroffiziere konnten nicht darin einwilligen, dass ihr Heroismus und ihre Leiden nicht allein fürs Vaterland umsonst hingegeben sein, sondern auch ihnen selbst keine besonderen Rechte auf Dank gebracht haben sollten; daher stammt ihr Hass gegen die Revolution und das Proletariat. Sie waren unzufrieden damit, dass die Bankiers, Fabrikanten, Minister sie wieder in die bescheidenen Stellungen von Buchhaltern, Ingenieuren, Postbeamten und Volksschullehrern schickten - daher ihr ‚Sozialismus’. An der Yser und vor Verdun hatten sie gelernt, sich und andere aufs Spiel zu setzen und im Kommandoton zu reden, was dem kleinen Mann im Hinterland mächtig imponierte. So wurden diese Leute Führer.

Zu Beginn seiner politischen Laufbahn zeichnete sich Hitler vielleicht nur durch größeres Temperament, eine lautere Stimme und selbstsichere geistige Beschränktheit aus. Er brachte in die Bewegung keinerlei fertiges Programm mit - wenn man den Rachedurst des gekränkten Soldaten nicht zählt. Hitler begann mit Verwünschungen und Klagen über die Versailler Bedingungen, über das teure Leben, über das Fehlen des Respekts vor dem verdienten Unteroffizier, über das Treiben der Bankiers und Journalisten mosaischen Bekenntnisses. Heruntergekommene, Verarmte, Leute mit Schrammen und frischen blauen Flecken fanden sich genug. Jeder von ihnen wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Hitler verstand das besser als die anderen. Zwar wusste er nicht, wie der Not beizukommen sei. Aber seine Anklagen klangen bald wie Befehl, bald wie Gebet, gerichtet an das ungnädige Schicksal. Todgeweihte Klassen werden - ähnlich hoffnungslosen Kranken - nicht müde, ihre Klagen zu variieren und Tröstungen anzuhören. Alle Reden Hitlers sind auf diesen Ton gestimmt. Sentimentale Formlosigkeiten, Mangel an Disziplin des Denkens, Unwissenheit bei buntscheckiger Belesenheit - all diese Minus verwandelten sich in ein Plus. Sie gaben ihm die Möglichkeit, im Bettelsack ‚Nationalsozialismus’ alle Formen der Unzufriedenheit zu vereinen und die Masse dorthin zu führen, wohin sie ihn stieß. Von den eigenen Improvisationen des Beginns blieb im Gedächtnis des Agitators nur das haften, was Billigung fand. Seine politischen Gedanken waren die Frucht der rhetorischen Akustik. So ging die Auswahl der Losungen vonstatten. So verdichtete sich das Programm. So bildete sich aus dem Rohstoff der ‚Führer’. [...]

Die Armseligkeit der nationalsozialistischen Philosophie hat die Universitätsprofessoren selbstverständlich nicht gehindert, mit vollen Segeln in Hitlers Fahrwasser einzulenken - als sein Sieg außer Frage stand. Die Jahre der Weimarer Ordnung waren für die Mehrheit des Professorenpöbels eine Zeit der Verwirrung und Unruhe. Die Historiker, Ökonomen, Juristen und Philosophen ergingen sich in Vermutungen darüber, welches der einander bekämpfenden Wahrheitskriterien das echte sei, das heißt, welches Lager sich zu guter Letzt als Sieger erweisen werde. Die faschistische Diktatur beseitigt die Zweifel der Fäuste und das Schwanken der Hamlets auf dem Universitätskatheder. Aus der Dämmerung der parlamentarischen Relativität tritt die Wissenschaft wiederum in das Reich des Absoluten ein. Einstein musste Deutschland verlassen. ["Porträt des Nationalsozialismus", Arbeiterpresse Verlag Essen 1999, S. 301-305]

In diesen wenigen Absätzen erklärt Trotzki unvergleichlich brillant die gesellschaftlichen und politischen Ursprünge des faschistischen Wahns in Deutschland, den Zusammenhang zwischen den objektiven, sozio-ökonomischen Prozessen und der bizarren Form, in der sie sich in der Psyche der deutschen Mittelklasse widerspiegelten. Trotzki war sicherlich ein genialer Politiker und Schriftsteller. Aber sein Genie nährte sich vom Marxismus, er zeigte, was man gestützt auf eine historisch materialistische Analyse zuwege bringen kann. Die von ihm gewährte Einsicht ist nicht nur von literarischem und historischem Interesse, als Analyse der politischen Wankelmütigkeit kleinbürgerlicher Gesellschaftsschichten und der objektiven Ursachen ihrer Empfänglichkeit für faschistische Propaganda ist sie von bleibender Bedeutung. Trotzki entmystifiziert das faschistische Phänomen. Und indem er den Faschismus verständlich macht, zeigt er, mit welchen politischen Mitteln er bekämpft und besiegt werden kann.

Kann man dasselbe über die Analyse Wilhelm Reichs sagen, der uns mitteilt:

Der genital Geschwächte, in seiner Sexualstruktur Widerspruchsvolle, muss sich ständig mahnen, seine Sexualität zu beherrschen, seine sexuelle Ehre zu wahren, tapfer gegen Versuchungen zu sein u.s.f. Den Kampf gegen die Versuchung der Onanie macht ausnahmslos jeder Jugendliche und jedes Kind durch. In diesem Kampf entwickeln sich ausnahmslos alle Strukturelemente des reaktionären Menschen. Im Kleinbürgertum ist diese Struktur am stärksten ausgebildet und am tiefsten verwurzelt. ["Die Massenpsychologie des Faschismus", S. 77f]

Welche Perspektive ergibt sich aus dieser Analyse? Welche Politik und welche politischen Initiativen müssen ergriffen werden? Ihr habt daraus den Schluss gezogen, dass die marxistische Bewegung einen Weg finden müsse, "unterdrückte libidinöse Triebe in eine fortschrittliche Richtung zu lenken", wie ihr Genosse Steve Long mitgeteilt habt. [29] Niemand hinter euch daran, eure Zeit und Energie dieser Aufgabe zu widmen. Aber das Internationale Komitee hat nicht das geringste Interesse daran, sich an diesem zweifelhaften und fehlgeleiteten Projekt zu beteiligen.

21. Eros und Tod

Ihr glaubt vielleicht, dass ihr etwas fürchterlich Gewagtes und Originelles unternehmt: dass ihr neue Ausblicke des radikalen Denkens eröffnet, wenn ihr vom Internationalen Komitee verlangt, es solle sich einem utopischen Programm zuwenden, mehr Zeit mit Spekulationen über die zukünftige Welt und weniger mit Erklärungen der Vergangenheit und Analysen der Gegenwart verbringen, sein Interesse von der Politik auf den Sex verlagern, den objektiven Prozessen der Weltwirtschaft weniger Aufmerksamkeit schenken und größeres Interesse für die subjektiven Antriebe der Individuen zeigen. In Wirklichkeit sind eure Vorschläge wenig originell, Genossen Steiner und Brenner. Marxisten haben das alles schon viele Male gehört.

Trotzki erzählt im 1908 verfassten Artikel "Vom Tod und vom Eros" von einem Gespräch, das er in einem Pariser Café mit einem jungen russischen Intellektuellen führte, einem Anhänger der künstlerischen Strömung der Décadence, der sich darüber empörte, dass die Marxisten den subjektiven Empfindungen, den sexuellen Bedürfnissen und den Todesängsten der Menschen nicht genügend Beachtung schenkten. Warum widmeten sie den zwei Momenten der Existenz nicht mehr Aufmerksamkeit, mit denen sich die Décadents ausschließlich beschäftigten, "der Ekstase zweier Körper und der Trennung von Körper und Seele"? Mit diesen Belangen befassten sich Marxisten selten und kaum, beklagte sich der Intellektuelle. "Der historische Materialismus wird bestenfalls versuchen, den Ursprung dieser oder jener gesellschaftlichen Stimmung (Erotik, Mystik) mit dem Kampf verschiedener sozialer Kräfte zu erklären. Ob er es gut oder schlecht machen wird, ist im Augenblick gleichgültig. Aber ich, dem Sie Ihre fragwürdigen Erklärungen servieren, ich werde trotzdem sterben, und all die Perspektiven, die Ihr historischer Materialismus vor mir entfalten wird, werde ich - selbst wenn ich an sie glauben sollte - trotzdem für meinen seelischen Gebrauch mit der Perspektive meines unausweichlichen Todes verbinden." Auf diese existenziellen Probleme, protestierte der Intellektuelle, gebe der Marxismus keine befriedigenden Antworten. "Aber Sie, was schlagen Sie mir vor?" fragte er Trotzki. "Eine objektive Analyse? Argumente der Unvermeidlichkeit? Eine immanente Entwicklung? Die Negation der Negationen? Das alles ist doch aber für mich - nicht für meinen Intellekt, sondern für meinen Willen - schrecklich wenig." ["Literatur und Revolution", Arbeiterpresse Verlag Essen 1994, S. 266-68]

Trotzki, der eben einen Vortrag gegen die Décadents und ihre "Anarchie des Fleisches" gehalten hatte, begann seine Antwort mit dem Einwand: "Es ist mir genau genommen unmöglich, den Kampf auf einem Terrain anzunehmen, wie Sie es sich jetzt aussuchen. Bedenken Sie: Man verlangt von mir, ich solle so nebenbei eine Glaubenslehre schaffen, die dem Intelligenzler dazu verhelfen könnte, die Isolierung durch seine Individualität zu überwinden, die Angst vor dem Tode und die prätentiöse Skepsis zu bewältigen, eine Glaubenslehre, die sein,Unbewußtes’, die Seele seiner Seele, mystisch mit der gegenwärtigen großen Epoche verbindet. Aber das ist doch - entschuldigen Sie bitte! - eine glatte Verhöhnung meines Standpunkts. Das ist etwa dasselbe, als wenn ich mir ein wissenschaftliches Referat über den geschichtlichen Ursprung der Bibel angehört hätte und dann fordern würde, der Vortragende sollte mir auf Grund der Apokalypse das Datum der zweiten Wiederkehr angeben. Mais ce n'est pas mon métier, Messieurs, könnte ich Ihnen sagen - das gehört nicht zu meinem Beruf, und damit basta." [ebd. S. 269-70]

Beim Lesen eures Dokuments kam mir die Diskussion Trotzkis mit den Décadents in den Sinn. Ihr wollt, dass wir Vorschläge für die Familie der Zukunft entwerfen, Mittel zur Befreiung unterdrückter libidinöser Triebe entdecken, neue Formen der Geschlechtergleichheit ausarbeiten und gegen die Tyrannei der genital zentrierten Sexualität anrennen. Die passende Antwort lautet: " Mais ce n'est pas mon métier, Messieurs! " All das gehört schlicht nicht zum Auftrag des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

22. Objektive Umstände, Wissenschaft und Geschichte

Ihr werft uns vor, wir suchten "unsere Erlösung in objektiven Umständen, Wissenschaft und Geschichte". Lasst mich als erstes daran erinnern, dass das Wort "Erlösung" nicht zu unserem politischen Vokabular gehört. Das gesellschaftliche Programm sieht keine Erlösung vor. Wer danach sucht, sollte zum Kirchenmann einer beliebigen Religion gehen, sie sind Spezialisten auf diesem Gebiet.

Ihr werdet sicher einwenden, der Hinweis auf die "Erlösung" sei ironisch gemeint, als polemische Spitze gegen unseren "Objektivismus". Das verstehe ich sehr gut, es ändert aber nichts daran, dass euer Kommentar zynisch und ein Ausdruck politischer Verzweiflung ist. Ihr solltet zurückverfolgen, welcher Vorgang euch, nachdem ihr die trotzkistische Bewegung verlassen habt, unter den Einfluss antimarxistischer Auffassungen gebracht hat, die in grundlegendem Gegensatz zu jenen stehen, die euch Anfang der siebziger Jahre dazu brachten, der Workers League und dem Internationalen Komitee beizutreten.

Ihr spottet über unsere Beschäftigung mit der Geschichte. [30] Aber ihr wart einst Teil einer Generation junger Studenten, die sich gerade deshalb der Workers League anschlossen, weil sie ihre Arbeit als einzige Bewegung auf die tragischen historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gründete. Unter der Vielzahl radikaler Tendenzen, die zur Zeit unseres politischen Erwachens aktiv waren, ragte das Internationale Komitee heraus, weil nur es eine Analyse des Vietnamkriegs, der Wutausbrüche in den amerikanischen Städten und der wachsenden Flut von Abeiter- und antiimperialistischen Kämpfen vorweisen konnte, die im Rahmen einer umfassenden historischen Perspektive stand. Worauf stützte sich unsere Opposition gegen den Stalinismus, den Maoismus, die Sozialdemokratie und den pablistischen Revisionismus, wenn nicht auf die Lehren aus der Geschichte?

Als wir uns zu Beginn der 1970er Jahre der Workers League anschlossen, bewaffneten uns Trotzkis Schriften mit einem Verständnis des Schicksals der Oktoberrevolution von 1917, des Bolschewismus und des internationalen Kampfs für den Sozialismus. Wir vertieften uns in das Studium der großen, strategischen Lehren, die Trotzki aus der russischen Revolution und ihren Folgen gezogen hatte. Wir befassten uns mit der anhaltenden Krise der deutschen Arbeiterbewegung von der Niederlage des Spartakus-Aufstands 1919 bis zum Sieg der Faschisten 1933, dem britischen Generalstreik 1926, den revolutionären Ereignissen in China zwischen 1925 und 1927, dem Kampf der Linken Opposition in der Sowjetunion zwischen 1923 und 1933, den verheerenden Folgen der Volksfrontpolitik in Frankreich und Spanien in den 1930er Jahren, mit den Moskauer Prozessen - und all diese gewaltigen historischen Erfahrungen flossen in die Ausbildung des Kaders der Workers League und des Internationalen Komitees ein. Lässt man die unversöhnlichen programmatischen Differenzen einmal beiseite, so unterschied sich der Kader des IKVI von dem aller anderen Bewegungen durch seine Beschäftigung mit der Geschichte, durch seine feste Überzeugung, dass das Vergangene nicht tot, ja - in Faulkners Worten - "nicht einmal vergangen" sei. Wir glaubten, dass die Geschichte lebt - in der konkreten Form der aus der Vergangenheit ererbten politischen Umstände und Widersprüche, in deren Rahmen sich die gegenwärtigen Kämpfe entwickeln, und in den Formen des politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins der Massen.

Doch nun schreibt ihr, als wäre unsere anhaltende Beschäftigung mit der Geschichte ein Anlass zum Lachen. Ihr erzählt uns zwar, der Postmodernismus sei lediglich eine im Verschwinden begriffene Marotte, aber eure eigene verächtliche Haltung gegenüber der Geschichte trägt das Kennzeichen dieser reaktionären Schule der bürgerlichen Philosophie.

Was euer geringschätziger Hinweis auf die Wissenschaft betrifft, so betrachten wir ihn als Ausdruck eurer Kapitulation vor den irrationalen, wissenschaftsfeindlichen Stimmungen, die sich unter weiten Teilen des ex-radikalen Kleinbürgertums breit gemacht haben. Wir sind bereits auf die philosophischen Wurzeln und Auswirkungen dieser Sichtweise eingegangen. Betrachten wir nun ihre praktische Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, das Geoghegan ein Kapitel seines Buches dem "Utopismus" des verstorbenen Rudolf Bahro widmet, des ostdeutschen Dissidenten, der schließlich in die Bundesrepublik emigrierte und bei den neu gegründeten Grünen aktiv wurde. Ihr erwähnt, vielleicht weil euch das peinlich ist, Geoghegans verständnisvolle Besprechung des Werks von Bahro nicht, der den Marxismus ebenso wie die zentrale historische Rolle der Arbeiterklasse ausdrücklich zurückwies. Geoghegan schreibt, dass Bahro "die in der modernen Welt vorherrschende technologisch-industrielle Fortschrittsidee zurückweist. Es handelt sich um eine eigennützige und zerstörerische Auffassung, die dazu beiträgt, alle anderen Arten der gesellschaftlichen Unterdrückung zu verewigen. Mit solchen Wegen muss gebrochen werden - zukünftige Gesellschaften müssen ‚einfacher’ sein, oder sie werden nicht existieren können..." [ Marxism and Utopia, op. Cit., S. 118]

Diese Ansichten stehen jenen sehr nahe, die du, Genosse Brenner, in deinem neo- (oder pseudo-) utopischen Manifest "Ein Ding kennen heißt seinen Zweck kennen" vorgebracht hast. Du kritisierst dort Genosse Beams, weil er das fortschrittliche Potenzial der Technologie betont, die es in einer vergesellschafteten Wirtschaft möglich macht, die Arbeitsproduktivität enorm zu erhöhen und die im Menschen steckenden Fähigkeiten zu verwirklichen, und behauptest: "Eine sozialistische Vision, im Gegensatz zu einer utilitaristischen, ordnet die Produktivität der menschlichen Entwicklung unter, und das bedeutet die Unterstützung von Ideen, die zeitweilig in direktem Gegensatz zur Maximierung des wirtschaftlichen Wachstums stehen, wie des ‚Rechts auf Faulheit’."

Du sprichst hier nicht einfach über den Missbrauch der Technologie und der menschlichen Produktivität in einem Wirtschaftssystem, in dem das Privateigentum an den Produktionsmitteln dominiert und dessen Zweck die Erzielung von Maximalprofit und die Anhäufung persönlichen Reichtums für die Mitglieder der herrschenden Elite ist. Du erklärst, es gebe "keinen Grund, weshalb die Freiheit ständiges Wirtschaftswachstum erfordert", und fügst hinzu: "Für die ersten Generationen nach der Revolution - für welche die Überwindung von weltweitem Hunger, Armut und Krankheit ohnehin Vorrang haben wird - wird das Hauptgewicht nicht so sehr auch der technologischen Veränderung liegen als auf der Konsolidierung, der Auswahl von dem, was den menschlichen Bedürfnissen am besten entspricht und ökologisch am wirkungsvollsten ist."

Es verschlägt einem die Sprache, wenn man sich die gesellschaftlichen Folgen eines Stopps des Wirtschaftswachstums und des erzwungenen Verbots technologischer Veränderung (den die technologische Entwicklung ließe sich nur durch Polizeistaatsmaßnamen einschränken) über den Zeitraum mehrerer Generationen vorstellt. Es handelt sich um ein Rezept für eine soziale Katastrophe. Die reaktionären Experimente, die verschiedene, vom Maoismus beeinflusste Bewegungen durchführten, die an die Macht gelangt waren, lassen ihre schrecklichen Folgen erahnen. Derartige Ansichten und Strategien stehen im Gegensatz zum Marxismus, der, wie Trotzki in Verratene Revolution erklärte, ausgeht "von der Entwicklung der Technik als der Haupttriebfeder des Fortschritts und das kommunistische Programm auf der Dynamik der Produktivkräfte" aufbaut. ["Verratene Revolution", Essen 1997, Arbeiterpresse Verlag, S. 97]

Dein Bemühen, die menschliche Freiheit vom Wachstum der Technik und der Produktivität zu lösen, verrät theoretische und politische Ignoranz. Hättest du Recht, dann wäre die sozialistische Revolution der erste Fall in der Geschichte, in dem die Gesellschaft die bestehenden wirtschaftlichen Organisationsformen umstürzt, um die Entwicklung der Technologie und der Arbeitsproduktivität zurückzuhalten. Trotzki schrieb dagegen: "Letztlich ist die Geschichte nichts anderes als eine Jagd nach Arbeitszeitersparnis. Die Aufhebung der Ausbeutung allein könnte den Sozialismus nicht rechtfertigen; er soll der Gesellschaft, verglichen mit dem Kapitalismus, größere Zeitersparnis gewährleisten. Ohne Verwirklichung dieser Bedingung wäre selbst die Abschaffung der Ausbeutung nur eine dramatische Episode ohne Zukunft." [ebd. S. 126]

Mittlerweile ist klar, dass dein zynischer Hinweis auf unser Vertrauen in die Möglichkeiten der Wissenschaft Ausdruck einer rückständigen, wenn nicht unumwunden reaktionären Perspektive ist. [31]

Abschließend kommen wir zu eurem verächtlichen Hinweis auf unsere Überzeugung, "objektive Umstände" lieferten die Grundlagen für die Lösung aller politischer Aufgaben. Lasst uns die Gegenfrage stellen: Wo sonst sollen sie sein? In einem Satz, der als Kritik des Internationalen Komitees gemeint ist, entlarvt ihr unabsichtlich euren eigenen Abstieg in den subjektiven Idealismus und Irrationalismus. Ihr schreibt: "Je mehr die wirklichen Probleme beim Kampf für sozialistisches Bewusstsein hinter dem Horizont der ‚objektiven Umstände’ verschwinden, desto weiter entfernt ist die Arbeiterklasse von den Aktivitäten und vom Interesse der Bewegung." Das ist Mystik, kein Marxismus. Wer vorschlägt, "hinter dem Horizont der ‚objektiven Umstände’" für Bewusstsein zu kämpfen, versucht in Wirklichkeit, der Realität zu entfliehen.

Wir leben und kämpfen in einer Welt der "objektiven Umstände". Sie sind ebenso Quell unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten wie ihrer letztendlichen Lösung. Alles, was in der Zukunft entsteht, wird ein Ergebnis der heutigen Umstände sein. Wie Marx und Engels erklärt haben, handelt es

... sich in Wirklichkeit und für den praktischen Materialisten, d.h. Kommunisten, darum ..., die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern. ...

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt Bestehenden Voraussetzung. [MEW, Band 3, S. 42 und 35]

Das Verständnis, dass die Welt, in der wir heute leben, das Potential für eine soziale Revolution in sich trägt, die sie von aller Gewalt und Inhumanität säubern wird, ist ein Quell natürlichen Optimismus’, der keiner zusätzlichen pseudo-utopischer Antidepressiva bedarf.

* * * * *

Die Ansichten, die ihr, Genossen Steiner und Brenner, in euren verschiedenen Dokumenten dargelegt habt, zeigen, wie enorm weit ihr theoretisch und politisch vom Marxismus weggedriftet seid, seit ihr die Bewegung vor fast drei Jahrzehnten verlassen habt. Wenn ihr weiter in diese Richtung geht, kann dies nur zur völligen Zurückweisung der verbliebenen politischen Überzeugungen führen, die ihr vor vielen Jahren vertreten habt. Wir hoffen, dass dies nicht der Fall sein wird. Das Internationale Komitee mahnt euch beide eindringlich, dieses Dokument sorgfältig zu studieren und eure gegenwärtigen Standpunkte zu überdenken.

Mit freundschaftlichen Grüßen,
David North
Vorsitzender der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site
Detroit, 28. Juni 2006

Ende

27 Gestatt mir den Hinweis, dass sich Genosse David Walsh in seinem äußerst wichtigen Beitrag zur letzten Sommerschule ("Marxismus, Kunst und die sowjetische Debatte über ‚proletarische Kultur’") mit der Frage der Kulturarbeit der sozialistischen Bewegung in Deutschland wie in ganz Europa befasst hat. Leider findet sich in eurem Dokument kein Hinweis auf diesen Vortrag. [zurück]

28 Bei aller Offenheit gegenüber sexuellen Fragen stand er nicht über den Vorurteilen seiner Zeit: "Je klarer darin die natürlichen heterosexuellen Neigungen zur Entwicklung gelangen, desto leichter ist der Jugendliche revolutionären Ideen zugänglich; je mehr in seiner Struktur das homosexuelle Bedürfnis wirkt und je verdrängter das Bewusstsein der Sexualität im allgemeinen, desto leichter zieht es ihn nach rechts." [ebd. S. 19] [zurück]

29 Du, Genosse Brenner, hast ein etwas anderes politisches Programm, wie du uns in deinem Utopie-Dokument eröffnest: "Lässt man die Machbarkeit (oder Wünschbarkeit) eines garantierten Orgasmus beiseite, bleibt doch ein wichtiger Punkt: Die Beendigung der Diktatur der Genitalien ist ebenso wesentlich wie die Beendigung der Diktatur der Ökonomie, um eine echt menschliche Existenz zu ermöglichen." Jeder Kommentar zu diesem Absatz würde seine komische Wirkung beeinträchtigen. [zurück]

30 In einer völligen Fehlinterpretation von Marx und Engels leitet ihr euer Dokument mit einem bekannten Zitat aus Die heilige Familie ein. Die Begründer des Marxismus erklären dort: "Die Geschichte tut nichts, sie ‚besitzt keinen ungeheuren Reichtum’,..." Ihr glaubt wohl, dieser Absatz könne als Tadel der Bedeutung interpretiert werden, die das Internationale Komitee dem Studium der Geschichte zumisst. Das ist natürlich falsch. Marx und Engels kritisieren hier die idealistischen Auffassungen der linken Hegelianer, die die Geschichte in einen sich selbst entwickelnden abstrakten Begriff verwandelten, der, wie Hegels absolute Idee, aus sich selbst heraus Ereignisse erzeugt, die lediglich Erscheinungsformen der logischen Negation dieses Begriffs selbst sind. Marx und Engels vertraten die Auffassung, der Begriff der Geschichte müsse aus einem Studium der menschlichen Gesellschaft abstrahiert werden. Das Ergebnis ihrer Kritik des Hegelschen Idealismus war die materialistische Geschichtsauffassung. [zurück]

31 Diese Frage hat noch einen weiteren Gesichtspunkt, der einer Betrachtung wert ist. Der Kampf für sozialistisches Bewusstsein erfordert, gerade in den Vereinigten Staaten, eine unermüdliche Verteidigung des wissenschaftlichen Denkens gegen jede Form von Rückständigkeit. Ich habe im Rahmen eines Vortrags, den ich im April 2005 zum Fall Terry Schiavo in New York hielt, über diese Frage gesprochen:

Ein wesentlicher Bestandteil der Bemühungen, Arbeiter politisch als Klasse zu organisieren, besteht in dem Kampf dafür, ihr intellektuelles und kulturelles Niveau zu heben, und in der Verteidigung des wissenschaftlichen Denkens gegen alle Formen von religiösem Aberglauben und Rückständigkeit - in der Verteidigung eines materialistischen marxistischen Verständnisses der sozioökonomischen Gesellschaftsbeziehungen sowie der Grundlagen und der Struktur des menschlichen Bewusstseins. Wie in der Vergangenheit muss die sozialistische Bewegung das gewaltige Ausmaß ihrer theoretischen und pädagogischen Verantwortung gegenüber der Arbeiterklasse erkennen.

Wir können uns ermuntert fühlen durch die Tatsache, dass die Wissenschaft die sozialistische Bewegung mit einem riesigen neuen Arsenal intellektueller Waffen ausstattet. Es ist ironisch, dass der wissenschaftliche Bereich, der im Zentrum der Kontroverse um Terri Schiavo stand - die Neurobiologie - heute das Feld der spektakulärsten theoretischen Durchbrüche ist. Erstaunliche Fortschritte werden gemacht in Bezug auf das Verständnis der Physiologie des Gehirns, der komplexesten aller materiellen Strukturen. Und diese wiederum untermauern das materialistische Verständnis des Bewusstseins und der Erkenntnis, das der Marxismus vertritt. Kein Wunder, dass die herrschende Elite so sehr die Arbeit der besten Wissenschaftler fürchtet, deren Entdeckungen im Bereich der Neurobiologie und verwandten Forschungsbreichen systematisch die letzten Bastionen der religiösen Mystik einreißen.

Die Arbeiterklasse kann ohne die Hilfe der Wissenschaft nicht voranschreiten. Aber die Wissenschaft selbst braucht das Voranschreiten der Arbeiterklasse. Heutzutage steht der wissenschaftliche Forscher durch das Anwachsen der politischen Reaktion in den Vereinigten Staaten unter Belagerung. Doch der isolierte Wissenschaftler kann sich selbst nicht erfolgreicher verteidigen als der individuelle Arbeiter. Letztendlich hängt der Fortschritt der Wissenschaft als Ganzer, ganz zu schweigen von der körperlichen Unversehrtheit des einzelnen Forschers, vom Wiederaufleben einer neuen revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse ab. Im tiefsten historischen Sinne vereinigt die sozialistische Bewegung unter ihrem Banner sowohl das Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit in all ihren Formen als auch den Kampf für die Gleichheit der Menschen. [zurück]

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