Die World Socialist Web Site setzt heute die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von "Marxism, History & Socialist Consciousness" von David North fort. Es handelt sich um die Antwort auf eine Kritik der Politik des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die von Alex Steiner und Frank Brenner unter dem Titel "Objektivismus oder Marxismus" verfasst wurde. Steiner und Brenner sind ehemalige Mitglieder der Workers League (der Vorgängerin der heutigen Socialist Equality Party). David North ist Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in den USA und Chefredakteur der WSWS.
Die englischsprachige Originalfassung von Norths Antwort ist kürzlich bei Mehring Books in Buchform erschienen und kann online bestellt werden.
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8. Die WSWS und "politische Enthüllungen"
Kehren wir zu eurer Kritik meiner Auffassung des Kampfes um sozialistisches Bewusstsein zurück. In Bezug auf meinen Vortrag über Lenins Was tun? stellt ihr fest (wiederum ohne mich zu zitieren): "North versucht, Lenin eine Rechtfertigung für diese Enthaltsamkeit unterzuschieben, indem er dessen Ausdruck der politischen Enthüllungen’ besonders hervorhebt. Mit diesem stellte Lenin seine Herangehensweise an die Entwicklung des Klassenbewusstseins der Konzentration der Ökonomisten auf Brot-und-Butter-Fragen entgegen. North springt auf diesen Ausdruck, da er die journalistische Existenz der WSWS zu rechtfertigen scheint. Doch es ist Unsinn zu glauben, Lenin hätte diesen Ausdruck als eine Art Allzweckrezept zum Umgang mit so komplexen Fragen wie der Entwicklung des Klassenbewusstseins verstanden."
Die schlimmste Art der Polemik, Genossen Steiner und Brenner, ist diejenige, welche die Ignoranz ihrer Leser voraussetzt oder daran appelliert. Dieser Methode bedient ihr euch. Wie ich bereits erwähnt habe, zitiert ihr meine Beiträge niemals akkurat und im richtigen Kontext. Euer Ziel ist es nicht, den Leser zu erziehen, sondern ihn zu täuschen und in die Irre zu führen. In eurer Attacke auf meine Analyse zu Was tun? zitiert ihr weder aus meinem Vortrag, noch aus Lenins bahnbrechendem Werk, mit dem ich mich beschäftige. "Politische Enthüllungen" ist kein Ausdruck, den ich "besonders hervorhebe" (d.h. übertreibe), um so eine falsche Autorität für die Arbeit der WSWS vorzutäuschen. Dieser Ausdruck erscheint in der Überschrift des dritten Abschnitts ("Politische Enthüllungen und die Erziehung zur revolutionären Arbeit’") von Kapitel III: "Trade-unionistische und sozialdemokratische Politik". "Politische Enthüllungen" ist in Lenins Wortgebrauch keine bloße Phrase, sondern ein zentraler Baustein seiner Theorie des sozialistischen Bewusstseins. Dieser Baustein wurde über mehrere Jahre hinweg im Kampf gegen den Ökonomismus entwickelt, die besondere Form, die der Bernsteinsche Revisionismus in Russland annahm. Letzterer versuchte, das Schwergewicht, das die Sozialdemokraten auf die politische Erziehung der Arbeiterklasse legten und dem Lenin und Plechanow vorrangige und überragende Bedeutung zuerkannten, durch eine Agitation über rein ökonomischer Fragen nach herkömmlicher gewerkschaftlicher Art zu ersetzen. Im dritten Abschnitt von Kapitel III schrieb Lenin:
Eine der Grundbedingungen für die notwendige Erweiterung der politischen Agitation ist aber die Organisierung allseitiger politischer Enthüllungen. Anders als durch diese Enthüllungen kann das politische Bewusstsein und die revolutionäre Aktivität der Massen nicht herangebildet werden. Darum ist diese Art Tätigkeit eine der wichtigsten Funktionen der gesamten internationalen Sozialdemokratie, denn auch die politische Freiheit beseitigt keineswegs die Sphäre, auf die diese Enthüllungen gerichtet sind, sondern verschiebt sie nur. [ Was tun? Berlin 1987, S. 98f, Hervorhebungen im Original]
Lenin fährt fort:
Das Bewusstsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Missbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewusstsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewusstsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden. [ebd., S. 99, Hervorhebungen im Original]
Am Ende desselben Absatzes stellt Lenin fest: "Diese allseitigen politischen Enthüllungen sind die notwendige und die wichtigste Vorbedingung für die Erziehung der Massen zur revolutionären Aktivität." [ebd., S. 100, Hervorhebungen im Original]
Um die Arbeit des IKVI zu verunglimpfen, sprecht ihr verächtlich von der "journalistischen Existenz der WSWS " und setzt sogar politische Enthüllungen mit bloßem "Journalismus" gleich. [11] Das ist nichts anderes als ein Appell an politische Rückständigkeit und Antiintellektualismus. Ihr attackiert das Internationale Komitee, weil es ein Organ geschaffen hat, mittels dessen es seine Analysen und sein Programm einem weltweiten Publikum sozialistischer und politisch fortschrittlicher Arbeiter, Intellektueller und Jugendlicher unterbreitet. Nur wer gegen den Kampf für Marxismus und sozialistische Ideen ist, kann eine solch wichtige Arbeit niedermachen. Würdet ihr es vorziehen, wenn die Arbeit der politischen Analyse der reaktionären bürgerlichen Presse überlassen bliebe? Oder den linksliberalen Ratgebern der Demokratischen Partei in Publikationen wie Salon oder The Nation (die in letzter Zeit beträchtliche Mittel auf die Entwicklung ihrer Website verwendet)? Oder vielleicht den unzähligen, stets desorientierten kleinbürgerlich radikalen Gruppen?
Überhaupt: Seit wann betrachten es Marxisten als unangemessen, ihrer Energie auf die Veröffentlichung eines theoretischen und politischen Organs zu konzentrieren? Wie ihr sehr wohl wisst, bedeutete die Schaffung einer politischen Zeitung, der Iskra, einen Meilenstein für die sozialistische Bewegung Russlands. Dieser Aufgabe widmete Lenin Jahre seines frühen politischen Lebens. 1901 schrieb er in seinem Artikel Womit beginnen? :
Unserer Meinung nach muss der Ausgangspunkt der Tätigkeit, der erste praktische Schritt zur Schaffung der gewünschten Organisation, schließlich der Leitfaden, an Hand dessen wir diese Organisation unbeirrt entwickeln, vertiefen und erweitern könnten - die Schaffung einer gesamtrussischen politischen Zeitung sein. Wir brauchen vor allem eine Zeitung - ohne sie ist jene systematische Durchführung einer prinzipienfesten und allseitigen Propaganda und Agitation unmöglich, die die ständige und wichtigste Aufgabe der Sozialdemokratie im allgemeinen und eine besonders dringliche Aufgabe des gegenwärtigen Moments darstellt, wo das Interesse für Politik, für Fragen des Sozialismus in den breitesten Bevölkerungsschichten wach geworden ist. ... Ohne ein politisches Organ ist im heutigen Europa eine Bewegung, die die Bezeichnung politisch verdient, undenkbar. Ohne ein solches Organ ist unsere Aufgabe - alle Elemente der politischen Unzufriedenheit und des Protestes zu konzentrieren und mit ihnen die revolutionäre Bewegung des Proletariats zu befruchten - absolut undurchführbar. Wir haben den ersten Schritt getan, wir haben in der Arbeiterklasse die Leidenschaft für "ökonomische" Enthüllungen, Enthüllungen über die Zustände in den Fabriken, geweckt. Wir müssen den nächsten Schritt tun: in allen einigermaßen bewussten Volksschichten die Leidenschaft für politische Enthüllungen wecken. [ebd., S. 11ff]
Wohl weil ihr spürt, dass eure Ablehnung von "politischen Enthüllungen" theoretisch leicht zu widerlegen ist, wechselt ihr plötzlich die Pferde und gebt zu: "Es ist nicht zu Lenins Nachteil, wenn wir feststellen, dass sich die Zeiten seit 1902 geändert haben: Die heutigen kleinbürgerlichen Radikalen sind anders als ihre ökonomistischen Vorläufer von Brot-und-Butter-Fragen weit entfernt, und ebenso von allem, was mit der Arbeiterklasse in Verbindung steht."
Hier bringt ihr es fertig, in einem einzigen Satz ein leeres Klischee, ein politisches non sequitur und eine gänzlich falsche Aussage unterzubringen. Ihr erklärt uns, "die Zeiten" hätten "sich geändert". Jawohl, wir alle wissen, dass wir im Jahr 2006 leben und nicht 1902. Doch was in der gegenwärtigen Situation hat die Bedeutung des prinzipiellen und theoretisch-fundierten Gewichts gemindert, das Lenin auf die Entwicklung des politischen Bewusstseins der Arbeiterklasse legte? Die Konzeption der politischen Enthüllungen ergab sich aus der Analyse eines Problems, das im Wesen der kapitalistischen Gesellschaft wurzelt: Der Entwicklung des Klassenbewusstseins des Proletariats. Die Bedeutung dieser Analyse könnte nur gemindert werden, wenn es in der kapitalistischen Produktionsweise und dem allgemeinen Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft zu derart grundlegenden strukturellen Veränderungen käme, dass die Entwicklung sozialistischen Klassenbewusstseins nicht mehr des zusätzlichen Impulses durch marxistisch inspirierte politische Enthüllungen bedürfte. Wäre dies aber der Fall, dann wären wir gezwungen, die Bedeutung von Lenins allgemeineren Auffassung neu zu überdenken, der zufolge sich sozialistisches Bewusstsein nicht spontan entwickeln kann, sondern von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden muss.
Ihr behauptet, ein entscheidender Unterschied zwischen den Bedingungen von heute und von 1902, der die Bedeutung politischer Enthüllungen mindere, bestehe darin, dass die heutigen kleinbürgerlichen Radikalen anders als die alten Ökonomisten "von Brot-und-Butter-Fragen weit entfernt [sind], und ebenso von allem, was mit der Arbeiterklasse in Verbindung steht."
Zunächst einmal hängt die Bedeutung von Lenins Theorie des Klassenbewusstseins nicht von der Form der politischen Aktivitäten ab, für die sich die kleinbürgerlichen Radikalen engagieren oder nicht engagieren, sondern von der objektiven Struktur und den gesellschaftlichen Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft. Und zweitens ist euer Standpunkt auch faktisch absolut falsch. Die heutige Gewerkschaftsbürokratie ist überfüllt mit Mittelklasse-Elementen, die aus den radikalen politischen Organisationen der 1960er, 70er und 80er Jahre entwichen sind. Der Vorsitzende der SEIU, Andrew Stern, ist nur einer der zahlreichen Ex-Radikalen, die in den Chefetagen der Arbeiterbürokratie Karriere gemacht haben. Die Bewegung "Neue Richtung", die den 100. Ortsverband der TWU kontrolliert, ist die Schöpfung unterschiedlicher radikaler Tendenzen. Die kleinbürgerlich-radikale Tendenz "Solidarität" ist voll und ganz in die Bürokratien verschiedener Gewerkschaften integriert. Hervorzuheben ist auch, dass keine geringere als Nancy Fields Wolforth, an die ihr euch sicher erinnern dürftet, vor kurzem in den Vorstand der AFL-CIO gewählt worden ist. [12] Soviel zu der Behauptung, die kleinbürgerlichen Radikalen stünden in keinerlei "Verbindung mit der Arbeiterklasse". Das genaue Gegenteil ist der Fall: Sie sind zu fanatischen Jüngern des Gewerkschaftsopportunismus’ in seinen reaktionärsten Formen geworden. Ihre Aktivitäten richten sich schonungslos gegen die Entfaltung einer sozialistischen politischen Aktivität in der Arbeiterklasse.
Euer nächstes Argument gegen die WSWS ist schlicht absurd. Ihr sagt uns, politische Enthüllungen sein auf einer "Unzahl radikaler Websites im Internet und in dem immer beliebteren Medium des Dokumentarfilms" zu finden. "Michael Moore ist berühmt für seine politischen Enthüllungen’, doch von Klassenbewusstsein weit entfernt - diese Lücke wird schmerzlich bewusst durch die Art und Weise, in der ein Film wie Fahrenheit 9/11 benutzt wurde, um Unterstützung für die Demokraten zu gewinnen."
Erwartet ihr, dass wir das als ernsthaftes Argument gegen die Arbeit der WSWS betrachten? Welche Schlussfolgerung sollen wir aus eurem fragwürdigen Syllogismus ziehen? 1) Die WSWS liefert politische Enthüllungen; 2) Michael Moore liefert politische Enthüllungen; daher sind 3) die Politik der WSWS und die Michael Moores identisch? Oder vielleicht so: 1) Kleinbürgerliche Radikale liefern politische Enthüllungen, 2) WSWS -Schreiber liefern politische Enthüllungen; daher sind 3) WSWS -Schreiber kleinbürgerliche Radikale?
Ihr beendet diesen Teil eures Dokuments mit der erstaunlichen Aussage: "Wäre Lenin heute am Leben, dann würde er sehr wahrscheinlich sagen: Politische Enthüllungen sind ja schön und gut, doch die schreiende Notwendigkeit für Marxisten besteht heute darin, alles zu tun, um das ungeheure Führungsvakuum bei Kämpfen wie dem Verkehrsarbeiterstreik zu füllen." Lenin als Gewerkschaftsaktivist! Wenn das wahr ist, dann könnte ebenso gut Marx, wäre er heute am Leben, die Arbitrage-Abteilung der Deutschen Bank leiten. Und Engels wäre vielleicht Vorstandsvorsitzender bei Daimler Benz. Doch dann wären diese Reinkarnationen nicht Marx, Engels oder Lenin.
9. Die Wahlen im Jahr 2004
Im folgenden Abschnitt behauptet ihr, ich sei - aufgrund meiner vermeintlich objektivistischen und mechanischen Auffassung des Bewusstseins - unfähig, die Ergebnisse der Wahlen von 2004 zu erklären, ich betrachtete das Wahlergebnis als "unerklärlich". Bei dieser einen Gelegenheit zitiert ihr tatsächlich einen vollständigen Satz, und zwar aus einem Vortrag, den ich im November 2004 über das Ergebnis der eben stattgefundenen Wahlen hielt. Ich erwähnte darin, dass Bush in den verarmtesten Bundesstaaten die Mehrheit der Stimmen gewonnen habe: "Die Behauptung, diese Wähler hätten die Republikaner unterstützt, weil ihnen Werte’ wichtiger seien als ihre eigenen materiellen Interessen, ersetzt eine wissenschaftliche soziologische Untersuchung durch Mystik." Hier endet das Zitat, und ihr verkündet (ohne Seitenangabe): "Damit bleibt völlig unverständlich, was in den Wahlen passiert ist, denn irgendwelche Werte spielten dabei ganz klar eine Rolle."
Wäre der von euch zitierte Satz alles, was ich hierzu gesagt hätte, dann wäre er als Erklärung für Bushs Wahlsieg in den verarmtesten Staaten natürlich unzureichend. Tatsächlich stand er jedoch am Anfang einer ausführlichen Analyse, die ihr unter den Tisch fallen lasst. Direkt nach jenem Satz fuhr ich fort:
Abstrakte Hinweise auf "Werte" - deren exakte Bedeutung niemand kennt - tragen wenig zur Klärung bei, weshalb Arbeiter unter den Einfluss der Republikanischen Partei und ihrer Gefolgschaft von religiösen Marktschreiern und moralisierenden Schwindlern geraten sind. Überzeugender ist die Erklärung, dass der nahezu vollständige Zusammenbruch der alten Arbeiterbewegung in Staaten, die einst Hochburgen einer militanten Gewerkschaftsbewegung waren, Millionen Arbeiter ohne Mittel zurückgelassen hat, sozialen Problemen entgegenzutreten und ihre Interessen als Klasse zu verteidigen. Betrachten wir die gesellschaftlichen Erfahrungen von lediglich einem Teil der amerikanischen Arbeiterklasse. Während großen Teilen des zwanzigsten Jahrhunderts tobten in ganz West Virginia und Kentucky sowie in bedeutenden Teilen von Virginia, Tennessee, Arkansas und Kentucky Kämpfe von Bergarbeitern, die in der Gewerkschaft UMWA organisiert waren. Die Bergarbeiter waren wohl der klassenbewussteste Teil der amerikanischen Abeiterklasse. Sie kämpften unzählige Male gegen mächtige Kohleunternehmen und trotzten dem Weißen Haus. Aber in den 1980er Jahren erlitten die Bergarbeiter eine Reihe schwerer Niederlagen, an denen der Verrat der Gewerkschaftsbürokratie die Hauptschuld trug. Die UMWA schrumpfte zu einer inhaltslosen, bedeutungslosen Hülle. Im Bergbau wurden Tausende Arbeitsplätze vernichtet.
Arbeitslos, abgeschnitten von den tiefverwurzelten sozialen Beziehungen, die das Klassenbewusstsein in generationenlangen Kämpfen aufrechterhalten hatten, entfremdet von einer Gewerkschaft, die sie im Stich gelassen hatte, wurden die militanten Arbeiter von gestern empfänglich für die geübten Seelenfänger der Missionsindustrie, die ständig auf der Suche nach neuen Kunden sind. Für die Kinder dieser Arbeiter, die vollkommen außerhalb der organisierten Arbeiterbewegung aufwuchsen und nichts oder kaum etwas über die Klassenkampftraditionen wissen, sind die Hindernisse beträchtlich, die der Entwicklung von Klassenbewusstsein im Wege stehen. Woher sollen sie die Informationen und Einsichten erhalten, die zur Entwicklung einer kritischen Haltung gegenüber der bestehenden Gesellschaft beitragen und das Verständnis fördern, dass eine bessere und humanere Gesellschaft - in dieser Welt und in ihrer Lebenszeit - möglich ist? Sicher nicht von den bestehenden politischen Parteien und aus der Jauchegrube der Massenmedien.
Das heißt nicht, dass der durchschnittliche amerikanische Arbeiter die Propaganda schluckt, der ihn die Massenmedien und der Parteiapparat der Republikaner pausenlos aussetzen. Nicht auf Dauer. Er sieht genug vom Leben, um zu wissen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Wenn ein Arbeiter von "Werten" spricht, haben sie für ihn eine ganz andere Bedeutung als für Enron-Chef Kenneth Lay oder für George Bush.
Es gibt mittlerweile mehrere Berichte, die anzweifeln, ob die "Werte"-Frage in der Wahl 2004 wirklich eine so große Rolle gespielt hat. Scheinbar waren die Umfrageergebnisse, auf denen die Behauptungen unmittelbar nach der Wahl beruhten, entweder irreführend oder sie wurden falsch interpretiert. Ich bin sicher, dass das zutrifft. Aber wichtiger ist, dass die "Werte"-Frage in einem politischen Vakuum hochkam, das entstand, weil keine der beiden Parteien die tatsächlichen sozialen, ökonomischen und polischen Interessen der breiten Masse der amerikanischen Arbeiter artikuliert hat. Die Demokraten, die Republikaner und die Massenmedien bilden zusammen einen großen Chor, der entzückte Hymnen über den Ruhm des amerikanischen Kapitalismus singt.
Dabei handelt es sich nicht um eine vorübergehende Schwäche, die durch eine Umschichtung des Personals oder einen besseren Kandidaten überwunden werden kann, sondern um ein Ergebnis der Evolution des amerikanischen Kapitalismus - der außerordentlichen Konzentration des Reichtums in relativ wenigen Händen, der extremen sozialen Ungleichheit, des raschen Niedergangs der traditionellen "Mittelschicht", die einst als Schiedsrichter im Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Arbeitern diente und eine wichtige Basis für den Sozialreformismus bildete, und schließlich des Verschwindens jeder bedeutenden Gruppe innerhalb der herrschenden Elite, die ernsthaft für den Erhalt traditioneller bürgerlich-demokratischer Herrschaftsformen eintritt. [Nach den Wahlen in den USA: Perspektiven und Aufgaben der Socialist Equality Party]
Es ist wohl eindeutig, dass ich das Ergebnis der Wahlen keineswegs als "unerklärlich" betrachtete. Ihr habt es ganz einfach vorgezogen, meine Erklärung nicht zu zitieren. Aber damit ist der Fälschung noch kein Ende gesetzt: Ihr behauptet, ich nähme als "mechanischer Materialist" an, das Bewusstsein würde "die Realität, durch die es geformt wurde, akkurat verstehen, d.h. die objektiven Bedingungen übersetzten sich direkt in ein korrektes Verständnis dieser Bedingungen". Eine solche Auffassung ist natürlich unrichtig. Doch wie ihr genau wisst, habe ich so etwas nie gesagt. In Wahrheit widmete ich im vergangenen Sommer einen beträchtlichen Teil meines dritten Vortrages der Erklärung, warum das spontan in der Arbeiterklasse entstehende Bewusstsein kein sozialistisches Bewusstsein ist. Als Folge eurer skrupellosen Art zu polemisieren, eurer Bereitschaft, dem politischen Gegner Positionen unterzujubeln, die das Gegenteil dessen sind, was er tatsächlich glaubt und gesagt hat, sehe ich mich gezwungen, erneut einen ausgedehnten Auszug aus meinem eigenen Vortrag zu zitieren:
In welchem Maße sind sich Menschen, die arbeiten gehen, des riesigen Netzes weltweiter Wirtschaftsverbindungen bewusst, von denen ihre Arbeit ein winziger Bestandteil ist? Man kann mit gutem Grund argumentieren, dass selbst der intelligenteste Arbeiter nur eine vage Vorstellung von den Beziehungen seiner Arbeit oder seines Unternehmens zu den immens komplexen Prozessen der modernen transnationalen Produktion und des weltweiten Waren- und Dienstleistungshandels hat. Der einzelne Arbeiter ist auch nicht in der Lage, die Mysterien der internationalen kapitalistischen Finanzen zu durchdringen, die Rolle der globalen Hedge Fonds, und die geheimen und (selbst für Experten auf diesem Gebiet) oft rätselhaften Wege, auf denen Dutzende Milliarden Dollar an Finanzvermögen täglich über internationale Grenzen hinweg bewegt werden. Die Realitäten der modernen kapitalistischen Produktion, ihres Handels und ihrer Finanzen sind so komplex, dass Unternehmensleiter und Spitzenpolitiker auf die Analyse und die Ratschläge größerer Forschungseinrichtungen angewiesen sind, die wiederum in den meisten Fällen uneins sind über die Interpretation der zur Verfügung stehenden Daten.
Aber das Problem des Klassenbewusstseins beschränkt sich nicht auf die offensichtliche Schwierigkeit, die komplexen Phänomene des modernen Wirtschaftslebens zu verstehen. Grundlegender und wesentlicher ist, dass die exakte Beschaffenheit der gesellschaftlichen Beziehung zwischen einem einzelnen Arbeiter und seinem Arbeitgeber, ganz zu schweigen von der zwischen der gesamten Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, nicht auf der Grundlage von Sinneseindrücken und unmittelbarer Erfahrung zu begreifen sind.
Selbst ein Arbeiter, der auf der Basis seiner eigenen bitteren Erfahrung davon überzeugt ist, dass er ausgebeutet wird, kann die zugrunde liegenden sozioökonomischen Mechanismen dieser Ausbeutung nicht wahrnehmen. Darüber hinaus ist der Begriff der Ausbeutung nicht leicht zu verstehen, und er lässt sich erst recht nicht direkt aus dem instinktiven Gespür ableiten, dass man nicht ausreichend bezahlt wird. Der Arbeiter, der sich um eine Stelle bewirbt, nimmt nicht wahr, dass er seine Arbeitskraft zum Kauf anbietet, oder dass die einzigartige Qualität dieser Arbeitskraft in ihrer Fähigkeit besteht, einen Wert zu produzieren, der größer ist als der Preis (der Lohn), zu dem sie gekauft wird, und dass der Profit aus dieser Differenz zwischen den Kosten der Arbeitskraft und dem durch sie erzeugten Wert gewonnen wird.
Wenn der Arbeiter eine Ware für eine bestimmte Summe Geld kauft, ist er sich auch nicht bewusst, dass das Wesen dieses Austauschs nicht eine Beziehung zwischen Dingen ist (ein Mantel oder irgendeine andere Ware gegen eine bestimmte Summe Geld), sondern eine zwischen Menschen. Er versteht das Wesen des Geldes nicht, wie es historisch als Ausdruck der Wertform entstanden ist und wie es in einer Gesellschaft, in der die Produktion und der Austausch von Waren verallgemeinert worden ist, dazu dient, die zugrunde liegenden sozialen Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft zu verschleiern.
Das eben Gesagte könnte als eine allgemeine Einführung in die theoretische und erkenntnistheoretische Grundlage von Marx’ wichtigstem Werk, dem Kapital, dienen. Im Schlussteil des zentralen ersten Kapitels im Band 1 führt Marx seine Theorie des Warenfetischismus ein, die die objektive Quelle der Mystifizierung sozialer Beziehungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erklärt - d.h. den Grund, warum in diesem spezifischen Wirtschaftssystem die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen notwendigerweise als Beziehungen zwischen Dingen erscheinen. Es ist auf der Grundlage von Sinneswahrnehmung und unmittelbarer Erfahrung für Arbeiter nicht offensichtlich, dass jeder gegebene Warenwert der kristallisierte Ausdruck der in ihr enthaltenen menschlichen Arbeitskraft ist, die im Produktionsprozess aufgewendet wurde. Die Entdeckung des objektiven Wesens der Warenform bedeutete einen historischen Meilenstein im wissenschaftlichen Denken. Ohne diese Entdeckung hätten weder die objektiven sozioökonomischen Grundlagen des Klassenkampfes noch ihre revolutionären Konsequenzen verstanden werden können.
So sehr der Arbeiter die gesellschaftlichen Folgen des Systems, in dem er lebt, verabscheuen mag, ist er nicht in der Lage, auf der Grundlage unmittelbarer Erfahrung die Ursprünge und internen Widersprüche dieses Systems oder den geschichtlich begrenzten Charakter seiner Existenz zu begreifen. Das Verständnis der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, der ausbeuterischen Beziehung zwischen Kapital und Lohnarbeit, der Unvermeidlichkeit des Klassenkampfes und seiner revolutionären Konsequenzen wurde auf der Grundlage echter wissenschaftlicher Arbeit erlangt, mit der der Name Marx’ für immer verbunden sein wird. Die Kenntnisse, die aus dieser Wissenschaft hervorgingen, und die Methode der Analyse, mit deren Hilfe dieses Wissen erlangt wurde und erweitert wird, müssen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden. Das ist die Aufgabe der revolutionären Partei.
Diese Absätze (wörtlich zitiert aus den Vorträgen des vergangenen Sommers) vertreten einen Standpunkt, der das genaue Gegenteil dessen ist, was ihr mir unterstellt.
10. Marxismus und Aufklärung
Eine prinzipientreue Einstellung zur Polemik erfordert die akkurate Darstellung der Argumente des Gegners. Dass ihr dazu nicht in der Lage seid, dass ihr euch gezwungen seht, den Leser in die Irre zu führen und Zerrbilder des Gegners zu geben - in einem Wort: zu lügen - hat an sich schon ernsthafte und verstörende politische Implikationen. Trotzki wies darauf hin, dass die Lüge im politischen Leben eine unverzichtbare Funktion erfüllt: Man bedient sich ihrer, um gesellschaftliche Interessen zu verschleiern und Schwächen und Widersprüche politischer Standpunkte zu verbergen. In euerm Falle ergeben sich eure unehrlichen Methoden aus dem Bemühen, öffentlich als Marxisten dazustehen, obgleich ihr die theoretischen und politischen Grundlagen des Marxismus über Bord geworfen habt - und das keineswegs unbewusst. Eure Differenzen zum Internationalen Komitee drehen sich nicht einfach um vereinzelte Programmpunkte, sondern vielmehr um die grundlegendsten Fragen der philosophischen Weltsicht, auf die sich der Kampf für den Sozialismus gründet.
Bevor ihr nun aufspringt, um gegen diese "Verunglimpfung" eurer revolutionären Ehre zu protestieren, erlaubt mir zunächst aufzuzeigen, dass euer Dokument Passagen beinhaltet, die den welthistorischen Sichtweise des Marxismus völlig fremd sind. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel dafür ist eure Aussage, meine Kritik des Postmodernismus diene dazu, "einer unkritischen Verteidigung der Aufklärung das Wort zu reden".
Die Passage aus meinem ersten Vortrag, auf die ihr euch bezieht (ohne sie zu zitieren), findet sich in dem Abschnitt mit dem Titel "Historisches Bewusstsein und Postmodernismus". Ich sage darin folgendes:
Die Geschichtsauffassung, die wir vertreten, räumt der Kenntnis und theoretischen Aneignung historischer Erfahrungen eine entscheidende Rolle im Kampf für die Befreiung des Menschen ein. Sie steht damit in einem unversöhnlichen Gegensatz zu allen vorherrschenden Strömungen des bürgerlichen Denkens. Der politische, wirtschaftliche und soziale Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft spiegelt sich auch in ihrem intellektuellen Niedergang wieder, wenn ihm dieser nicht sogar vorangeht. In Zeiten der politischen Reaktion, sagte Trotzki einmal, fletscht die Ignoranz die Zähne.
Die gewieftesten und zynischsten akademischen Vertreter des heutigen bürgerlichen Denkens, die Postmodernisten, treten für eine ganz spezifische Form der Ignoranz ein: Für die Ignoranz und Verachtung der Geschichte. Ihre ausgeprägte Ablehnung der Bedeutung der Geschichte und der entscheidenden Rolle, die ihr von allen fortschrittlichen Schulen des gesellschaftlichen Denkens zugeschrieben wird, ist aufs Engste mit einem weiteren Element ihrer theoretischen Konzeption verknüpft: Der Leugnung und ausdrücklichen Zurückweisung der objektiven Wahrheit als wichtige oder sogar Kernfrage philosophischer Untersuchung.
Was ist Postmodernismus? Ich möchte hierzu einen prominenten akademischen Verteidiger dieser Strömung zitieren, Professor Keith Jenkins:
"Wir leben heute im generellen Zustand der Postmoderne. Wir haben gar keine andere Wahl. Die Postmoderne ist nicht eine,Ideologie’ oder ein Standpunkt, den wir einnehmen können oder nicht, die Postmoderne ist ganz einfach unser Zustand: Sie ist unser Schicksal. Und dieser Zustand ist durch das generelle Versagen des sozialen Experiments verursacht worden, das wir Moderne nennen - ein Versagen, das wir heute, da sich Staub über das 20. Jahrhundert senkt, sehr klar ausmachen können. Es ist, gemessen an seinen eigenen Bedingungen, ein generelles Versagen des um das 18. Jahrhundert in Europa begonnen Versuchs, durch den Einsatz von Vernunft, Wissenschaft und Technik ein Niveau des persönlichen und gesellschaftlichen Wohlergehens in Gesellschaftsformationen zu erreichen, von denen man sagen könnte, sie hätten sich bemüht Menschenrechtsgemeinschaften’ zu werden, indem sie Gesetze verabschiedet haben, die auf eine immer umfassendere Emanzipation ihrer Bürger oder Untertanen abzielten. Reale’ Voraussetzungen, wie sie zur Untermauerung des Experiments der Moderne angenommen wurden, gibt es weder heute - noch hat es sie je zuvor gegeben."
Ich möchte diese Passage - um in der Sprache der Postmodernisten zu bleiben - "dekonstruieren". Seit mehr als zweihundert Jahren, seit dem 18. Jahrhundert hat es Menschen gegeben, die an den Fortschritt und an die Möglichkeit der Vervollkommnung des Menschen glaubten. Inspiriert durch die Wissenschaft und die Philosophie der Aufklärung haben sie nach einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft gestrebt. Dabei haben sie sich auf ein, wie sie glaubten, wissenschaftliches Verständnis objektiver historischer Gesetzmäßigkeiten gestützt. Diese Menschen haben die Geschichte als gesetzmäßigen Prozess betrachtet, gelenkt von sozioökonomischen Kräften, die außerhalb des Bewusstseins des Individuums existieren, die der Mensch jedoch entdecken, verstehen und zum Wohle des menschlichen Fortschritts anwenden kann.
All diese Vorstellungen, so erklären uns die Postmodernisten, haben sich als naive Illusionen erwiesen. Wir wissen es heute besser: Es gibt keine "Geschichte" mit großem G. Es gibt sie nicht einmal im Sinne eines objektiven Prozesses. Es gibt lediglich subjektive "Erzählungen" oder "Diskurse" mit unterschiedlichem Vokabular, das dem einen oder anderen subjektiv bestimmten Zweck dient, was immer dieser Zweck sein mag.
So gesehen hat allein schon die Vorstellung, "Lehren" aus der "Geschichte" ziehen zu wollen, keine Berechtigung. Es gibt nichts, das man studieren, nichts, das man lernen könnte. Jenkins erklärt: "Wir müssen also verstehen, dass wir in gesellschaftlichen Formationen leben, die keine berechtigte ontologische, epistemologische oder ethische Voraussetzung dafür bieten, dass unsere Auffassungen mehr wären als eine auf sich selbst bezogene (rhetorische) Konversation... Folglich erkennen wir heute, dass es niemals so etwas wie eine Vergangenheit gegeben hat, die eine Art Wesen zum Ausdruck bringt, noch wird es diese jemals geben."
In eine verständliche Sprache übersetzt sagt Jenkins: 1. Das Funktionieren menschlicher Gesellschaften, vergangener oder zukünftiger, kann nicht in Form objektiver Gesetze verstanden werden, die entdeckt werden können oder auf ihre Entdeckung warten. 2. Es gibt keine objektive Grundlage für das, was Menschen über die Gesellschaft, in der sie leben, denken, sagen oder tun. Leute, die sich Historiker nennen, mögen diese oder jene Interpretation der Vergangenheit befürworten. Doch das Ersetzen einer Interpretation durch eine andere bedeutet keinerlei Fortschritt in Richtung größerer objektiver Wahrhaftigkeit im Vergleich zu dem zuvor Geschriebenen - denn es gibt keine objektive Wahrheit, der man näher kommen könnte. Die eine Weise, über die Vergangenheit zu sprechen, löst lediglich die andere ab - aus Gründen, die den subjektiv wahrgenommenen Zwecken des Historikers entsprechen.
Die Vertreter dieser Sichtweise verkünden das Ableben der Moderne, doch sie weigern sich, den Komplex historischer und politischer Urteile zu hinterfragen, auf dem ihre Schlüsse beruhen. Dabei vertreten sie politische Standpunkte. Diese liegen ihren theoretischen Ansichten zugrunde und finden in diesen Ausdruck. Professor Hayden White, einer der führenden Vertreter des Postmodernismus, erklärt ausdrücklich: "Ich bin heute gegen Revolutionen, ganz gleich ob sie von oben’ oder von,unten’ in der sozialen Hierarchie kommen und ob ihre Führer behaupten, sie verfügten über eine Wissenschaft der Gesellschaft und Geschichte, oder ob sie die politische,Spontaneität’ hochleben lassen."
Eine philosophische Auffassung verliert durch die persönlichen politischen Ansichten ihrer Vertreter nicht automatisch ihre Legitimation. Doch die anti-marxistische und anti-sozialistische Stoßrichtung des Postmodernismus ist so augenscheinlich, dass es praktisch unmöglich ist, seine theoretischen Auffassungen von seiner politischen Perspektive zu trennen.
Ihr greift diese Analyse an, indem ihr erwidert:
Jeder, der das von der Aufklärung hinterlassene Erbe der Vernunft verteidigt, ist fortschrittlich, und jeder, der dagegen ist, ist rückschrittlich. Doch diese krude Dichotomie verdunkelt die bedeutende Tatsache, dass der Marxismus im Kampf um die Vernunft an zwei Fronten kämpft: Gegen den Irrationalismus (ob nun in Form des religiösen Mystizismus’ oder des Nihilismus Nietzsche-Heideggerscher Prägung und seiner postmodernen Spielarten), doch genauso gegen die weitaus weiter verbreitete "Vernunft" der bürgerlichen Gesellschaft, die die Klassenherrschaft rechtfertigt (besonders in Form von Pragmatismus und Empirismus). Bezüglich letzterer bedeutet der Marxismus eine dialektische Negation der Aufklärung: Marx streifte den Philosophen der Aufklärung ihr "vernünftiges" Kleid ab und deckte damit ihre Rechtfertigung einer neuen Form von Klassenunterdrückung auf.
Das ist ein völliges Durcheinander. Zunächst ist euer Gebrauch des Begriffs "jeder" ausreichend obskur, um zu verhindern, dass der Leser klar feststellen kann, auf welche Tendenzen ihr euch bezieht. In dem Abschnitt, dem ihr widersprecht, griff ich die grundlegende Konzeption des Postmodernismus an, laut der das Projekt der "Moderne", das sich auf den Glauben an den menschlichen Fortschritt gründet - ein Glaube, der auf die Aufklärung zurückgeht und sich bis weit ins 20. Jahrhundert erstreckt - versagt hat. Eure Antwort auf diesen Abschnitt meines Vortrages kann nur bedeuten, dass ihr euch mit den Standpunkten identifiziert, die ich kritisiere. Ihr gebt aber nicht an, welche Verteidiger des aufklärerischen Erbes der Vernunft und des Vertrauens in die Möglichkeit menschlichen Fortschritts ihr für rückschrittlich, und welche seiner Gegner ihr für fortschrittlich haltet. Und überhaupt, wenn ich fragen darf, in welchen Schriften haben die großen Marxisten die Denker der Aufklärung verurteilt oder ihre Gegner gepriesen?
Ihr erweckt in diesem Absatz grob vereinfachend den Eindruck, die Vernunft der Aufklärer habe lediglich der Rechtfertigung der Klassenunterdrückung gedient, und verschmelzt die gewaltigen theoretischen Auseinandersetzungen, die das intellektueller Fundament der großen bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts legten, mit der sozial-ökonomischen Wirklichkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften, die schließlich aus diesen Aufständen hervorgingen, zu einem einzigen undifferenzierten und unhistorischen Prozess. Doch ungeachtet der historisch bedingten Illusionen der Denker der Aufklärung - insbesondere ihrer Vorstellung, die Befreiung des "Dritten Standes" bedeute die Befreiung der ganzen Menschheit - bereitete ihre theoretische Arbeit schließlich den intellektuellen und (innerhalb gewisser Grenzen) auch moralischen Boden für den sozialistischen Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft. Die revolutionären Denker des 17. und 18. Jahrhunderts schmiedeten die Waffen, welche die neue sozialistische Bewegung und die aufkommende Arbeiterklasse schließlich gegen die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts richten sollten. Der Verrat der Ideale der Aufklärung durch die Bourgeoisie in der Zeit nach der Französischen Revolution lieferte einen wichtigen theoretischen Anstoß zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Darüber hinaus ist eure Behauptung, die Philosophen der Aufklärung hätten die "Rechtfertigung einer neuen Form von Klassenunterdrückung" geliefert, grotesk einseitig und im Grunde falsch. Ihr ignoriert die implizit kommunistischen Theorien, die von Aufklärern vertreten wurden, und scheint euch nicht bewusst zu sein, dass die materialistische Philosophie der Aufklärung ungeachtet ihrer Beschränktheit zur Zurückweisung von Eigentum und Ungleichheit neigte. Wie Marx in seinem Kommentar zum französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts darlegte:
Es bedarf keines großen Scharfsinnes, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einflusse der äußern Umgebung auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen. [Karl Marx u. Friedrich Engels, Die heilige Familie, Berlin 1973, S. 138]
Eure Bezugnahme auf die "Vernunft" der bürgerlichen Gesellschaft - die zu bekämpfen ihr Marxisten aufruft - ist konfus und irreführend. Im Verlaufe der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und dem Anwachsen der Klassengegensätze tendierte die Bourgeoisie zunehmend dazu, die "Vernunft" zugunsten subjektivistischer und irrationalistischer Philosophien aufzugeben. Der Niedergang des Stellenwerts Hegels im Gefolge der gescheiterten Revolutionen von 1849-49 und seine Ersetzung durch Schopenhauer und später Nietzsche als Galionsfiguren der Philosophie waren Ausdruck der Zurückweisung der Vernunft durch die Bourgeoisie. Marxisten haben daher stets für sich beansprucht, das revolutionäre Erbe der Vernunft der Aufklärung zu verkörpern - im Sinne der Fähigkeit des Menschen, auf der Grundlage von wissenschaftlicher Einsicht in die Gesetze von Natur und Gesellschaft der Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit durch sein Handeln ein Ende zu setzen. Dieses Erbe beschwor Trotzki zum Ende seiner großartigen Rede vor der Untersuchungskommission zu den Moskauer Prozessen unter Vorsitz des amerikanischen Philosophen John Dewey:
Geschätzte Kommissionsmitglieder! Die Erfahrung meines Lebens, das keinen Mangel an Erfolg oder Niederlagen zu beklagen hatte, hat nicht nur meinen Glauben an die klare und helle Zukunft des Menschen nicht zerstört, sondern diesem Glauben im Gegenteil eine unbeugsame Kraft verliehen. Dieser Glaube an Vernunft, an Wahrheit und an menschliche Solidarität, den ich im Alter von achtzehn Jahren mit mir in die Arbeiterviertel der russischen Provinzstadt Nikolajew nahm - diesen Glauben habe ich mir voll und ganz bewahrt. [ The Case of Leon Trotsky, New York 1969, S. 584f, aus dem Englischen ]
Die Tradition, in der ihr euch mit euren Ausfällen gegen die Aufklärung stellt, hat ihre Ursprünge nicht bei Marx, sondern bei den demoralisierten kleinbürgerlichen Theoretikern der Frankfurter Schule - besonders den Konzeptionen, die zuerst von Max Horkheimer und Theodor Adorno in Dialektik der Aufklärung vorgestellt wurden. In diesem Werk wird die Aufklärung des 18. Jahrhunderts verantwortlich für die Katastrophen des 20. gemacht. Menschliche Vernunft, Wissenschaft, Technologie, ja selbst der soziale Fortschritt werden als Faktoren gelistet, die zum Triumph des Faschismus beitrugen. Die zentralen Argumente aus Dialektik der Aufklärung sind zusammengefasst in dem Vortrag, den Genosse Peter Schwarz vergangenen Sommer in Ann Arbor hielt. Euer Dokument enthält keinen Hinweis auf seine Analyse. Begriffe wie "dialektische Negation" und "dialektischer Bruch" fügen euerm Angriff auf die Aufklärung weder Stichhaltigkeit noch Tiefe hinzu. Sie zeigen vielmehr, wie ihr eine pseudo-hegelianische Phraseologie im Dienste von Auffassungen benutzt, die dem Marxismus feindlich gegenüberstehen.
11 Man kann hier berechtigterweise fragen, seit wann Journalismus, die Tätigkeit so vieler revolutionärer Marxisten, ein Schimpfwort ist. Das wenige Geld, das Marx verdiente, stammt aus seiner journalistischen Arbeit. Vor 1917 gab Trotzki "Journalist" als Berufsbezeichnung an. Zahllose andere Marxisten übten diesen Beruf aus. Man kann frei nach Wilde sagen, journalistische Tätigkeit sei weder moralisch noch amoralisch. Die Frage ist, ob man sie gut oder schlecht ausübt, als gewissenhafter Beobachter und Analytiker, oder als Propagandist und Apologet der Interessen der herrschenden Elite. [zurück]
12 Ihr Werdegang bekräftigt voll und ganz die Einschätzung, die wir in der von mir und dir, Genosse Brenner, vor über dreißig Jahren gemeinsam verfassten Broschüre Die Vierte Internationale und der Renegat Wolforth bezüglich Fields und ihrem Ex-Mann Tim Wolforth gemacht haben. Ich möchte dir herzlich zur erneuten Lektüre dieser Arbeit raten. [zurück]