Ein Terroranschlag in der türkischen Stadt Semdinli, der offenbar von Agenten eines staatlichen Geheimdiensts verübt wurde, hat der Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass in der kurdischen Region der Türkei nach wie vor Todesschwadronen der Sicherheitskräfte operieren. Seither reißen die Proteste nicht ab.
Nach jüngsten Meldungen gab es in der im Südosten gelegenen Stadt Yüksekova am Dienstag eine Demonstration von mehreren Tausend aufgebrachten Kurden. Dabei wurden drei Demonstranten von der Polizei getötet. Es gab zahlreiche Verletzte, darunter auch einige Polizisten. Am Mittwoch gab es bei Protesten in der Stadt Hakkari einen weiteren Toten.
Entzündet hatte sich die Protestwelle am Mittwoch letzter Woche an einem Vorkommnis in der Stadt Semdinli in der südöstlichen, überwiegend kurdisch bewohnten Provinz Hakkari. Die Provinz liegt im Dreiländereck an den Grenzen zum ebenfalls vorwiegend kurdischen Nordirak und dem Iran.
Auf einen Buchladen wurde ein Anschlag mit einer Handgranate verübt. Zeugen behaupten, sie hätten den Täter beobachtet. Der Mann sei am helllichten Tag aus einem Auto gesprungen, habe die Granate geworfen und sei dann schnell wieder zum Auto gelaufen. Als der Bombenwerfer gemeinsam mit zwei weiteren Personen im Auto verschwinden wollte, wurde das Fahrzeug von aufgebrachten Passanten umzingelt und die drei Insassen herausgezerrt.
Der Buchladen gehört Seferi Yilmaz, einem bekannten Sympathisanten der kurdisch-nationalistischen PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), der wegen Mitgliedschaft in der Organisation 15 Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Ein Mensch starb, aber Yilmaz, das eigentliche Ziel des Anschlags, überlebte.
Das Auto wurde von der Menschenmenge gestoppt, obwohl die Insassen sich einen Fluchtweg freizuschießen versuchten. Die Männer wurden festgehalten, der Kofferraum des Wagens aufgebrochen. Darin lagen drei Kalaschnikows mit elf Magazinen, zwei Handgranaten der türkischen Armee und Identitätsdokumente: ein Ausweis des JITEM (Geheimdienst der Gendarmerie) auf den Namen Ali Kaya sowie Urlaubserlaubnisse des türkischen Militärs.
Ebenfalls in dem Wagen befand sich eine Namensliste. Einige Namen seien mit dem Hinweis "Freund" versehen gewesen, andere mit der Bezeichnung "Feind", berichtet die Zeitung Radikal. Als "Feind" war neben kurdischen Politikern, Intellektuellen und Nichtregierungsorganisationen auch Yilmaz aufgeführt, was dafür spricht, dass es sich um eine "Todesliste" handelt. Dazu ein akribischer, handgezeichneter Straßenplan, in dem Yilmaz’ Buchladen markiert war.
"Als Touristen waren wir bestimmt nicht dort", sagte Kaya später über seine Anwesenheit am Tatort in Semdinli. Mit dem Anschlag habe er aber nichts zu tun. Kaya und der zweite JITEM-Mann, Özkan Ildeniz, befanden sich, kurze Zeit nachdem sie die Polizei vor der aufgebrachten Menge gerettet hatte, wieder auf freiem Fuß.
In Haft blieb lediglich der Bombenwerfer namens Veysel Ates, ein früheres PKK-Mitglied, das zu den Sicherheitskräften übergelaufen ist, sowie ein Soldat, der bei der staatsanwaltlichen Untersuchung von Kayas Wagen das Feuer eröffnet und einen weiteren Menschen getötet haben soll.
Der 32-jährige Kaya ist Pressebereichten zufolge im Kurdengebiet für die türkische Armee ein wichtiger "Spezialist". Er spricht fließend Kurdisch, kennt sich in der Region gut aus und soll jahrelange Erfahrung mit Geheimaktionen gegen vermeintliche oder tatsächliche PKK-Anhänger haben. Yasar Büyükanit, Oberkommandierender des Heeres, lobte ihn als "sehr wertvollen Soldaten", den er persönlich gut kenne und der unter ihm gedient habe.
Mittlerweile sind Hinweise aufgetaucht, wonach auch andere Anschläge in der Region, die von den Medien ursprünglich der PKK zugeschrieben wurden, von Todesschwadronen der Sicherheitskräfte verübt worden sein könnten. Esat Canan, Abgeordneter aus Semdinli, der die oppositionelle CHP im türkischen Parlament vertritt, erklärte gegenüber der Zeitung Radikal, es müssten alle Explosionen der letzten Monaten untersucht werden.
"Der Untersuchungsbericht muss veröffentlicht werden", forderte er. "Dann wird klar werden, dass auch diese Handgranate aus der [staatlichen] Produktion MKE stammt und von gleicher Bauart ist, wie die im Kofferraum [des Tatfahrzeuges in Semdinli] sichergestellten Handgranaten. Es hat 18 Bombenanschläge gegeben. Die meisten davon habe ich untersucht. In Semdinli gab es sechs Explosionen, in Yüksekova acht und in Hakkari vier. Keiner der Täter ist gefasst worden. Die meisten richteten sich gegen Geschäftszentren, gegen Geschäfte reicher Personen."
In vielen türkischen und kurdischen Medien wurde an die Zeit von Anfang bis Mitte der 1990er Jahre erinnert. Damals hatte die PKK unter den türkischen Kurden erheblichen Einfluss gewonnen. Der Staat reagierte darauf zum einen mit einer Politik der verbrannten Erde. Die Armee brannte Tausende kurdischer Dörfer nieder und vertrieb ihre Einwohner, um der PKK die Basis zu entziehen.
Gleichzeitig operierten Todesschwadronen, um das zivile Umfeld der PKK durch systematische Morde an kurdischen Geschäftsleuten, Intellektuellen und Politikern zu zerstören. Opfer wurden auch Linke, Liberale und Gewerkschafter, die dem Staat kritisch gegenüberstanden.
Die Todesschwadronen bestanden aus Angehörigen des JITEM, PKK-Abschwörern, Spezialeinheiten von Polizei und Armee sowie gewöhnlichen Mafia-Killern aus dem Umfeld der faschistischen "Grauen Wölfe". Unter der schützenden Hand des Staates beschränkten sie sich nicht auf politische Morde, sondern schalteten sich auch in Schutzgelderpressungen und des Drogenhandel ein. Gerade die Grenzregion Hakkari liegt auf einer der Hauptrouten des Drogentransports.
Der bekannteste Vertreter dieser so genannten "Konterguerilla" ist Mehmet Agar. Er sitzt heute im Parlament, einer der in Semdinli festgenommenen JITEM-Leute soll ihn umgehend nach der Verhaftung angerufen und um Hilfen gebeten haben. Von Agar - 1993 bis 95 der oberste Polizeichef der Türkei und später auch Innen- und Jusizminister - ist der Ausspruch überliefert: "Es gibt tausend geheime Operationen. Wenn ich spräche, würde der Staat erschüttert."
Die engen Beziehungen zwischen den Sicherheitskräften, rechten Politikern und der Mafia kamen schließlich Ende 1996 im sogenannten Susurluk-Skandal ans Licht. Nach einem tödlichen Autounfall nahe der Stadt Susurluk kam heraus, dass in dem verunglückten Wagen unter anderem der konservative Parlamentsabgeordnete Sedat Bucak, der faschistische Mafia-Killer Abdullah Catli sowie Hüseyin Kocadag, Vize-Polizeichef von Istanbul, gesessen hatten. In dem Auto fand man außerdem Waffen, Schalldämpfer und Drogen.
Die darauf folgenden Untersuchungen ergaben zwar zahlreiche Hinweise, dass die Verwicklungen zwischen Staat und organisiertem Verbrechen bis in höchste staatliche Organe hinein reichten. Sie wurden aber rasch eingestellt, als sie militärische Kreise zu berühren drohten. Von 14 im Zusammenhang mit der Susurluk-Affäre wegen krimineller Aktivitäten Angeklagten wurden nur zwei führende Köpfe der Todesschwadronen, Korkut Eken und Ibrahim Sahin, zu sechs Jahren Haft verurteilt. Alle anderen kamen frei.
Die Untersuchungen wurden damals von einer großen Medienkampagne mit zahlreichen Sensationsberichten begleitet. Dass es überhaupt dazu kam, war nicht so sehr eine Reaktion auf die weit verbreitete Empörung über die Verbrechen und über die Zusammenarbeit von Politikern und Polizisten mit der Mafia. Vielmehr kam Susurluk einem Flügel der türkischen Eliten zu diesem Zeitpunkt gerade gelegen. Der Mohr hatte aus ihrer Sicht nämlich seine Schuldigkeit getan.
Die PKK war zwar nicht vernichtet, aber doch militärisch besiegt. Die Guerilla stellte keine ernsthafte Gefahr mehr für den Staat dar. Zu einer solchen entwickelte sich aber die Konterguerilla mit ihren Gangstermethoden, kriminellen Aktivitäten und Mafia-Verbindungen. Das organisierte Verbrechen sollte dem Staat dienen, nun drohte es ihn zu dominieren.
Dabei hatte der jahrelange Krieg gegen die PKK die Türkei an den Rand des finanziellen Bankrotts gebracht. Den Kollaps von Staat und Wirtschaft sollten eine größere Öffnung gegenüber dem internationalen Kapital und ein EU-Beitritt verhindern. Dazu war aber ein Mindestmaß an rechtsstaatlichen Strukturen, Sicherheit und Ordnung notwendig. Zufällig, aber durchaus bezeichnend fielen Susurluk und der Beginn der Zollunion der Türkei mit der EU ins selbe Jahr.
Heute zeigt sich, dass die dem Skandal zugrunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen und staatlichen Strukturen im Wesentlichen unangetastet geblieben sind. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur EU haben daran ebenso wenig geändert, wie die Zusammenarbeit mit den USA. Im Gegenteil.
Die EU geht es - im Gegensatz zu den Behauptungen von kurdischen Nationalisten und diversen linken Gruppen wie der türkischen ÖDP - nicht um eine demokratische Entwicklung der Türkei. Sie sieht das Land ebenso wie die USA als militärischen Vorposten und wirtschaftliches Sprungbrett zum Eindringen in die rohstoffreichen Regionen des Mittleren Ostens, des Kaukasus, und Zentralasiens.
Die Kurden- und Menschenrechtsfrage ist dafür lediglich ein Druckmittel. In der EU wird es jetzt wieder stärker benutzt, weil sich die führenden europäischen Regierungen zunehmend einig sind, dass sie die Türkei niemals als Vollmitglied akzeptieren werden - jedenfalls nicht mit den bisherigen Anrechten, die sich aus einer Vollmitgliedschaft ergeben, wie milliardenschwere Struktur- und Agrarbeihilfen, Mitsprache in den EU-Institutionen und Freizügigkeit beim Personenverkehr.
Zu dem Druck aus Europa kommt der Druck aus Washington. Die amerikanische Invasion und Besetzung des Irak hat die ganze Region destabilisiert. Als Reaktion auf den Widerstand gegen die Besatzung stützen sich die USA im überwiegend kurdischen, an die Türkei grenzenden Nordirak vor allem auf kurdische Nationalisten. Die Region genießt mittlerweile als Irakisch-Kurdistan weitreichende Autonomie. Die PKK unterhält dort ihre Hauptbasis und schickt ihre Kämpfer zu fast täglichen Anschlägen in die Türkei.
Offenbar gibt es im türkischen Staatsapparat eine extrem rechte Fraktion, die nicht bereit ist, die offizielle Politik der halbherzigen Liberalisierung, der symbolischen Zugeständnisse an die Kurden und der Annäherung an die EU länger mitzumachen. Diese Kräfte, die die Gangstermethoden des schmutzigen Krieges wieder aufleben lassen, können nicht vom Establishment gestoppt werden, zu dem sie selbst gehören. Das sind die Lehren aus Susurluk.
Demokratie und eine wirkliche Lösung der Kurdenfrage können auch nicht von den USA und der EU erwartet werden. Notwendig ist eine gemeinsame Offensive der türkischen und kurdischen arbeitenden Bevölkerung unter einer sozialistischen Perspektive.