Türkei: Nationalistische Kampagne des Militärs verdeckt Widerannäherung an USA

In der Türkei hat sich in den letzten sechs Wochen eine Woge des Chauvinismus ausgebreitet, der sich vordergründig gegen die Kurden, in Wirklichkeit aber gegen die gemäßigt islamistische Regierung der AKP von Premierminister Recep Tayip Erdogan und deren Orientierung auf die EU richtet. Sie ist auch keineswegs eine spontane Reaktion breiter Schichten der Bevölkerung, sondern ein Manöver von Teilen des Staatsapparats, insbesondere des Militärs und der Sicherheitskräfte, unterstützt von organisierten faschistischen Banden.

Auslöser war ein an sich völlig unbedeutender Zwischenfall während des kurdischen Neujahrsfestes Newroz im März. In der Stadt Mersin versuchten ein paar kurdische Halbwüchsige am Rande einer Demonstration, eine türkische Fahne zu verbrennen. Weder hatten sie dabei Unterstützung von anderen Demonstranten, noch hatten sie Erfolg, bevor sie von der Polizei verhaftet wurden.

Der Vorfall blieb von der Öffentlichkeit unbemerkt, bis der Generalstab der Armee zwei Tage später in einer scharfen Erklärung den jugendlichen Vandalismus als "Verrat" von "sogenannten Bürgern" brandmarkte. Die Armee sei bereit, "den letzten Tropfen Blut zu vergießen, um das Land und seine Fahne zu schützen", hieß es weiter. Daraufhin verurteilte auch Staatspräsident Sezer den Vorfall. Sogar das Rektorat der Istanbuler Universität erklärte in Zeitungsinseraten seine "Abscheu". Alle bekannten kurdisch-nationalistischen Politiker distanzierten sich von der Aktion, es half nichts.

Das Land wurde in ein regelrechtes Meer türkischer Fahnen getaucht, die nun an allen Geschäften, öffentlichen Plätzen und Gebäuden hängen mussten. Gruppen faschistischer Grauer Wölfe zogen pöbelnd durch die Straßen, die Medien entfachten eine regelrechte Pogromstimmung gegen die Kurden.

Etwa zur selben Zeit sah sich auch der weltbekannte türkische Schriftsteller Orhan Pamuk einer Kampagne von Medien und Politikern ausgesetzt, weil er in einem Interview über sein neues Buch "Schnee" bemerkt hatte, dass "in der Türkei eine Million Armenier [Anfang des 20. Jahrhunderts] und in den 90er Jahren 30.000 Kurden umgebracht worden sind". Mehrere Regionalpolitiker riefen dazu auf, seine Bücher zu verbrennen. Pamuk erhielt wegen seiner Bemerkung eine Strafanzeige, Zeitungen beschimpften ihn als "Verräter", wegen zahlreicher Morddrohungen traute er sich nicht mehr in die Öffentlichkeit.

Im April fanden dann in verschiedenen Städten, vor allem im überwiegend von Alewiten bewohnten Istanbuler Stadtteil Gazi und der nordanatolischen Stadt Trabzon, tätliche Angriffe rechtsradikaler Gruppen auf Linke statt, wobei mindestens einer, der Alewit Esat Atmaca, von den Ultranationalisten getötet und viele weitere verletzt wurden. In mehreren Städten kam es zu Übergriffen von Mobs gegen Unterstützer der TAYAD, einer Organisation von Angehörigen linker politischer Gefangener, die meist in Isolationshaft sitzen. In allen Fällen wurden die TAYAD-Unterstützer, die nichts anderes taten, als legale Flugblätter zu verteilen, zusammengeschlagen und von der Polizei nur knapp vor einem Lynchmord bewahrt. Allerdings nahm die Polizei im Anschluss stets die Opfer der Gewalt in Gewahrsam, weil sie "die Öffentlichkeit provoziert" hätten.

Vor zehn Tagen schließlich legten das Militär und seine Verbündeten noch einmal nach. In einer Rede vor einer Militärakademie beschäftigte sich Generalstabschef Hilmi Özkök kaum mit der Situation der Armee und der Sicherheitspolitik, sondern ging der Reihe nach alle aktuellen Themen der Innen- und Außenpolitik durch, wobei er sich praktisch in jedem Punkt in scharfen Gegensatz zur gewählten Regierung stellte.

Die Türkei sei weder ein gemäßigt islamischer Staat noch ein islamisches Land, betonte er und warnte, das "türkische Volk" werde jeden Versuch verhindern, das Land in eine derartige Richtung zu führen. Ähnliche Töne hatte es auch 1997 beim Sturz der Regierung Erbakan gegeben. Weiter schloss er jedes Zugeständnis an Griechenland in der Ägäis und in der Zypern-Frage aus. Zypern sei immer noch von hoher strategischer Bedeutung, weshalb auch türkische Truppen dort bleiben müssten. Schließlich unterhalte deshalb auch Großbritannien immer noch eine Militärbasis auf Zypern.

Auch gegenüber Armenien verlangte der Armeechef eine harte Haltung. Armenien müsse sich erst einmal an internationales Recht und die Prinzipien guter Nachbarschaft halten. Die Türkei wirft Armenien vor, es halte Nagorny-Karabach, eine überwiegend von Armeniern bewohnte Enklave in Aserbaidschan, sowie einen Korridor von dort nach Armenien völkerrechtswidrig besetzt. Ankara macht die "Rückgabe" aller ehemals aserbaidschanischen Gebiete an die Nachbarrepublik traditionell zur Vorbedingung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Armenien. Des Weiteren solle Armenien darauf verzichten, die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915 zu fordern. General Özkök leugnete in seiner Rede noch einmal ganz ausdrücklich, dass ein Völkermord stattgefunden habe.

Erdogan, der den Völkermord selbst ebenfalls leugnet, hat dazu vorgeschlagen, vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen eine gemeinsame Historikerkommission einzusetzen, um die "geschichtliche Wahrheit herauszufinden". Dieser von einigen westlichen Regierungen als Geste der Versöhnung gefeierte Vorschlag ist in Wirklichkeit ein Affront gegen Armenien. Die armenische Regierung hält es, wie auch fast alle seriösen Historiker, für erwiesen, dass die Ereignisse von 1915 einen Völkermord darstellen. Sie will zuerst die Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen diskutieren. In jüngster Zeit hat Erdogan angedeutet, politische Beziehungen könnten möglicherweise auch unabhängig von und neben der Arbeit einer Historikerkommission hergestellt werden, eine Haltung, die von der von General Özkök vorgegebenen harten Linie abzuweichen scheint.

Dieser widmete sich auch ausführlich der Kurdenfrage. Die Aktivitäten der PKK hätten in letzter Zeit drastisch zugenommen, erklärte der Armeechef, und beklagte, die EU betätige sich als Mittler für die PKK. Eine EU-Mitgliedschaft sei "kein Segen" und es sei "nicht das Ende der Welt", wenn die Türkei kein EU-Mitglied werde.

Von den USA verlangte Özkök ein schärferes Vorgehen gegen die PKK, die sich größtenteils im Nordirak aufhält. Außerdem warnte der General, dass die nordirakische Stadt Kirkuk "kurz vor der Explosion" stünde. Kirkuk, wo bis zu 25 Prozent des irakischen Öls liegen, wird von den kurdischen Nationalisten als Hauptstadt einer autonomen Kurdenregion oder eines künftigen kurdischen Staates beansprucht. Sie haben unter den Augen der amerikanischen Besatzer systematisch Kurden aus dem übrigen Irak in Kirkuk angesiedelt, wo auch viele Turkmenen und Araber leben. Angeblich handelt es sich bei den Neuankömmlingen ausschließlich um Kurden, die unter dem Baath-Regime aus der Stadt vertrieben wurden. Inwieweit das tatsächlich der Fall ist, lässt sich schwer nachprüfen.

Hintergrund ist, dass sowohl die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten als auch in Europa die Politik der türkischen Regierung in eine Krise geworfen hat.

Seit das türkische Parlament der US-Armee am 1. März 2003 die Nutzung türkischer Basen für den Aufmarsch gegen den Irak verweigerte, hat sich Erdogan nach Kräften bemüht, das Verhältnis zu den USA wieder zu verbessern. Das aggressive Vorgehen der Regierung Bush und auch der Regierung Scharon haben allerdings gerade in seiner eigenen Partei- und Wählerbasis viel Unmut ausgelöst, der durch die Drohungen der USA gegenüber Iran und Syrien noch verstärkt worden ist.

Und während Erdogan seine politische Zukunft mit der EU-Mitgliedschaft verbunden hat, ist die EU-Begeisterung deutlich abgeflaut, seit der EU-Gipfel vom 17. Dezember der Türkei den Beginn von Beitrittsverhandlungen am Ende dieses Jahres in Aussicht gestellt hat. Insbesondere die französische Entscheidung, über einen türkischen Beitritt per Referendum zu entscheiden, hat in der Türkei den Eindruck erweckt, die EU fordere zwar viel, meine es aber am Schluss doch nicht ernst mit einer Mitgliedschaft. Die französische Nationalversammlung hatte Ende Februar eine als "Türken-Artikel" bekannte gewordene Verfassungsänderung verabschiedet, gemäß der in Zukunft jede neue Erweiterung der Europäischen Union den französischen Wahlberechtigten in einem Referendum zur Zustimmung unterbreitet werden muss.

In Deutschland haben sich CDU und CSU, die möglicherweise schon ein einem Jahr die Regierung übernehmen, vehement gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ausgesprochen. Auch die Verschiebung des Beitritts von Kroatien und die Diskussion über die Ukraine, deren Beitrittswunsch gegenwärtig zurückgewiesen wird, ist in der Türkei aufmerksam registriert worden. Die Enttäuschung darüber, die mit der Unzufriedenheit über die Folgen des liberalen Wirtschaftsprogramms der AKP-Regierung einhergeht, versuchen nun extrem rechte Kräfte zu nutzen, um die Regierung zu destabilisieren. Mehr als ein Dutzend Abgeordnete haben innerhalb der letzten drei Monate die Parlamentsfraktion der Regierung verlassen. Meist sind sie zu anderen rechten Parteien gewechselt.

Ein Alarmsignal für die Militärs sind die Entwicklungen im Irak. Die Türkei gehört zu den Ländern, die das Ergebnis der irakischen Wahlen vom 30. Januar kritisiert haben. Diese haben zu einer deutlichen Stärkung der kurdischen Nationalisten und der schiitischen religiösen Parteien geführt. Beides liegt nicht in Ankaras Interesse. Wenn Kirkuk tatsächlich unter kurdische Kontrolle geriete, könnte dies zur Basis für einen kurdischen Staat werden, der womöglich auch separatistischen Tendenzen in den Nachbarstaaten Auftrieb verleihen würde.

Für Aufregung haben in Ankara auch zwei Artikel amerikanischer Autoren im Frühjahr gesorgt. Der eine von Robert Pollock wurde im Februar im Wall Street Journal unter dem Titel "The sick man of Europe - again" ("Erneut der kranke Mann Europas") veröffentlicht. Er griff die Türkei in sehr scharfer Form wegen eines dort herrschenden "Anti-Amerikanismus" an. Den anderen hat Michael Rubin, ehemaligem Berater der Bush-Regierung, für verschiedene rechte Think tanks geschrieben. Er warnt, wenn die Türkei sich nicht kooperativer zeige, würden die USA möglicherweise in irakisch Kurdistan eine Militärbasis errichten.

Die PKK, die in den letzten fünf Jahren alles getan hat, um sich von ihrer militanten Vergangenheit abzugrenzen und sich gegenüber der Türkei als staatstragende Kraft darzustellen, hat Anzeichen einer neuen Radikalisierung erkennen lassen. So hat sie erst vor wenigen Wochen wieder ihren alten Namen angenommen. Ihr Führer, der inhaftierte Abdullah Öcalan, hat ein Konzept des "Demokratischen Konföderalismus" entwickelt, das die Kurden der ganzen Region einschließen soll - in der Türkei, Irak, Iran und Syrien. Die PKK behauptet, die türkische Armee habe in den letzten Wochen groß angelegte Operationen gegen ihre Guerillakämpfer durchgeführt.

Die Generäle fürchten offenbar, die Diskussion über den Völkermord an den Armeniern, das Pochen der EU auf mehr Rechte für die Kurden und die Lage im Irak würden dazu führen, dass die ungelöste Frage der unterdrückten Nationalitäten wieder aufbricht, die nationalistische Staatsideologie des Kemalismus in Frage gestellt und der türkische Staat destabilisiert wird.

Dem soll durch eine Stärkung des Nationalismus im Innern und eine engere Anbindung an die USA und Israel begegnet werden. Während eines Besuchs von Erdogan in Israel am vergangenen Wochenende haben Ankara und Tel Aviv eine engere Zusammenarbeit und den Austausch von Geheimdienst-Informationen vereinbart. Zu diesem Zweck werde eine direkte Telefonverbindung zwischen den Büros der beiden Regierungschefs eingerichtet, erklärten der israelische Ministerpräsident und sein türkischer Amtskollege nach einem Treffen in Jerusalem.

Außerdem sollen die beiden Länder anlässlich des Besuchs Rüstungsverträge im Umfang von 400 bis 500 Millionen Dollar geschlossen haben. Damit sollen türkische Kampfflugzeuge modernisiert werden. Im April war bereits ein Vertrag über die Lieferung von Spionagedrohnen und anderer Aufklärungstechnologie abgeschlossen worden.

Mit den USA schloss die Türkei vor einer Woche einen Vertrag im Volumen von 1,1 Mrd. Dollar über die Modernisierung von 117 Kampfflugzeugen vom Typ F-16. Außerdem verlängerte die türkische Regierung das Abkommen über die Nutzung des Luftwaffenstützpunkts Incirlik durch die USA. Beides hatte sie absichtlich auf einen Termin gelegt, der wenige Tage nach dem 24. April liegt. Sie wollte nämlich abwarten, ob Bush am 90. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern in seiner Gedenkrede das Wort "Völkermord" aussprechen würde. Er tat es nicht.

Auch sonst gibt es Anzeichen, dass die USA der Türkei nun ebenfalls entgegenkommen. Die englischsprachige türkische Zeitung The New Anatolian berichtete in ihrer Ausgabe von Montag unter Berufung auf "hochrangige kurdische Quellen in der Regierung in Bagdad", die USA, insbesondere das Pentagon, übten Druck auf die neue irakische Regierung aus, gegen die PKK im Nordirak vorzugehen. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld habe dies bei seinem letzten Besuch im Irak verlangt.

Siehe auch:
EU beschließt Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
(18. Dezember 2004)
PKK-Nachfolgeorganisation gespalten
( 8. September 2004)
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