Seit zwei Wochen ist die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bemüht, den Streik der Telekom-Beschäftigten unter Kontrolle und auf Sparflamme zu halten. Obwohl die Konzernleitung 50.000 Beschäftigte in betriebseigene Billiglohnfirmen ausgliedern will, um durch Lohnsenkung und Arbeitszeitverlängerung eine bisher nicht gekannte Einkommenssenkung von bis zu 40 Prozent zu erreichen, weigert sich Verdi, den Streik auszuweiten und einen ernsthaften Arbeitskampf zu führen.
Stattdessen ruft die größte Dienstleistungsgewerkschaft mit fast 2,5 Millionen Mitgliedern wenige Tausend Telekom Beschäftigte einmal an diesem, einmal an jenem Standort in den Streik. Die Nadelstichtaktik dient mehr dazu, die Kampfbereitschaft der Beschäftigten zu zermürben, als den Angriff der Geschäftsleitung zurückzuschlagen. Dabei hatten sich bei der Urabstimmung 96,5 Prozent für Streik ausgesprochen.
Drei Tage nach Streikbeginn demonstrierten in Berlin mehr als 20.000 Postbeschäftigte aus ganz Deutschland gegen eine weitere Privatisierung der Post und Liberalisierung des Postmarktes - alles Mitglieder von Verdi. Anstatt aber einen gemeinsamen Kampf der Postler und der Telekombeschäftigten - die vor nicht allzu langer Zeit ohnehin in einem Unternehmen vereint waren - zu organisieren, hält Verdi die streikenden Fernmelder und die protestierenden Postler strikt getrennt.
Der Grund ist sehr einfach. Verdi ist nicht gegen die Liberalisierung des Postmarktes, obwohl damit der Abbau von bis zu 32.000 Arbeitsplätzen verbunden ist. Die Gewerkschaft fordert lediglich eine Liberalisierung "mit Sachverstand". Die Verdi-Kundgebung in der Berliner Innenstadt stand unter dem Motto "Gegen Liberalisierung ohne Sachverstand". Ganz ähnlich hatten die Gewerkschaftsfunktionäre vor zwölf Jahren die Privatisierung der Telekom mitgetragen und auch alle anschließenden Umstrukturierungen "sozialverträglich" gestaltet.
Am Ende der zweiten Streikwoche begann in Berlin ein Warnstreik im Pharmagroßhandel. Im Anschluss an eine Betriebsversammlung trat die gesamte Frühschicht in einen befristeten Proteststreik. Hintergrund sind die zur Zeit stattfindenden Tarifverhandlungen im Berliner Großhandel. Wieder handelt es sich um Verdi-Mitglieder, und wieder versucht Verdi die einzelnen Arbeitskämpfe von einander zu trennen und die Streikenden zu isolieren.
Vor allem will Verdi verhindern, dass sich der Telekomstreik in eine breite politische Mobilisierung gegen die Große Koalition ausweitet, obwohl bekannt ist, dass alle wichtigen Entscheidungen in Bezug auf die Telekom in der Regierung in enger Absprache zwischen dem Finanzministerium von Peer Steinbrück (SPD) und dem Arbeitsministerium von Franz Müntefering (SPD) getroffen werden.
Zynisches Doppelspiel
Während Verdi-Funktionäre auf Streikversammlungen gegen das "unsoziale und völlig unakzeptable" Vorgehen des Telekomvorstands wettern, trifft sich Verdi-Chef Frank Bsirske im Berliner Finanzministerium zu einem geheimen "Krisengipfel" mit Telekom-Chef René Obermann, Finanzminister Steinbrück und SPD-Fraktionschef Peter Struck, um einen Deal auszuhandeln. Ein erstes solches Treffen fand schon vor einer Woche statt. Über Absprachen und weitere Treffen wurde striktes Stillschweigen vereinbart.
Dieses Doppelspiel von Verdi beherrschte auch eine Telekom-Streikversammlung vor dem Roten Rathaus in Berlin am vergangenen Mittwoch. Die Teilnehmerzahl war bewusst klein gehalten worden, um zu vermeiden, dass Beschäftigte aus unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Dienstes - viele davon auch Verdi-Mitglieder - an der Veranstaltung teilnehmen und gegen die unsoziale Politik des Berliner Senats protestieren, der seit sechs Jahren aus einer Koalition von SPD und Linkspartei.PDS besteht.
Als erster Kundgebungsredner, der den Streikenden seine "Solidarität und Unterstützung" versicherte, sprach ausgerechnet Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linkspartei.PDS). Wolf spielte eine Schlüsselrolle beim Abbau von 15.000 Stellen im öffentlichen Dienst der Bundeshauptstadt in den vergangenen Jahren.
Unter seiner Regie wurden bei den Berliner Verkehrsbetrieben 3.000 Stellenstreichungen durchgeführt, bei einer gleichzeitigen Lohnsenkung von zehn Prozent. Die Liste der sozialen Angriffe durch den "rot-roten Senat" ist lang: massive Gehalts- und Stellenkürzungen bei den Krankenhäusern; Einsatz von 34.000 Ein-Euro-Jobbern, die teilweise reguläre Arbeitsplätze ersetzen; drastische Erhöhung von Gebühren und Personalschlüssel bei Horten und Kitas; Streichung der Lehrmittelfreiheit und Abbau von Lehrkräften an den Schulen; Kürzung der Landeszuschüsse an die drei Universitäten um 75 Millionen Euro, was dem Wegfall von 10.000 Studienplätzen und über 200 Professorenstellen entspricht, usw.
Obwohl diese Schandtaten des SPD-Linkspartei.PDS-Senats bekannt sind, forderte die Streikleitung die versammelten Telekombeschäftigten nach Wolfs Rede zum Beifall auf.
Auf der Verdi-Bühne reichte ein Vertreter der Linkspartei.PDS das Mikrophon an den nächsten weiter. Kurz nach Wolf sprach der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linkspartei.PDS im Bundestag, Bodo Ramelow. Wieder die abgedroschenen Phrasen über Solidarität und Schmeicheleien: "Ihr habt gezeigt, dass ihr nicht bereit seid, Obermanns Attacken hinzunehmen..."
Dann kündigte Ramelow an, die Linkspartei.PDS werde im Bundestag eine aktuelle Stunde zum Thema Telekom beantragen, um die Bundesregierung an ihre Verantwortung als Hauptaktionär zu erinnern. Er versuchte den Eindruck zu erwecken, als könne die Große Koalition dazu bewogen werden, auf den Telekomvorstand mäßigend einzuwirken, während in Wirklichkeit die Regierung als Hauptaktionär der Scharfmacher in dieser Auseinandersetzung ist und Obermanns Pläne im Finanzministerium abgesprochen sind.
Kein Wort auch darüber, dass neben sechs Gewerkschaftern und Betriebsräten zwei Spitzenvertreter der SPD (Ingrid Matthäus-Maier, die frühere stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, und Thomas Mirow, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium) im Aufsichtsrat der Telekom sitzen und damit die Entscheidungsmehrheit haben.
Stattdessen wetterte Ramelow gegen den "Turbokapitalismus" im Allgemeinen und forderte, dass "Heuschrecken wie Blackstone" Zügel angelegt werden. "Wenn Wettbewerb aus dem Ruder läuft, dann muss Wettbewerb reguliert werden", rief er. Dass die Linkspartei.PDS, dort wo sie politisch Einfluss ausübt, selbst mit Hedge-Fonds zusammenarbeitet, wie etwa in Berlin beim Verkauf von städtischen Wohnungen und der Teilprivatisierung der Wasserwerke, sagte er nicht.
Zuvor hatte sich bereits Susanne Stumpenhusen, die Verdi-Bezirksleiterin von Berlin-Brandenburg, darüber beschwert, dass von rechten Politikern eine üble Hetze gegen den Streik der Telekombeschäftigten wie auch gegen die gewerkschaftliche Forderung nach einen gesetzlichen Mindestlohn geführt werde. In diesem Zusammenhang klagte sie die hessische Landesregierung unter Ministerpräsident Roland Koch (CDU) an. Koch habe sich gegen einen Mindestlohn ausgesprochen und die Tarifautonomie beschworen, aber verschwiegen, dass seine Regierung aus dem Tarifverbund ausgestiegen sei, um sich der Tarifbindung zu entziehen. Das sei unehrlich und nicht zu akzeptieren, rief Stumpenhusen. Dass aber der rot-rote Senat in Berlin als erstes Bundesland aus der Tarifgemeinschaft der Länder ausgetreten ist, um drastische Lohnkürzungen durchzusetzen, verschwieg sie.
Die Heuchelei, die auf dieser Streikversammlung betrieben wurde, war kaum zu überbieten.
Gegen Ende der Veranstaltung sprach noch Lucy Redler vom Bundesvorstand der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG). Auch sie wich der entscheidenden Frage aus und versuchte das Verhalten von Verdi zu beschönigen. Der Streik habe Obermann und den Telekom-Vorstand "gehörig unter Druck gesetzt", sagte Redler. Merkel, Busch und Sarkozy säße die Angst im Nacken, dass der G8-Gipfel bestreikt würde.
Zwar forderte sie, den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, und sagte: "Ich frage mich, warum organisiert der DGB nicht eine bundesweite Solidaritätsdemonstration für die Beschäftigten der Telekom." Aber eine Antwort gab sie nicht. Dabei sind die Gründe offensichtlich. Der DGB und seine Einzelgewerkschaften unterstützen die Große Koalition. Sie haben bereits in der Vergangenheit die sozialen Attacken der rot-grünen Bundesregierung, einschließlich Hartz IV, mitgetragen und sehen ihre Hauptaufgabe darin, den wachsenden Widerstand in den Betrieben und Verwaltungen unter Kontrolle zu halten und einen gemeinsamen Kampf aller Arbeiter gegen die Regierung zu verhindern.
Ohne sich dieser reaktionären Politik der Gewerkschaften zu widersetzen, ist es unmöglich, einen ernsthaften Kampf zur Verteidigung sozialer und politischer Rechte zu führen.
Mitarbeiter der World Socialist Web Site verteilten auf der Streikversammlung einen Aufruf der Redaktion, in dem genau diese Frage im Mittelpunkt steht. Es heißt darin:
"Schon jetzt, wenige Tage nach Streikbeginn, muss man mit aller Deutlichkeit sagen: Bleibt dieser Streik unter der Kontrolle der Verdi-Funktionäre, ist er zum Scheitern verurteilt.
Die Unterstützung des Streiks muss folglich mit einem Kampf gegen die opportunistische Politik der Gewerkschaft einhergehen. Der Angriff der Konzernleitung und der hinter ihr stehenden Regierung erfordert eine grundlegend neue politische Strategie. Die Produktion muss der Kontrolle der Finanzaristokratie entrissen und in den Dienst der Gesellschaft als Ganzer gestellt werden.
Der Streik muss zum Ausgangspunkt gemacht werden, mit den alten nationalen Organisationen, den Gewerkschaften und der SPD, zu brechen und Arbeiter in allen Branchen und an allen Standorten europa- und weltweit zusammenzuschließen, um für eine sozialistische Reorganisation der Gesellschaft zu kämpfen."