"Sozialabbau gefährdet den sozialen Frieden". Mit diesen Worten eröffnete eine Vertreterin der Gewerkschaft Ver.di den Auftritt des früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine bei der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG). Lafontaine sprach am 28. April vor rund 500 Mitgliedern und Anhängern der WASG im Krefelder Seidenweberhaus. Um den prominenten Sozialdemokraten, der immer noch das Parteibuch der SPD besitzt, nicht der Gefahr eines Ausschlussverfahrens auszusetzen, fand die Veranstaltung in Form einer Podiumsdiskussion unter der Schirmherrschaft der Gewerkschaften IG Metall und Ver.di statt.
Keine Gefährdung des sozialen Friedens! Diese Worte hätten auch als Motto über der gesamten Veranstaltung stehen können, bringen sie doch das eigentliche Anliegen Lafontaines und der Wahlalternative präzise zum Ausdruck. Es geht ihnen um den Erhalt des sozialen Friedens, jenes ausgefeilten Systems des Interessenausgleichs und der Sozialpartnerschaft, für das die Gewerkschaften und die SPD jahrzehntelang die Verantwortung trugen.
Im Englischen gibt es das Sprichwort, dass man kein Omelett backen kann, ohne Eier zu zerschlagen. Ebenso wenig kann man gegen Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und alle anderen, von Lafontaine lauthals beklagten Übel des Kapitalismus vorgehen, ohne den sozialen Frieden aufzukündigen. Doch das wäre das Letzte, was Lafontaine und die Wahlalternative wollen.
Die WASG, die am kommenden Wochenende in Dortmund ihren ersten Bundesparteitag abhält und am 22. Mai in Nordrhein-Westfalen erstmals zu einer Landtagswahl antritt, setzt sich vorwiegend aus altgedienten Funktionären der SPD und der Gewerkschaften zusammen, die sich Sorgen über den rasanten Autoritätsverlust und Zerfall dieser Organisationen machen. Bei den Wahlen tritt sie zwar getrennt von der SPD an und ist so gesehen deren Konkurrent. Ihre politische Aufgabe sieht sie jedoch darin, eine Abrechnung mit der Sozialdemokratie, mit ihrem Programm und mit ihren politischen Konzeptionen zu verhindern und eine unabhängige Bewegung zu unterbinden, die die bestehende kapitalistische Ordnung in Frage stellen könnte.
Selbst zur Teilnahme an den nordrhein-westfälischen Landtagswahl hat sich die WASG erst nach längerem Zögern entschlossen. Sie will auf keinen Fall verantwortlich sein, wenn der SPD bei dieser Wahl, die als Weichenstellung für die Bundestagswahl 2006 gilt, die nötigen Stimmen für die Fortsetzung der bisherigen Koalition mit den Grünen fehlen. Deshalb hatte sie ursprünglich verkündet, sie werde in Nordrhein-Westfalen nicht antreten und erst 2006 zur Bundestagswahl kandidieren. Erst als deutlich wurde, dass eine "Wahlalternative", die zur wichtigsten Wahl dieses Jahres nicht antritt, von vornherein jede Glaubwürdigkeit verliert, entschloss sie sich zögernd zur Aufstellung einer eigenen Liste. Seither führt sie einen Wahlkampf auf Sparflamme, darauf ausgerichtet, der SPD nicht weh zu tun. "Wir wollen der SPD keine Stimmen wegnehmen. Wir zielen auf die Nichtwähler", erklärte Horst Gromann, 30 Jahre SPD und Gründungsmitglied der WASG, am Rande der Krefelder Versammlung gegenüber Spiegel Online.
Die Wahlalternative umwirbt Lafontaine seit langem und würde ihn gerne zum Führer ihrer Partei machen. Sie hofft, der ehemalige SPD-Vorsitzende werde eine medienwirksame Galionsfigur abgeben und weitere SPD-Mitglieder zum Übertritt in ihre Reihen bewegen.
Aber Lafontaine ziert sich. Er benutzt die Wahlalternative seinerseits, um Druck auf die SPD auszuüben. Bereits letzten Sommer hatte er in einem Spiegel -Interview gedroht, er werde zur neuen Partei übertreten, "wenn Schröder seine gescheiterte Politik bis zur nächsten Bundestagswahl fortsetzt". Mittlerweile hat er angekündigt, er werde mit der SPD brechen, falls sich diese bis zur NRW-Wahl nicht verpflichte, die Hartz-IV-Gesetz zurückzunehmen. Bisher hat er aber derartige Drohungen nie wahr gemacht, was ihre Wirkung zunehmend abschwächt.
Auch in Krefeld wollte sich Lafontaine nicht festlegen. Gegen Ende der Veranstaltung nach seiner Wahlempfehlung gefragt, antwortete er ausweichend, er stehe im Zweifel auf der Seite der sozial Schwachen. "Mein Ziel ist nicht die Zersplitterung der Linken. Mein Ziel ist die Stärkung der Linken", sagte er und appellierte an die SPD, eine andere Politik einzuschlagen.
Die jüngsten, kapitalismuskritischen Äußerungen des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering bewertete Lafontaine positiv. Er begrüße "ausdrücklich" die Kapitalismuskritik aller Parteien, auch die seiner eigenen, sagte er in Krefeld. Eine Woche zuvor hatte er im TV-Sender Phoenix erklärt, er sei erfreut, "dass sich innerhalb der SPD scheinbar so etwas wie eine Besinnung andeutet". Sollte die Wahl in NRW verloren gehen, fügte er hinzu, "dann müsste eigentlich der letzte Neoliberale in der SPD gemerkt haben: Etwas läuft falsch".
Die Arbeitsteilung zwischen Müntefering, der internationale Investoren als Heuschrecken beschimpft, und Bundeskanzler Schröder, der ihnen Geld in den Rachen wirft, indem er die Körperschaftssteuer senkt, ist allerdings derart augenscheinlich, dass auch Lafontaine nicht darüber hinwegsehen kann. Er schränkte sein Lob für Müntefering mit der Warnung ein: "Aber es darf nicht wieder ein wahlpolitisches Betrugsmanöver sein" und "Nicht Worte zählen, sondern Taten."
Rettung der Sozialdemokratie
Der Eiertanz, den Lafontaine und die Wahlalternative um die SPD herum vollführen, entspricht ihrer politischen Orientierung, die Sozialdemokratie zu retten. Sie betrachten den Niedergang dieser Partei als akute Gefahr für die bestehende Ordnung, der die SPD seit 1914, als sie sich im Ersten Weltkrieg auf die Seite der kaiserlichen Regierung stellte, als verlässliche Stützte gedient hat. Daher bemühen sie sich, die SPD dazu zu bewegen, zumindest in Worten mehr Rücksicht auf ihre traditionellen Wähler in der Arbeiterklasse zu nehmen. Scheitert dies und bricht die SPD nach einem Machtverlust weiter auseinander, dann soll die Wahlalternative als Auffangbecken dienen und die sozialdemokratische Politik weiter führen. In diesem Fall würde Lafontaine wohl tatsächlich in die WASG oder eine ähnliche Formation eintreten.
Lafontaines Kritik am Kurs der Regierung Schröder, die er seit seinem fluchtartigen Rückzug als Finanzminister und Parteivorsitzender im Frühjahr 1999 in drei Büchern und unzähligen Auftritten vorgebracht hat, ist darauf ausgerichtet, Illusionen in die Realisierbarkeit eines reformistischen Programms im Rahmen des Nationalstaats zu schüren.
Wie ein Glaubender, der ohnmächtig sein Leid einem imaginären Gott klagt, jammert er endlos und in unzähligen Variationen über dieselben Themen - den Bruch von Wahlversprechen, das Scheitern des gesellschaftlichen Konsens, die Verantwortungslosigkeit des Kapitals. Niemals und nirgends geht er auf die Ursachen dieser Probleme und der Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie ein, die nicht auf Deutschland beschränkt ist - die Dominanz der internationalen Finanzmärkte und transnationaler Konzerne über alle Aspekte des nationalen Lebens, die jeder Form sozialer Reformpolitik die Grundlage entzogen haben.
Würde Lafontaine anerkennen, das die Rechtswendung der SPD objektive Ursachen hat und nicht nur der persönlichen Niedertracht seines Erzrivalen Schröder zuzuschreiben ist, müsste er das gesamte reformistische Programm der Sozialdemokratie in Frage stellen und für eine revolutionäre Alternative eintreten. Aber gerade das will er unter allen Umständen vermeiden.
In Krefeld saß Lafontaine zusammen mit Klaus Ernst, Bundesvorstandsmitglied der Wahlalternative, und zwei christlichen Gelehrten auf dem Podium. Sie ereiferten sich über die inhaltliche Umdeutung von Begriffen wie "Reform", "Lohnnebenkosten", "Verantwortung" usw. Mit "Falschwörtern", so Lafontaine, würden "Reformen" genannte Angriffe auf die soziale Absicherung durchgesetzt. So seien die Lohnnebenkosten, deren Abbau in aller Munde gefordert werde, nichts anderes als Geld für die Armen, Kranken, Alten, Pflegebedürftigen und Arbeitslosen. Aus "Verantwortung" würde "Eigenverantwortung", an die Stelle der "Fürsorge für sozial Schwächere" trete die "Eigenverantwortung" nach dem Motto: "Kümmere dich um dich selbst". "So ist der Konsens der Nachkriegsentwicklung gekündigt worden", klagte Lafontaine.
Er stellte zehn Forderungen vor, die von einem Teilnehmer prompt als "Oskars zehn Gebote" bezeichnet wurden. Sie stellen nicht den Kapitalismus als System in Frage, sondern nur einige seiner wildesten Auswüchse. Unter anderem verlangte Lafontaine ein Verbot der Bezahlung von Managern durch Aktienoptionen, eine Managerhaftung, ein Verkaufsverbot für Hedgefonds für Deutschland sowie ein Gesetz, das "Dispositionskredite mit Zinsen von 10 bis 11 Prozent für die Bevölkerung verbietet und reguliert".
Weitere Punkte sind: Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf über 50 Prozent; Besteuerung von Unternehmen "wie im Jahre 2000"; Zurücknahme der Hartz-IV-Gesetze, der Ein-Euro-Jobs und Mini-Jobs; Einführung von Mindestlöhnen; Lohnerhöhung wie in den USA, Großbritannien und Frankreich (mindestens 4 Prozent). Dass der Sozialstaat nicht zu finanzieren sei, sei "Quatsch", sagte Lafontaine. "Hätten wir die Steuergesetze Schwedens, hätten wir 300 Milliarden Euro mehr in den öffentlichen Kassen."
Lafontaine ließ offen, wie diese Forderungen gegen den Druck des internationalen Kapitals durchzusetzen sind. Er selbst hatte 1999 sein Amt als Finanzminister hingeschmissen, als er von Wirtschaftskreisen angegriffen wurde.
Um der Behauptung, seine Forderungen ließen sich im Rahmen der bestehenden Ordnung verwirklichen, wenigstens einen Anschein von Glaubwürdigkeit zu verleihen, führte er wiederholt andere Länder als Beispiele an. Dabei verwies er auffallend oft auf den "angelsächsischen Raum". Schon vorher hatte er in Zeitungsinterviews die Finanz- und Beschäftigungspolitik der USA und Großbritanniens, also die Politik von George W. Bush und Tony Blair, gelobt.
Er bewies damit sehr viel Vertrauen in die Unwissenheit seines Publikums. In den USA sind die Reallöhne im unteren Bereich während der vergangenen 30 Jahren stagniert, während Gewinne und Managergehälter regelrecht explodierten. Das reichste 1 Prozent der US-Bevölkerung besitzt mittlerweile 33 Prozent des gesamten nationalen Vermögens, die reichsten 10 Prozent 71 Prozent. Die ärmsten 40 Prozent besitzen dagegen nichts. In Großbritannien verhält es sich ähnlich. Die tausend reichsten Briten haben ihr Vermögen seit der Regierungsübernahme Labours unter Tony Blair um 150 Mrd. Pfund vergrößert - eine Steigerungsrate von 152 Prozent.
Viele Argumente Lafontaines hatten deutlich nationalistische Untertöne. So versah er die Forderung nach Lohnerhöhungen wie in den USA, Großbritannien und Frankreich mit dem Zusatz: "Damit die deutschen Arbeiter endlich wieder Anschluss finden." Als hätten die Arbeiter nicht in jedem Land mit einer stetigen Verschlechterung ihrer sozialen Lage zu kämpfen. Er verwies auch auf die "ökonomisch hohen Werte", die in Deutschland geschaffen würden und die weitaus höher seien als in Ländern wie Polen, Tschechien und Ungarn. Die Einführung eines Mindestlohnes begründete er mit dem "Schutz vor den bettelarmen osteuropäischen Arbeitern". Als wären die osteuropäischen Arbeiter das Problem der deutschen Arbeiter und nicht die globalen Konzerne, die Arbeiter in Ost und West gegeneinander ausspielen.
Lafontaine traf die Stimmung seines Publikums. Gekommen waren vorwiegend ältere Gewerkschaftsbürokraten und Sozialdemokraten der unteren und mittleren Ebene, sowie Mitglieder verschiedener Sozialbündnisse, in denen sich vor allem die Kirchen, Sozialarbeiter und ihre Klientel zusammenfinden. Sie spendeten fast nach jedem Satz frenetischen Applaus, einige standen sogar auf. Die Szenerie erinnerte zeitweise an einen Kult.
Lafontaine glaubte offensichtlich, die inhaltliche Armut seiner Forderungen durch die Art ihrer Darbietung wettmachen zu können. Während er seine zehn Punkte vom Notizblatt ablas, schwoll sein Hals an, der Kopf wurde roter und roter, seine Stimme überschlug sich. Mit ausschweifender Gestik seiner Arme und Hände versuchte er, seinen Worten einen bedeutungsvollen Ausdruck zu verleihen.
Außerhalb der Seidenweberhalle fand der Auftritt von Lafontaine und der Wahlalternative dagegen wenig Resonanz. In den Wählerumfragen wird die neue Partei bisher kaum registriert. Viele sind die Demagogie à la Lafontaine schlichtweg satt.
Die Verzweiflung und der Opportunismus der WASG zeigte sich noch an einem anderen bemerkenswerten Phänomen: T-Shirts, Buttons, Fahnen und Plakate der WASG sind seit neuestem orange, in Anlehnung an die ukrainische "Revolution". Diese "Revolution" verfügte über zwei Galionsfiguren - Viktor Juschtschenko und die Milliardärin Julia Timoschenko - die überzeugte Vertreter jenes Neoliberalismus sind, den die WASG angeblich bekämpft.