Der SPD-Vorsitzende klagt über die Allmacht des Kapitals

Der SPD steht das Wasser bis zum Hals. Angesichts von Massenaustritten, sinkenden Umfragewerten und drohendem Machtverlust im Stammland NRW herrscht Panik im Parteivorstand. Das ist die einzige Schlussfolgerung, die sich aus der Rede ziehen lässt, die der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering am Mittwoch auf dem Programmforum seiner Partei hielt.

In seinen als "Grundsatzrede" angekündigten Ausführungen über Demokratie und Marktwirtschaft erklärte Müntefering: "Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns." Es dürfe nicht länger hingenommen werden, dass große Teile der Wirtschaft die Menschen nur noch als "Größe in der Produktion, als Verbraucher oder als Ware am Arbeitsmarkt" betrachten. Diese Profit-Maximierungs-Strategien gefährdeten auf Dauer die Demokratie, sagte Müntefering, und forderte Politik und Staat auf, ihre Handlungsfähigkeit zurückzuholen und den Sozialstaat zu verteidigen.

Nach sechs Jahren SPD-Herrschaft wirken derartige Formulierungen nur noch grotesk. 1998 hatte der damalige Vorsitzende Oskar Lafontaine mit sehr ähnlichen Phrasen Hoffnungen auf soziale Verbesserungen geweckt. Doch nur wenige Monate später, bei der ersten größeren Konfrontation mit den Wirtschaftsverbänden, warf er den Büttel hin, trat von allen politischen Ämtern zurück und machte unmissverständlich klar, dass diese Partei zu allem bereit ist, nur nicht dazu, den Kapitaleignern die Stirn zu bieten.

Zur selben Zeit erklärte SPD-Kanzler Schröder: "Mit mir ist eine Politik gegen die Wirtschaft nicht zu machen!" Dann folgte ein Kürzungs- und Sparprogramm nach dem anderen. Keine Regierung seit den dreißiger Jahren hat derart drastische Sozialkürzungen durchgesetzt wie diese rot-grüne Koalition. Wer will, kann es im regierungsamtlichen Armutsbericht nachlesen: "Festzustellen ist ein Trend zunehmender Ungleichheit", heißt es da. Nach sechs Jahren Rot-Grün verfügt die untere Hälfte der Haushalte nicht einmal mehr über vier Prozent des gesamten Nettovermögens. Das reichste Zehntel dagegen besitzt 44 Prozent. Mehr als 3 Millionen Haushalte sind überschuldet, jede achte Familie lebt in Armut.

Als im vergangenen Jahr der Widerstand gegen die Sozialkürzungen zu immer neuen Massendemonstrationen gegen Hartz IV führte, die oftmals gegen den Willen der Gewerkschaften stattfanden, gab Kanzler Schröder den Parteivorsitz an Franz Müntefering ab. Ziel war es, eine bessere Arbeitsteilung in der Durchsetzung der Sozialkürzungen zu ermöglichen. Während Müntefering den Parteiapparat gegen die Opposition zu Hartz IV einsetzte, schlug er gleichzeitig kritische Töne an und versprach mehr soziale Ausgewogenheit für die Zukunft.

Vor allem aber wiederholte er immer und immer wieder, dass Hartz IV und alle übrigen Sozialkürzungen zu einer "Wende auf dem Arbeitsmarkt" führen würden. Zwei Millionen neue Arbeitsplätze sollten entstehen und dadurch auch wieder mehr Geld in die Sozialkassen fließen.

Seit Anfang dieses Jahres sind derartige Versprechungen Makulatur. Die Dax-Unternehmen gaben im Frühjahr bekannt, dass sie im vergangenen Jahr 60 Prozent mehr verdient und die Dividendenauszahlung um durchschnittlich 40 Prozent erhöht haben. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit auf über fünf Millionen. Die neuesten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit machen deutlich, dass in Wirklichkeit sogar 6,5 Millionen Arbeitslose registriert sind, aber 1,3 Millionen Arbeitslose nicht in der offiziellen Statistik aufgeführt werden, die vorübergehend in "arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen" untergebracht sind.

Höchste Unternehmensgewinne und höchst Arbeitslosigkeit lautet die Bilanz dieser Regierung.

Angesichts dieser Situation droht der SPD bei den kommenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen in sechs Wochen eine weitere vernichtende Niederlage. In Umfragen ist sie bereits unter dreißig Prozent gesunken. Verliert sie die Macht an Rhein und Ruhr, sind auch die Tage der rot-grünen Bundesregierung gezählt. Hier liegt der Grund für die Panik, die in der Parteiführung um sich greift.

Gleichzeitig geht der Zerfallsprozess der Partei unaufhaltsam weiter. In den vergangenen zehn Jahren hat sie bereits 300.000 Mitglieder - ein Drittel der Mitgliedschaft - verloren. Im vergangenen Jahr gaben täglich zwischen 250 und 300 Mitglieder ihr Parteibuch zurück.

Münteferings Rede war ein verzweifelter Versuch, angesichts des Aufbrechens der SPD die Gewerkschaften bei der Stange zu halten, um Schröders Politik auch weiterhin durchzusetzen. Dass die führenden Wirtschaftsverbände in eiligen Stellungnahmen die "Unternehmerschelte" des SPD-Vorsitzenden anprangerten, ist dabei durchaus willkommen. Doch statt den Niedergang der Partei aufzuhalten, macht Münteferings rhetorisches Manöver nur deutlich, welch bizarre Formen ihr politischer Bankrott annimmt.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt dieser lächerlichen Farce, der nicht übersehen werden sollte.

Franz Müntefering und der SPD-Vorstand machen sich Sorgen, dass die wachsende soziale Krise nicht nur Protest und Widerstand, sondern auch eine Suche nach ernsthaften politischen Antworten hervorruft. Immer mehr Menschen sind tief besorgt über das Ausmaß der gesellschaftlichen Krise. Mehr als sechs Millionen Arbeitslose erinnern unwillkürlich an die dreißiger Jahre, als die soziale Krise die demokratischen Strukturen sprengte und die Nazi-Diktatur an die Macht gelangte. Gleichzeitig haben der Irakkrieg und die damit verbundenen transatlantischen Spannung deutlich gemacht, wie sich die Konflikte zwischen den Großmächten verschärfen, als hätte es die Kriege von 1914 und 1939 nicht gegeben.

Mag die Kapitalismuskritik aus dem Munde eines abgehalfterten Parteibürokraten mit dem Charisma eines Herbergsvaters oder Bürovorstehers, der nie etwas anderes als Ruhe und Ordnung im Kopf hatte, noch so grotesk klingen, sie ist dennoch ein Eingeständnis, dass die Kritik der Gesellschaft und die Suche nach einer sozialistischen Perspektive zunimmt.

Mit seinem Versuch, eine "Lafontaine-Rede" zu halten, gab sich Müntefering nicht nur selbst, sondern auch Lafontaine und seine Anhänger der Lächerlichkeit preis. "Nun kann Lafontaine in der SPD bleiben", kommentierte die Süddeutsche Zeitung am Tag danach. Zu Recht, denn auch der Saarländer hat nicht mehr zu bieten, als hohle abgedroschene Phrasen.

Wortstarke Klagen über die Allmacht des Kapitals verpflichten zu nichts, solange sie nicht mit einem Programm verbunden sind, das sich gegen die kapitalistische Ordnung richtet und eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft im internationalen Maßstab anstrebt. Doch davon findet man weder bei Müntefering noch bei seinem Vorvorgänger im Amt auch nur eine Spur. Das wäre auch gar nicht möglich bei einer Partei wie der SPD, die seit 90 Jahren auf die Verteidigung der bürgerlichen Ordnung eingeschworen ist.

Siehe auch:
Wahlauftakt der SPD in Nordrhein-Westfalen
(12. April 2005)
Was will Lafontaine?
( 12. August 2004)
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