Seit am Freitag ein 18-seitiges Dokument von FDP-Finanzminister Christian Lindner an die Öffentlichkeit gelangte, das für eine „Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen“ eintritt, häufen sich die Spekulationen über ein vorzeitiges Ende der Ampelkoalition.
Lindners Dokument wird vielfach mit dem berüchtigten Papier verglichen, mit dem der damalige FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff 1982 die sozialliberale Koalition von SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt sprengte und die 18-jährige Herrschaft von Helmut Kohl (CDU) einläutete. Es ist eine gezielte Provokation – nicht so sehr gegen die sozialdemokratischen und grünen Koalitionspartner, als gegen die Arbeiterklasse.
Nach Jahrzehnten der sozialen Umverteilung zugunsten der Reichen, des Kaputtsparens von Bildung, Gesundheitsversorgung und Infrastruktur sowie sinkender Reallöhne fordert der Finanzminister massive Steuersenkungen für die Reichen, einen Generalangriff auf Sozialleistungen, soziale Rechte und Umweltvorschriften sowie eine strikte Sparpolitik.
Lindner will den Solidaritätszuschlag, der seit 1991 erhoben wird und mittlerweile nur noch für sehr hohe Einkommen und Gewinne gilt, im kommenden Jahr halbieren und 2027 ganz abschaffen. Die Körperschaftssteuer, die wichtigste Steuer auf Unternehmensgewinne, soll 2025 ebenfalls um zwei Prozentpunkte und in den folgenden Jahren noch weiter reduziert werden. Beides bedeutet erhebliche Zusatzprofite für Superreiche und Konzerne und ein entsprechender Rückgang der Steuereinnahmen.
Trotzdem soll strikt an der „Schuldenbremse“ festgehalten werden, und auch weitere „Sondervermögen“, mit denen die Schuldenbremse umgangen werden kann, lehnt Lindner ab. Stattdessen sollen die sinkenden Steuereinnahmen und die rasch wachsenden Militärausgaben – die, so das Papier, „priorisiert“ werden – durch Sozialkürzungen finanziert werden.
Im Namen von „Bürokratieabbau“ will Lindner alle Gesetzesvorhaben auf Eis legen, die soziale Rechte von abhängig Beschäftigten schützen.
Unter der Überschrift „Mobilisierung des Arbeitsmarkts“ fordert er eine signifikante Verlängerung der Arbeitszeiten sowie eine deutliche Senkung des Bürgergelds, „um Arbeitsanreize zu stärken“. Allein beim Bürgergeld sollen jährlich 3 Milliarde Euro eingespart werden. „Individuelle Schlechterstellungen gegenüber dem Status Quo sind dabei unvermeidlich, aber im Sinne von Aktivierung und Anreizorientierung auch zu begrüßen,“ heißt es dazu in dem Papier.
So soll der Bedarf für Unterkunft und Heizung in Zukunft nicht mehr in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt und durch eine regionalspezifische Pauschale ersetzt werden, was angesichts der explodierenden Mieten und Heizkosten für Viele Obdachlosigkeit bedeutet. Der Bundesanteil soll gesenkt und die Leistungen für Asylbewerber sollen um 800 Millionen Euro reduziert werden.
Auch die Renten hat Lindner im Visier. Durch „einen echten flexiblen Renteneintritt“ und hohe Abzüge bei frühzeitigem Renteneintritt sollen abhängig Beschäftigte gezwungen werden, bis ins hohe Alter zu arbeiten und die Rentenkassen entsprechend zu entlasten. Hier sieht das Papier Einsparungen von 4,5 Milliarden Euro im Vergleich zum bereits verabschiedeten Haushaltsentwurf vor.
Auch bereits beschlossene Klimaziele will Lindner stoppen. „Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen,“ heißt es in dem Papier.
Christian Lindner und seine FDP, die sich einmal als „Partei der Besserverdienenden“ bezeichnete, verkörpern wie keine andere Partei die Arroganz jener Parasiten, die durch Ausbeutung, Immobilien- und Börsenspekulation und Erbschaften zu Reichtum gekommen sind und mit Hohn und Verachtung auf Arbeiterinnen und Arbeiter blicken, die trotz harter Arbeit gerade über die Runden kommen.
Die FDP ist inzwischen derart verhasst, dass sie bei den letzten drei Landtagswahlen in Ostdeutschland nur noch zwischen 0,8 und 1,1 Prozent der Stimmen erhielt und, wären demnächst Bundestagwahlen, kaum mehr eine Chance hätte, wieder gewählt zu werden. Wenn Lindner dennoch derart überheblich auftritt, dann weil er weiß, dass er nicht nur die Wirtschaftseliten und die CDU des Ex-BlackRock-Managers Friedrich Merz hinter sich hat, sondern auch seine Koalitionspartner SPD und Grüne.
Der Streit in der Ampelkoalition über die Finanzpolitik dreht sich nicht um die Frage ob, sondern nur wie die soziale Umverteilung und die Angriffe auf die Arbeiterklasse durchgeführt werden. Während Lindner provokativ in die Offensive geht und den Angriffen so den Weg bahnt, schlagen SPD und Grüne andere Methoden vor, um einer offenen Klassenkonfrontation so lange wie möglich auszuweichen und den Widerstand der Arbeiterklasse mithilfe der Gewerkschaften zu unterdrücken.
Der grüne Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck will die Konzerne und Banken weiterhin, wie schon in der Finanzkrise und während der Corona-Pandemie, mit Milliarden Staatsgeldern unterstützen, die dann durch entsprechende Sparmaßnahmen aus der Arbeiterklasse herausgepresst werden.
Zu diesem Zweck will Habeck einen „Deutschlandsfonds für Investitionen“ auflegen, der Anschaffungen von Betrieben mit zehn Prozent bezuschusst. Kauft also ein Unternehmen eine Maschine für eine Million Euro, bekommt es 100.000 aus Steuergeldern ersetzt. Auch Energiekosten, Elektroautos und Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung sollen entsprechend bezuschusst werden.
Ähnliche Vorstellungen, wenn auch im Einzelnen etwas anders gelagert, vertreten auch die SPD und Bundeskanzler Olaf Scholz. Sie wollen vor allem Großkonzerne fördern und den Strompreis und den Verkauf von Elektroautos subventionieren. Die Beteuerungen der SPD, sie werde keine Abstriche im Sozialen zulassen, ist eine glatte Lüge. Dasselbe hatte die SPD behauptet, bevor sie vor zwanzig Jahren die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze beschloss – den umfassendsten sozialen Kahlschlag in der Geschichte der Bundesrepublik.
Höhere Steuern für die Reichen lehnen SPD und Grüne ebenso wie die FDP ab. Alle im Bundestag vertretenen Parteien sind sich einig, dass die Zeit, in der der Klassenkampf durch soziale Zugeständnisse gedämpft werden konnte, vorbei ist. Die gewaltigen Kosten für die militärische Aufrüstung, die Finanzierung der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten und die Verschärfung von Handelskrieg und Protektionismus lassen keine sozialen Kompromisse mehr zu.
Der imperialistische Kampf um Weltmacht, Rohstoffe und Märkte wird, wie vor hundert Jahren, auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausgetragen. Die Ankündigung des VW-Konzerns, der jahrzehntelag als Inbegriff der „Sozialpartnerschaft“ galt, Zehntausende zu entlassen, ganze Werke zu schließen und die Löhne um 20 Prozent zu senken, macht dies unmissverständlich deutlich.
Die Präsidentenwahl in den USA wird diese Entwicklung weiter beschleunigen. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock ist erst gestern nach Kiew gereist, um dem Selenskyj-Regime zu versichern, dass Deutschland es auch im Falle eines Wahlsiegs von Trump weiter finanziell und militärisch unterstützen wird.
Anders als 1982 kann die FDP heute nicht einfach die Koalition wechseln. FDP und Union verfügen im Bundestag nicht über genügend Abgeordnete, um Scholz durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen – es sei denn, sie stützen sich auf Stimmen der AfD. Die einzige Möglichkeit, die Regierung abzulösen, wären daher vorgezogene Neuwahlen, die für die FDP existenzgefährdend sind.
Doch welche Parteien an der Regierung sind, ist letztlich zweitrangig. In den Grundfragen – militärische Aufrüstung, Unterstützung des Kriegs in der Ukraine und im Nahen Osten, Sparpolitik und soziale Umverteilung – sind sie sich alle einig. Die einzige Möglichkeit, diese Gefahren zu stoppen, ist der Aufbau einer unabhängigen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse, die für den Sturz des Kapitalismus und eine sozialistische Perspektive kämpft.