Politische Unruhen erschüttern Georgien, das kleine Land im Südkaukasus, seitdem am Sonntag Präsidentin Salome Surabischwili erklärt hat, sie werde die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom Samstag nicht anerkennen.
Die Wahl ergab einen Sieg der regierenden Partei Georgischer Traum. Mit 53,92 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt sie 89 Sitze im Parlament sowie das Recht, erneut die Regierung zu bilden. Die führenden Oppositionsparteien, die die Unterstützung der Präsidentin haben, erhielten zusammen 37,78 Prozent der Stimmen und damit insgesamt 61 Sitze.
Surabischwili, die in Frankreich geboren wurde und 30 Jahre lang im französischen diplomatischen Dienst (unter anderem als Botschafterin in Georgien) tätig war, hat die Wahlen vom Samstag als „russische Spezialoperation“ und als „verfassungswidrigen Putsch“ bezeichnet. Das Staatsoberhaupt bekleidet nicht nur eine repräsentative Position, sondern ist auch Oberbefehlshaberin des Militärs. Sie rief zu Massenprotesten auf und bat um „die entschlossene Unterstützung unserer europäischen und amerikanischen Partner“.
Presseberichten zufolge gingen am Montagabend Zehntausende auf die Straße, viele mit georgischen und EU-Flaggen, ähnlich wie bei den pro-westlichen Massendemonstrationen im Frühsommer dieses Jahres. Damals hatte die Regierung des Georgischen Traums ein Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedet.
Surabischwili rief der Menge am Montagabend zu: „Man hat eure Stimmen gestohlen!“ Zwischen ihren Ansprachen auf mehreren Demonstrationen und der Arbeit an der Anfechtung der Wahlergebnisse fand sie noch Zeit, um CNN ein Interview zu geben. Darin bezeichnete sie im Gespräch mit Christiane Amanpour am Montag die Wahl vom 26. Oktober als „komplette Fälschung“.
Die Präsidentin bereitet so einem Sturz der wiedergewählten Regierungspartei den Boden. Brian Whitmore, ein Senior Fellow des Atlantic Council, schrieb am Montag in einem Kommentar auf der Website seiner Organisation: „Die Parlamentswahlen 2024 in Georgien sind in ihre ‚Maidan‘-Phase eingetreten.“ Er zog den Vergleich zwischen den aktuellen Ereignissen in Tiflis und dem rechten Putsch, der das derzeitige Regime in Kiew an die Macht gebracht hatte. Er schrieb: „Die zutiefst fehlgeleitete Wahl an diesem Wochenende war nur der Auftakt.“
Die georgische Opposition, die erbittert antirussisch eingestellt ist und äußerst enge Beziehungen zu Washington und Brüssel unterhält, besteht darauf, dass Stimmenkauf, physische Gewalt und andere „Unregelmäßigkeiten“ die Wahl vom Samstag beeinträchtigt hätten. Mehrere Oppositionsparteien haben angekündigt, dass sie sich weigern werden, ihre Mandate anzunehmen.
Irakli Kobachidse, der Vorsitzende des Georgischen Traums und Parlamentspräsident bestreitet, dass seine Partei an Versuchen zur Wahlmanipulation beteiligt gewesen sei. Auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat alle Vorwürfe einer russischen Einmischung zurückgewiesen und sie als Teil eines Standardrepertoires bezeichnet.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die 529 Wahlbeobachter bei der Wahl einsetzte, spielt eine führende Rolle dabei, die Behauptungen der Opposition zu bestärken, und sowohl die US-Regierung als auch die EU haben die Forderung erhoben, das Wahlergebnis müsse überprüft werden.
Die Argumente, die sie anführen, sind indes nicht sehr stichhaltig. Laut dem französischen Senator und Sonderkoordinator für die OSZE, Pascal Alliard, sind die georgischen Parlamentswahlen zu beanstanden, weil es „Ungleichgewichte bei den finanziellen Ressourcen“ und eine „spalterische Wahlkampfatmosphäre“ gegeben habe – mit anderen Worten: Die siegreiche Partei verfügte über größere Geldmittel. Sie nutzte ihre Dominanz in den Medien für ihren Wahlkampf. Daneben gibt es scharfe politische Spaltungen in der Bevölkerung. Dies sind aber derzeit Merkmale jeder Wahl in einer kapitalistischen Gesellschaft, egal wo auf der Welt. Alliard konnte nicht angeben, warum dies gerade in Georgien das Ergebnis in Frage stellen sollte.
Auch Antonio López-Istúriz White, Leiter der Delegation des Europäischen Parlaments, die die georgischen Wahlen überwachte, hat das Ergebnis mit den Worten kritisiert: „Die Regierungspartei nutzte während des Wahlkampfs eine antiwestliche und feindselige Rhetorik, die sich gegen die demokratischen Partner Georgiens, insbesondere die Europäische Union, ihre Politiker und Diplomaten richtete.“ Auch habe sie „russische Desinformations-, Manipulations- und Verschwörungstheorien“ verbreitet.
Seiner Meinung nach ist ein politischer Prozess – sei es eine Wahl, eine Medienberichterstattung oder etwas anderes – illegitim, sobald dabei die Vereinigten Staaten, die EU oder die Nato kritisiert werden.
Obwohl die pro-westliche Opposition mit ihren Vorwürfen über Wahlbetrug offensichtlich eine Machtübernahme in Tiflis anstrebt, hat sie, um ihre Behauptungen zu stützen, nur wenige Beweise vorgelegt. Es gibt lediglich Aussagen von ausländischen Wahlbeobachtern, die der Regierungspartei feindlich gegenüberstehen. Daneben kursieren Videos in den sozialen Medien, die zeigen, wie Menschen an einem nicht näher bezeichneten Ort und zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt Stimmzettel in Wahlurnen stopfen, um einen nicht näher bezeichneten Kandidaten zu unterstützen.
Und selbst wenn sich diese Vorfälle und andere angebliche Berichte über Menschen, die unter Druck gesetzt, für ihre Stimme bezahlt oder auf andere Weise eingeschüchtert wurden, als wahr herausstellen sollten, gibt es keinen Grund für die Annahme, dass die Wahlmanipulation ausschließlich oder hauptsächlich im Auftrag der Regierungspartei erfolgte. Die Hintermänner der Opposition in Washington sind Meister darin, demokratische Wahlen zu kippen. In Georgien arbeiten sie seit Jahren systematisch daran, ein ausgedehntes Netzwerk pro-westlicher Nichtregierungsorganisationen, Interessengruppen und Presseorgane aufzubauen, mit dem alleinigen Ziel, die amerikanischen und europäischen Interessen im Südkaukasus zu fördern.
Die OSZE hat sich bisher nicht dazu durchringen können, die Wahlergebnisse in Georgien für vollkommen ungültig zu erklären. Auch das Weiße Haus hat diesen Schritt bisher nicht unternommen. Insbesondere das Letztere könnte sich derzeit aufgrund des offensichtlichen Widerspruchs zurückhalten, der zwischen der Unterstützung der Biden-Regierung für die Opposition in Tiflis und der Tatsache besteht, dass Donald Trump ebenfalls betont, dass er keine Wahl anerkennen werde, die ihm nicht den Sieg beschert. Harris und Biden haben Trump schließlich – wenn auch zaghaft – als Möchtegern-Diktator bezeichnet.
Allerdings wird weder dies noch die mangelnde Glaubwürdigkeit der Behauptungen über Wahlbetrug die Nato-Mächte aufhalten, im Südkaukasus mit Hilfe der georgischen Opposition ihre Ziele weiter zu verfolgen. Aufgrund seiner geografischen Lage steht Georgien, wie auch das benachbarte Armenien, im Mittelpunkt der Kriegspläne der Vereinigten Staaten und Europas, sowohl in Bezug auf Russland als auch auf den Iran.
Die Vereinigten Staaten engagieren sich seit Jahrzehnten in dem Land, investieren Geld in „zivilgesellschaftliche“ Organisationen, arbeiten daran, engere militärische Beziehungen zum Staat aufzubauen, und tragen – wie schon während der Rosenrevolution 2004 – mit dazu bei, Regierungen zu stürzen, die sie als zu russlandfreundlich ansehen.
Der Georgische Traum hat die Wahl gewonnen, weil er sich als Antikriegspartei präsentierte. Er hat sich als einziges Mittel dargestellt, das Land vor einer Regierung der „globalen Kriegspartei“ zu bewahren und in die „zweite Nato-Front“ einzugliedern. Die Partei gewann die Unterstützung derjenigen Teile der Bevölkerung, die fürchten, in die nächste Startrampe der Nato verwandelt zu werden, und die aufgrund der gemeinsamen kulturellen und politischen Geschichte beider Länder Verständnis für das Leid des russischen Volkes haben. Nach Jahrzehnten des Elends, das ihnen und anderen Menschen auf der ganzen Welt widerfährt, sind sie von den Versprechen des Westens auf Wohlstand und Demokratie nicht sonderlich beeindruckt.
Der Georgische Traum hat jedoch keine wirkliche Möglichkeit, zu verhindern, dass die winzige Nation mit weniger als 4 Millionen Einwohnern in den sich entwickelnden dritten Weltkrieg hineingezogen wird. Die Partei repräsentiert den Teil der herrschenden Klasse Georgiens, der ein Gleichgewicht zwischen Russland und dem Westen anstrebt und ständig nach einer Art Verhandlungslösung sucht. Obwohl die Opposition die Führer des Georgischen Traums als fanatische Putin-Anhänger hinstellt, die Europa und all seine Werte hassen, haben diese längst ihren Wunsch deutlich gemacht, Georgien in die EU zu führen.
Dies hat Ministerpräsident Kobachidse nur einen Tag vor den Wahlen erneut bekräftigt. In einem Interview mit Euronews am 25. Oktober beschrieb er seine Regierung als „pro-europäisch“ und erklärte: „Wir werden auch in Zukunft alles tun, um den EU-Beitritt Georgiens zu fördern.“
Kobachidses Bemühungen, seine Kritiker zu beschwichtigen, sind jedoch gescheitert. Georgiens Regierungspartei soll offenbar gestürzt werden. Sie wird in einen Strudel hineingezogen, der alle ehemaligen Sowjetstaaten rund um das Schwarze Meer erfasst hat.
Im benachbarten Moldawien haben Pro-EU-Kräfte, die die entgegengesetzte Taktik als ihre Kollegen in Georgien verfolgen, gerade bei einer höchst fragwürdigen Abstimmung den Sieg für sich beansprucht. Ihrer Version der Ereignisse zufolge ist es ihnen gelungen, die Abstimmung trotz der bösen „russischen Desinformation“ zu gewinnen. Welche Wahlen „legitim“ sind und welche nicht, hat nichts mit der Integrität der Abstimmung zu tun, sondern hängt von dem Ausmaß ab, in dem das Ergebnis mit den Bestrebungen Washingtons und Brüssels übereinstimmt.