Nukleare Eskalation: Was wären die Auswirkungen eines Atombombenabwurfs auf Deutschland?

„Nie zuvor war die Gefahr eines dritten Weltkriegs so groß wie heute. Atomkrieg wird normalisiert“, heißt es im Europa-Wahlspot der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), der am Dienstag zum ersten Mal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

Europawahlspot der SGP 2024

Seit der Veröffentlichung des Wahlspots mehren sich die die Anzeichen, dass der Krieg der Nato gegen Russland in ein neues Stadium eintritt, das tatsächlich zum Einsatz von Nuklearwaffen führen könnte. Die World Socialist Web Site zeigte Anfang der Woche in einer Perspektive auf, wie führende Vertreter der Nato – darunter der britische Außenminister David Cameron und der französische Präsident Emmanuel Macron – mit direkten Raketenangriffen auf Russland und der Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine drohen.

Russland reagiert auf die immer direkteren Nato-Kriegsvorbereitungen mit der Drohung von Gegenangriffen. Zudem kündigte Moskau Militärübungen an, bei denen der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen simuliert werden soll. Kremlsprecher Dmitri Peskow nannte die geplanten Übungen eine Reaktion auf eine „noch nie dagewesene Stufe der Eskalation der Spannungen, die vom französischen Präsidenten und dem britischen Außenminister eingeleitet wurde“, einschließlich „der Absicht, bewaffnete Kontingente in die Ukraine zu entsenden, d.h. Nato-Soldaten tatsächlich vor russische Truppen zu stellen“.

Da die von der Nato hochgerüsteten Truppen in der Ukraine mit dem Rücken zur Wand stehen und die führenden Nuklearmächte innerhalb der Nato den Einsatz von Atomwaffen im Kriegsfall nicht ausschließen, muss Moskau sogar mit einem möglichen nuklearen Präventivschlag gegen russische Ziele kalkulieren. Trotz der akuten Gefahr einer atomaren Eskalation verschärfen die imperialistischen Mächte die Kriegsoffensive immer weiter.

Eine besonders aggressive Rolle dabei spielt der deutsche Imperialismus, der bereits im Zweiten Weltkrieg einen Vernichtungskrieg mit fast 30 Millionen Toten gegen die Sowjetunion führte. Am 8. Mai nutzte die Bundesregierung ausgerechnet den Jahrestag der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee für aggressive Kriegsdrohungen gegen Russland.

Auf einer Pressekonferenz mit dem finnischen Präsidenten Alexander Stubb in Berlin begrüßte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Nato-Beitritt des direkt an Russland grenzenden Landes und erklärte: „Alle für einen, einer für alle. Was für die Musketiere galt, gilt auch für die Nato-Staaten.“ Man sei „einander verpflichtet“, gewähre „einander Schutz und Beistand“ und werde „jeden Quadratzentimeter des Bündnisgebietes verteidigen“. Dazu wolle man „besonders die Ostflanke der Nato weiter stärken“.

Scholz’ Bekräftigung der „Beistandspflicht“ hat potentiell katastrophale Folgen. Artikel 5 des Nato-Vertrags legt fest, „dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere“ Parteien „als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird“ und das Militärbündnis „Beistand leistet, … einschließlich der Anwendung von Waffengewalt“. Mit anderen Worten: falls der Ukraine-Krieg auf ein Nato-Land übergreift, verpflichtet Scholz Deutschland darauf, mit dem gesamten Bündnis gegen die Atommacht Russland in den Krieg zu ziehen.

Tatsächlich bereitet die herrschende Klasse genau das vor. Bereits Ende Januar erklärte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der aktuell die USA und Kanada bereist, dass sich Deutschland auf einen direkten Krieg mit Russland vorbereiten müsse. Als Zeitraum nannte er „die nächsten drei bis fünf Jahre“, die man „intensiv nutzen“ müsse, „um uns zu wappnen“ und Deutschland wieder „kriegstüchtig“ zu machen.

Seitdem werden die Kriegsvorbereitungen noch aggressiver vorangetrieben. Mit dem Osnabrücker Erlass wurden die strukturellen Voraussetzungen für eine „kriegstüchtige“ Armee geschaffen. Zugleich wird die Aufrüstung und umfassende Militarisierung der Gesellschaft forciert. Kriegsunterricht an den Schulen, die jüngst beschlossene Einführung eines „Veteranentags“, der an das berüchtigte Heldengedenken der Nazis erinnert, und die geplante Wiedereinführung der Wehrpflicht sind nur einige Beispiele.

Auf der Pressekonferenz mit Stubb brüstete sich Scholz damit, die Verteidigungsausgaben auf über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts hochgeschraubt zu haben. Zudem habe die Ampel-Regierung „entschieden, dauerhaft eine Brigade in Litauen zu stationieren“ und man halte „weitere umfangreiche Kräfte in hoher Bereitschaft“. Deutschland sei „die Drehscheibe im Herzen Europas, damit alliierte Kräfte verlegt werden können an die Einsatzorte“.

Aktuell läuft die Übung „Steadfast Defender“ auf ihren Höhepunkt zu. Mit insgesamt rund 90.000 Soldaten – davon über 12.000 aus Deutschland – und hunderten Panzern und Flugzeugen handelt es sich um das größte Manöver der Nato seit Ende des Kalten Kriegs. Es hat den Charakter einer regelrechten Kriegsmobilisierung gegen Russland. Man probe für „den Ernstfall“ und sende damit „ein Zeichen an die russische Seite“ zitiert die offizielle Website Bundeswehr den für die Übung mitverantwortlichen Oberst im Generalstabsdienst Dirk Hamann. Anfang der Woche hatte Scholz höchstpersönlich deutsche Soldaten im Baltikum besucht und auf einem Panzer einem Teil der Militärübung beigewohnt.

In seiner Rede auf der diesjährigen internationalen Maikundgebung des IKVI, erklärte David North, der Vorsitzende der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, es sei „höchste Zeit“ für die Nato-Führer, „den Menschen zu sagen, dass ihr Streben nach einem ‚Sieg in der Ukraine‘ das Risiko eines Atomkriegs bedeutet, und ohne Aussparung der Details zu beschreiben, was mit ihren Ländern und der Welt geschehen wird, wenn die Konfrontation mit Russland die atomare Schwelle überschreitet.“

Scholz und die herrschende Klasse wissen genau, welche Auswirkungen eine nukleare Eskalation gerade auch für Deutschland hätte. Als die viel beschworene „Drehscheibe“ des Nato-Aufmarsches gegen Russland wäre es eines der ersten Ziele und könnte in einem Atomkrieg in kürzester Zeit umfassend zerstört werden – mit zig Millionen Toten.

Eine Greenpeace-Studie mit dem Titel „Auswirkungen einer Atombombe auf Deutschland“, die bereits 2019 erschien, gibt einen Eindruck über das Ausmaß der Vernichtung. Die Studie erörtert die Auswirkungen eines Atombombenabwurfs auf drei potentielle Ziele – das Regierungsviertel in Berlin, das Finanzzentrum Deutschlands in Frankfurt und den Fliegerhorst Büchel, wo die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen lagern.

Auswirkungen einer 20-Kilotonnen Atombombe in Berlin [Photo: Greenpeace-Studie]

Das erste Szenario beschreibt die Detonation einer 20-Kilotonnen-Atombombe auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude. Die Studie hält fest: „In einem Radius des Feuerballs von 260 m (0,22 km²) wird alles verdampft... In diesem Bereich liegt der Bundestag“. Der Radius des Gebiets mit „schweren Explosionsschäden“ würde 590 Meter betragen. In diesem würden „Betongebäude schwer beschädigt oder zerstört“ und „die Zahl der Todesopfer“ annähernd „100 Prozent“ betragen.

Weiter heißt es: „Bis in eine Entfernung von 1,41 km vom Explosionsort und auf einer Gesamtfläche von 6,22 km²… erhalten Menschen im Freien eine Strahlendosis durch Sofortstrahlung von mindestens 5 Sv [Sievert]. Diese Strahlendosis ist für die meisten Menschen tödlich, insbesondere aufgrund der zusätzlichen Verletzungen durch die Druck- und Hitzewelle. Die Menschen würden innerhalb eines Monats sterben.“

Besonders dramatisch sei, dass mit der Charité ein großes Krankenhaus in diesem Bereich liege und damit medizinisches Personal nicht mehr zur Verfügung stünde. Aber auch die Humboldt-Universität, der Tiergarten und das Regierungsviertel lägen „in diesem Radius. Würde die durchschnittliche Bevölkerungszahl zugrunde gelegt, wären mehr als 25.000 Menschen betroffen.“ Insgesamt würden allein durch die entstehende Druck- und Hitzewelle 26.760 Todesfälle und 73.550 Verletzte entstehen. Hinzu kämen rund 120.000 Tote durch die Fallout-Strahlung und über 50.000 spätere Todesfälle durch eine Krebserkrankung.

Noch dramatischer sind die Auswirkungen, die die Studie im zweiten Szenario, dem Abwurf einer größeren 550-Kilotonnen Atombombe auf Frankfurt am Main, beschreibt. Hier wären rund 500.000 Tote als direkte Folge des Angriffs zu erwarten und rund 165.000 spätere Todesfälle durch eine Krebserkrankung. Für das dritte Szenario, die Detonation einer 170-Kilotonnen Atomwaffe in Büchel, ermittelt die Studie 130.000 unmittelbare Todesfälle und 80.000 spätere Todesfälle durch eine Krebserkrankung.

Wenn führende Politiker und Medienvertreter provokativ erklären, man dürfe sich vom russischen Atomwaffenarsenal und derartigen Szenarien nicht abschrecken lassen, hat das ein Element von Wahnsinn. Doch der Kriegswahnsinn, der mit massiven Angriffen auf die sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiterklasse einhergeht, hat eine objektive Grundlage. „Biden, Sunak, Macron und Scholz sind keine geisteskranken Menschen“, erklärt North. „Sie sind jedoch die Führer eines kapitalistischen Systems, das von Krisen zerrissen ist, für die sie keine fortschrittlichen, gesellschaftlich vernünftigen, geschweige denn humanen Lösungen finden können.“

Die Arbeiterklasse muss der imperialistischen Vernichtungslogik, die in Gaza bereits in einem neuen Genozid an den Palästinensern kulminiert, ein revolutionäres sozialistisches Programm entgegensetzen. Im Wahlaufruf der SGP für die Europawahlen heißt es: „Die einzige legitime Schlussfolgerung, die aus dem Vernichtungskrieg und dem Holocaust, den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, gezogen werden kann, ist diese: die Arbeiterklasse darf Krieg und Faschismus nie wieder zulassen und muss die Wurzel dieses Grauens, den Kapitalismus, ein für alle Mal beseitigen.“

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