Abgeordnetenwatch.de zensiert Europawahlkandidatin der SGP

Kriegspolitik verträgt sich nicht mit Demokratie. Je offener die Regierung Kurs auf Aufrüstung und Krieg nimmt, desto stärker muss die Meinungsfreiheit politischer Zensur und Gleichschaltung weichen. Das gilt nicht nur für die Regierung und staatliche Institutionen, die mit brutalen Repressionsmaßnahmen gegen Kriegsgegner und Verteidiger der Palästinenser vorgehen, sondern auch für die Medien und Organisationen in ihrem Umfeld.

Diese Erfahrung musste auch Marianne Arens machen, die für die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) zum Europaparlament kandidiert. Die Plattform abgeordnetenwatch.de unterzieht ihre politischen Auffassungen einer weitreichenden Zensur. Obwohl sie sich selbst als „überparteilich und institutionell unabhängig“ bezeichnet, weigert sich die Plattform strikt, politische Standpunkte zu veröffentlichen, die der offiziellen Linie der Regierung und der etablierten Parteien widersprechen.

Abgeordnetenwatch.de wird von einem eingetragenen Verein getragen, pflegt aber enge Beziehungen zu staatlichen Stellen und diversen Medien. So war die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach Schirmherrin des Projekts, das eine Medienpartnerschaft mit den Onlineausgaben von Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Stern, Welt, Frankfurter Rundschau und Tagesspiegel unterhält.

Marianne Arens kandidiert in der Europawahl für die Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP)

Die Plattform hatte sich in mehreren Bundesländern, darunter auch in Hessen, mit der Aufforderung an die Europawahlkandidaten gewandt, sich in einem Profil kurz vorzustellen und elf vorformulierte Fragen zur Europäischen Union zu beantworten.

Als ihr Arens die angeforderten Texte zuschickte, weigerte sich die Plattform, das Profil zu veröffentlichen, weil es das israelische Vorgehen gegen die Palästinenser als „Genozid“ bezeichnet. Sie wies außerdem fünf von elf Antworten auf die vorformulierten Fragen zurück und verlangte, dass sie geändert, angepasst und geglättet werden. Andernfalls würden die beanstandeten Sätze herausgestrichen.

In einem Protestbrief verbot Arens abgeordnetenwatch.de darauf strikt, die Texte „in veränderter oder gekürzter Form zu veröffentlichen“. Sie bezeichnete das Anliegen als „politische Zensur“, die „einer Diktatur, aber keiner Demokratie“ entspricht. „Erlaubt ist demnach nur, was der offiziellen Regierungspolitik entspricht,“ schrieb sie. „Demokratie beginnt aber dort, wo man sagen darf, was der Regierung widerspricht.“

Arens hatte den folgenden Text zu ihrem Profil eingereicht:

Mein wichtigstes Anliegen ist es, den drohenden dritten Weltkrieg zu stoppen. Ich wende mich an die arbeitende Bevölkerung, die ihn in jeder Hinsicht bezahlen wird. Wir müssen verstehen, dass die kapitalistischen Regierungen als Antwort auf ihre Krise nur Krieg und Diktatur kennen und deshalb Arbeitsplätze, Löhne und demokratische Rechte angreifen. Sie unterdrücken den Widerstand gegen den Gaza-Genozid, den sie als „antisemitisch“ verleumden. Die Sozialistische Gleichheitspartei, die sich auf Leo Trotzki beruft, stellt diesem tödlichen Kurs die internationale Einheit der Arbeiterklasse entgegen.

Die Antwort kam postwendend in Form einer Email, in der es heißt:

Sie haben eine unbelegte Tatsachenbehauptung aufgestellt, die wir in dieser Form nicht freigeben können („Sie unterdrücken den Widerstand gegen den Gaza-Genozid, den sie als ‚antisemitisch‘ verleumden.“). Gerne können Sie diese Aussage den Fakten entsprechend umformulieren und dabei vor allem den Begriff „Genozid“ auslassen, oder wir streichen die Stelle für Sie aus der Beschreibung.

Arens erwiderte darauf:

Es muss erlaubt sein, den israelischen Angriff auf die Palästinenser im Gazastreifen als „Völkermord“ oder „Genozid“ zu bezeichnen. Dieser Begriff ist gerechtfertigt und wird auf der ganzen Welt genutzt. Am 26. Januar 2024 kam der Internationale Gerichtshof (IGH) bezüglich der Klage Südafrikas gegen Israel zum Schluss, dass die Fakten ausreichten, um die Klage als „plausibel“ einzuordnen. Südafrika hatte gemäß der UN-Völkermordkonvention von 1948 geklagt.

„Ein Fall von Völkermord wie aus dem Lehrbuch“, so bezeichnete es Craig Mokhiber, ehemaliger Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Seit November 2023 unterstützen Dutzende UN-Mitglieder den Aufruf der Sonderbeauftragten für Menschenrechte in Palästina, Francesca Albanese, und ihres UN-Expertenteams, die Palästinenser im Gaza gegen Völkermord zu schützen.

Diese UN-Mitglieder, also anerkannte Staatsoberhäupter, sowie Milliarden Menschen auf der ganzen Welt nutzen den Begriff des „Genozids“ – aber auf abgeordnetenwatch.de darf er nicht verwendet werden?

Inzwischen hat die israelische Armee mindestens 40.000 Palästinenser umgebracht, mehr als die Hälfte davon Kinder und Frauen. Israel hat den Gazastreifen von Wasser, Strom und Lebensmitteln abgeschnitten und etwa 80 Prozent der Häuser in Schutt und Asche gebombt. Am selben Tag, als Abgeordnetenwatch seine Kritik losschickte, wurden im Gazastreifen mehr als 300 Leichen erschossener Patienten in vier Massengräbern neben den zerbombten Krankenhäusern aufgefunden.

Das Erschießen wehrloser Kranker ist ein weiterer Beweis dafür, dass Israel (mit aktiver Waffenhilfe aus Deutschland und den USA) nichts anderes anstrebt als die „Endlösung der Palästinenserfrage“. Ein Angriff auf Rafah, mit dem Israel die Vertreibung von rund zwei Millionen Palästinensern aus dem Gazastreifen vollenden will, steht unmittelbar bevor.

Auch bei den abgelehnten Antworten auf die vorformulierten Fragen übt Abgeordnetenwatch nackte politische Zensur aus. In diesem Teil der Präsentation können Wahlkandidaten jeweils mit „Stimme zu“, „Lehne ab“ oder neutral antworten und ihre Meinung mit einer kurzen Stellungnahme, nicht länger als 300 Zeichen, begründen.

Bei These 1 ging es um das Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat in der Außen- und Sicherheitspolitik und dessen geplante Abschaffung. Abgeordnetenwatch kritisierte:

Zu These 1 schreiben Sie: „Der Europäische Rat ist eine Verschwörung der mächtigsten Konzerne, Banken und Staaten Europas. Die kapitalistische Krise, der Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine und die Konflikte mit den USA verschärfen die historischen Gegensätze unter ihnen.“ Diese unbelegbaren Aussagen bitten wir Sie zu entfernen.

Ähnlich reagierte Abgeordnetenwatch auf die Antwort auf These 10, in der Arens geschrieben hatte: „Die EU ist eine Lobby der europäischen, vornehmlich deutschen Banken und Konzerne.“ Dazu „bittet“ Abgeordnetenwatch.de um „seriöse Quellen“.

Darauf erwiderte Arens in ihrer Antwort:

Warum fragen Sie dazu nicht die Bauern, die seit Monaten gegen EU-Regierungen Sturm laufen? Fragen Sie doch die griechischen Arbeiter und Rentner, die aufgrund der EU-Beschlüsse ihr Einkommen verloren haben! Oder die tausenden geflüchteten Menschen, die in Internierungslagern wie Moria festsitzen oder nach Libyen, in die Hand von Folterknechten, zurückgestoßen werden?

Ich wiederhole: Das Verbieten solcher Aussagen, die der offiziellen Politik widersprechen, ist politische Zensur.

Besonders krass wird die politische Zensur da, wo es um die unmittelbare Kriegspolitik der Ampel-Koalition geht. In These 3 wird die „Notwendigkeit“ höherer Verteidigungsausgaben beschworen, „um Sicherheit in Europa sicherzustellen“. Dazu hatte Arens geschrieben:

Zwei Weltkriege sind genug! Die Behauptung, Aufrüstungsprojekte, die natürlich von der arbeitenden Bevölkerung bezahlt werden müssen, dienten unserer „Sicherheit“, sind eine gefährliche Lüge. Schon jetzt sterben Hunderttausende in der Ukraine und in Russland, im Gazastreifen und anderswo.

Abgeordnetenwatch antwortete, hier werde suggeriert,

dass Hunderttausende in der Ukraine sterben, weil die EU mehr in Verteidigung investiert. Stattdessen sterben jedoch Hunderttausende aufgrund des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands. Auch diese Aussage bitten wir Sie zu ändern.

Zunächst ist festzuhalten, dass auch Abgeordnetenwatch nicht bestreitet, dass in diesem Krieg „Hunderttausende sterben“, um dann gebetsmühlenartig das Mantra der Scholz-Regierung zu wiederholen, dass die Kriegsschuld allein auf russischer Seite liege. Darauf kommen sie Zusammenhang mit These 7 („Ein zügiger Beitritt der Ukraine liegt im Interesse der EU“) zurück, wo Arens geschrieben hatte:

Lehne ab. Es war gerade die Vereinnahmung der Ukraine durch die EU und ihre Hochrüstung mit Nato-Waffen gegen Russland, die das oligarchische Putin-Regime zum Angriff provozierten.

Auch hierzu „bittet“ Abgeordnetenwatch „um seriöse Quellen, die eindeutig belegen, dass die EU und die NATO die Verantwortung für die russische Invasion in der Ukraine haben“, andernfalls die Aussage „angepasst“ werden müsste.

Es ist jedoch ein Fakt, dass die russische Invasion eine Reaktion auf die ständige Ausdehnung der Nato nach Osten war, die 2014 in dem von Washington und Berlin orchestrierten Putsch in Kiew gipfelte. Seither hat die Nato die ukrainische Armee systematisch reorganisiert und aufgerüstet, was das Putin-Regime als existenzielle Bedrohung empfinden musste.

Die SGP ist eine entschiedene Gegnerin des Putin-Regimes. Sein Sturz ist aber nicht Aufgabe der Nato, die Russland aufspalten und kolonial unterwerfen will und die ukrainische Bevölkerung dafür als Kanonenfutter missbraucht, sondern der russischen und internationalen Arbeiterklasse.

Die SGP lehnt den Nato-Krieg gegen Russland entschieden ab und fordert den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen. Sie tritt für den Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung ein, die sich auf die Arbeiterklasse stützt und den Kampf gegen Krieg mit dem Kampf gegen seine Ursache, den Kapitalismus, verbindet. Sie arbeitet eng mit der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten zusammen, die sich in Russland und der Ukraine für ein Ende dieses mörderischen Krieges einsetzen.

Diesen prinzipiellen, sozialistischen Standpunkt gegen Krieg lässt Abgeordnetenwatch nicht zu. Das entlarvt die Plattform als ein Propaganda- und Zensurinstrument der Regierung.

Wen wundert es da, dass sie auch eine Antwort von Arens zensiert, die sich ausdrücklich gegen Zensur wendet. Die These 5 („Internetdienste sollen verpflichtet werden, private Chats aller Nutzer:innen auf Straftaten zu durchsuchen und an Behörden zu melden“) hatte Arens mit der Begründung abgelehnt:

Um den Widerstand gegen ihre Kriege zu unterdrücken, nehmen europäische Regierungen und Staaten wieder Zuflucht zu Zensur. Dies ist Bestandteil und Verstärkung ihrer Hinwendung zu diktatorischen Maßnahmen.

Auch hier drohte Abgeordnetenwatch mit Entfernung, falls die Antwort nicht mit „seriösen Quellen“ belegt werde. – Seriöse Quellen? Ihr eigenes Verhalten ist der beste Beweis für das Ausbreiten von Zensur in jedem Bereich der öffentlichen Meinungsbildung. Die SGP fordert, dass Abgeordnentenwatch Arens‘ Statements im gesamten Wortlaut veröffentlicht und jede Form der politischen Zensur unterlässt.

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