Am Freitag veröffentlichte der Internationale Gerichtshof (IGH) eine 86 Paragraphen umfassende Entscheidung über den Antrag der Regierung Südafrikas, die „vorläufige Maßnahmen“ gegen Israel angestrengt hatte. Südafrika hatte Israel vorgeworfen, in Gaza einen Völkermord unter Verstoß gegen die Völkermordkonvention von 1948 zu verüben.
Zwar ist die Entscheidung in zurückhaltendem Ton verfasst, aber dennoch vernichtend. Die Richter schreiben: „Zumindest einige der von Südafrika behaupteten Handlungen und Unterlassungen, die Israel in Gaza begangen haben soll, scheinen unter die Bestimmungen der Konvention zu fallen“.
Gleichzeitig lehnte es der IGH ab, einen Stopp der seit Monaten andauernden Angriffe Israels auf die Zivilbevölkerung in Gaza zu fordern, und ordnete lediglich als „vorläufige Maßnahmen“ an, dass Israel seinen bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen und innerhalb eines Monats einen Bericht vorlegen soll. Dieses eklatante Versäumnis, ein Ende des Gemetzels zu fordern – eine Forderung, die sich logisch aus den Feststellungen des Gerichts ergibt –, wird als das angesehen werden, was es ist: eine Kapitulation vor dem politischen Druck der imperialistischen Mächte.
Mit der Entscheidung bleibt der IGH weit hinter der von der UN-Generalversammlung im Dezember verabschiedeten Resolution zurück, in der sich 153 der 193 Mitgliedstaaten für einen „Waffenstillstand“ aussprachen. 10 stimmten dagegen (darunter die USA und Israel) und 23 enthielten sich (darunter das Vereinigte Königreich und Deutschland).
Stattdessen ordnete der IGH lediglich an, dass Israel innerhalb von 30 Tagen einen „Bericht“ über die Umsetzung der Anordnung vorlegt.
In diesem frühen Stadium des Verfahrens, das am 29. Dezember eingeleitet wurde, müssen die Richter lediglich feststellen, ob die Vorwürfe „plausibel“ sind, bevor sie einstweilige Anordnungen erlassen. Der Fall selbst wird sich wahrscheinlich über Jahre hinziehen, bevor er zu einem eindeutigen Ergebnis kommt.
Das Urteil des IGH wird zu Recht als vernichtende Anklage nicht nur gegen die israelische Regierung, sondern auch gegen den US-Nato-Imperialismus gewertet werden, der Israel in dem anhaltenden Völkermord in Gaza mit Waffen beliefert, finanziert und verteidigt hat.
Am 3. Januar beispielsweise bezeichnete der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, den Fall als „wertlos, kontraproduktiv und bar jeder faktischen Grundlage“. Am Freitag entschied der IGH genau das Gegenteil.
Die Entscheidung des IGH ist auch eine scharfe Abfuhr für politische Figuren wie den Sprecher des US-Außenministeriums, Matt Miller, der Anfang des Monats den Vorwurf des „Völkermords“ verächtlich abtat und vor Reportern erklärte, die US-Regierung sehe „keine Handlungen, die einen Völkermord darstellen“.
Die deutsche Regierung, die versucht hat, im Namen Israels in den Fall einzugreifen, steht ebenfalls bloßgestellt da. Das gilt auch für den Kolumnisten der New York Times, Bret Stephens, der den gegen Israel erhobenen Völkermord-Vorwurf in einer Kolumne Mitte Januar als „moralische Obszönität“ bezeichnete.
Millionen von Studierenden, Arbeitern und jungen Menschen nehmen weiterhin an Protesten und Demonstrationen auf der ganzen Welt teilnehmen, obwohl sie sich ständigen Repressionen, gewaltsamen Provokationen und einer Hexenjagd ausgesetzt sehen, bei der sie als „Antisemiten“ beschimpft werden. Sie werden sich durch die Entscheidung des IGH zu Recht bestätigt sehen.
In dem Dokument werden die folgenden Zahlen genannt: „25.700 Palästinenser wurden getötet, mehr als 63.000 Verletzte gemeldet, mehr als 360.000 Wohneinheiten zerstört oder teilweise beschädigt und etwa 1,7 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben.“
In dem Beschluss wird Martin Griffiths, Unter-Generalsekretär der UN für humanitäre Angelegenheiten, zitiert. Er widersprach den wiederholten Behauptungen der israelischen Regierung, dass sie keine Zivilisten oder Krankenhäuser angreife: „Gebiete, in denen Zivilisten laut offiziellen Angaben Schutz suchen sollten, sind bombardiert worden. Medizinische Einrichtungen sind unablässigen Angriffen ausgesetzt.“
In dem Beschluss wird auch der Generalkommissar des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge, Philippe Lazzarini, zitiert:
In den letzten 100 Tagen hat die anhaltenden Bombardierung des Gazastreifens zur massenhaften Vertreibung einer Bevölkerung geführt, … die ständig entwurzelt wird und gezwungen ist, über Nacht von einem Ort an einen anderen zu fliehen, der ebenso unsicher ist. Es ist die umfassendste Vertreibung des palästinensischen Volkes seit 1948.
Die Entscheidung des IGH stellt dieses massenhaft zugefügte menschliche Leid den völkermörderischen Äußerungen gegenüber, die aus den höchsten Kreisen des israelischen Staates stammen. Dazu gehört die Aussage von Verteidigungsminister Yoav Gallant, dass der Gazastreifen von „menschlichen Tieren“ bevölkert sei. Darüber hinaus erklärte Gallant: „Wir werden alles eliminieren“.
Der IGH zitierte auch Israel Katz, den damaligen israelischen Minister für Energie und Infrastruktur, der am 13. Oktober schrieb: „Die gesamte Zivilbevölkerung in Gaza ist angewiesen, den Ort sofort zu verlassen. ... Sie werden keinen Tropfen Wasser oder eine einzige Batterie erhalten, bis sie die Welt verlassen haben.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Der IGH kam zu dem Schluss, dass diese Fakten „für die Schlussfolgerung ausreichen, dass die Klage Südafrikas im Hinblick auf zumindest einige Rechte, deren Schutz es geltend macht, plausibel ist“, darunter „das Recht der Palästinenser in Gaza, vor Völkermord geschützt zu werden.“
Während das Verfahren vor dem IGH lief, hat Israel seine Kriegsverbrechen und Massaker unaufhaltsam fortgesetzt. In den Stunden vor der Entscheidung des IGH am Freitag schossen die israelischen Streitkräfte auf eine Menge von tausenden Menschen, die in Gaza-Stadt auf humanitäre Hilfe warteten. 20 Menschen wurde dabei getötet und weitere 150 verletzt. Von Mittwoch bis Donnerstag töteten die israelischen Streitkräfte in einem Zeitraum von 24 Stunden über 200 palästinensische Zivilisten.
Unter Verweis auf Israels anhaltende Blockade von Lebensmitteln, Energie, medizinischer Versorgung und Treibstoff für den Gazastreifen schreibt der IGH in seiner Entscheidung, dass „die katastrophale humanitäre Lage im Gazastreifen“ drohe, „sich weiter zu verschlechtern, bevor das Gericht sein endgültiges Urteil fällt'. Dies rechtfertige wiederum die Anordnung „vorläufiger Maßnahmen“.
Dass die „vorläufigen Maßnahmen“ des IGH keine ernsthaften Folgen haben werden, wird durch die Tatsache unterstrichen, dass der von Israel für den Prozess entsandte Richter Aharon Barak sich vielen von ihnen anschloss, einschließlich der Ermahnung, dass Vertreter Israels von einer weiteren Aufhetzung zum Völkermord absehen und humanitäre Hilfe in den Gazastreifen lassen sollen.
Auch wenn die Entscheidung des IGH insofern von großer Bedeutung ist, als sie die Komplizen des Völkermords zurechtweist, so handelt es sich dabei dennoch, wie das Magazin Foreign Affairs zuletzt feststellte, um eine politische Entscheidung: einen Versuch, einen „Mittelweg“ zu finden. Es gehe darum, einerseits die „überwältigende weltweite Besorgnis über die außerordentlichen Verluste an Menschenleben in Gaza“ anzuerkennen – gemeint sind die Massenproteste der Bevölkerung auf der ganzen Welt, die trotz aller Bemühungen, sie zu entmutigen und zu unterdrücken, weitergehen. Gleichzeitig habe es das Gericht vermieden, tatsächlich „ein Ende der israelischen Militäroperation“ anzuordnen, was „Israel und die Vereinigten Staaten mit ziemlicher Sicherheit abgelehnt hätten“.
In seiner Reaktion auf die Entscheidung begrüßte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu die Tatsache, dass das Gericht keinen Waffenstillstand gefordert hat, als eine Anerkennung des „Rechts Israels auf Selbstverteidigung“. Gleichzeitig bezeichnete er es als „empörend“, dass das Gericht auf genozidale Handlungen und Äußerungen Israels verweist. Israels faschistischer Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, auf den in dem Prozess verwiesen wurde, verurteilte ihn als „Heuchelei“. Netanjahu hatte zuvor erklärt, dass Israel seine Operationen im Gazastreifen fortsetzen werde, ganz gleich, welche Anordnungen der IGH erteile. Er sagte: „Niemand wird uns aufhalten – nicht Den Haag, nicht die Achse des Bösen und auch sonst niemand“.
Die Weigerung des IGH, angesichts der überwältigenden Beweise für den Völkermord in Gaza auch nur zu einem Waffenstillstand aufzurufen, unterstreicht seinen Charakter als imperialistische Institution. Im März 2022, nur wenige Wochen nach Beginn des Krieges in der Ukraine, hatte der IGH dagegen keine solchen Skrupel. Das Gericht forderte Russland auf, „seine am 24. Februar begonnenen militärischen Operationen unverzüglich einzustellen“.
Das Urteil vom Freitag bestätigt die Warnung der World Socialist Web Site nach der verheerenden Darlegung des Falls durch Südafrika vor dem IGH Anfang des Monats. Wir schrieben: „Es ist notwendig, aus den Verhandlungen vom Donnerstag die gegenteilige Schlussfolgerung zu ziehen als diejenigen, die jetzt Illusionen schüren, sie würden eine Wiedergeburt demokratischer, humaner und rationaler Gefühle in den Hallen der Vereinten Nationen ankündigen…“
Um den Völkermord zu stoppen, die Täter zu entwaffnen und die Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, ist die Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse auf der Grundlage ihrer eigenen unabhängigen Politik und ihrer Klasseninteressen erforderlich. Diese stehen im Gegensatz zu allen bürgerlichen Parteien, Politikern und imperialistischen Staaten, die durch ihre Komplizenschaft und Beteiligung an Israels Völkermord an den Palästinensern für immer befleckt sein werden.