Perspektive

Die sozialen Wurzeln der Erdbebenkatastrophe in Marokko

Nach dem Erdbeben: Frau vor ihrem zerstörten Haus im Dorf Tafeghaghte, in der Nähe von Marrakesch, 11. September 2023 [AP Photo/Mosa’ab Elshamy]

Am Freitagabend, dem 8. September, um 23.11 Uhr Ortszeit erschütterte ein verheerendes Erdbeben der Stärke 6,8 auf der Richterskala den Süden Marokkos in der Nähe von Marrakesch. Mittlerweile ist die offizielle Zahl der Todesopfer auf über 2.900 Menschen gestiegen. Die größte Zerstörung kam in kleinen, abgelegenen Orten im Hohen Atlas vor, wo das Beben sein Zentrum hatte. Mindestens 5.500 Menschen sind verletzt, viele davon schwer. Für viele weitere, die noch unter eingestürzten Gebäuden begraben sind, wird die Zeit knapp.

In der marokkanischen Großstadt Marrakesch, die über eine Million Einwohner zählt und ein Zentrum des internationalen Tourismus ist, starben 18 Menschen. Die Mehrzahl der Opfer ist in Bergdörfern zu beklagen, wo alte, anfällige Lehmziegelhäuser durch das Beben zerstört worden sind. In dem Dorf Tafeghaghte kamen 90 von 200 Einwohnern ums Leben, zig weitere werden noch vermisst und sind vermutlich tot oder in den Trümmern verschüttet.

Die wenigen Presseberichte aus diesen Dörfern zeigen, dass die marokkanische Regierung die Erdbebenopfer weitgehend ihrem Schicksal überlässt. Privatpersonen in Agadir, Marrakesch oder anderen Gebieten, die weniger stark vom Beben betroffen sind, kaufen Lebensmittel, Wasser und andere lebenswichtige Güter und bringen sie in ihren eigenen Autos in die betroffenen Dörfer.

„Von den Behörden ist im Moment nichts zu sehen. Wir sind hier so isoliert. Ohne die Hilfe dieser Menschen würden wir verhungern“, sagt Mustafa El-Machmoum, Bewohner eines vom Beben betroffenen Dorfes, der AFP. „Wir haben die Behörden gestern um Zelte gebeten, aber es ist nichts angekommen. Wir schlafen in der Kälte auf dem Boden. Erwachsene können das verkraften, aber die Kinder nicht.“

Genau wie das türkisch-syrische Erdbeben, das im vergangenen Februar Zehntausende von Menschenleben forderte, ist auch das marokkanische Beben nicht nur eine Naturkatastrophe. Das Wissen und die Technologie, wie man die Auswirkungen solcher Ereignisse stark eindämmen kann, sind vorhanden. Dass das Beben derart katastrophale Folgen hat, das ist ganz und gar mit den bestehenden wirtschaftlichen Interessen und gesellschaftlichen Verhältnissen verbunden. Im Kapitalismus wird die Politik durch das Streben der herrschenden Eliten nach Unternehmensgewinn und persönlichem Reichtum dominiert. Für das Leben der breiten Masse der Bevölkerung bleibt nur Verachtung übrig.

Die Wirksamkeit moderner, erdbebensicherer Häuser und die Notwendigkeit, sie zu bauen, sind der Wissenschaft wohl bekannt. Das Erdbeben von Fukushima 2021 in Japan, einem der erdbebengefährdetsten Länder der Welt, erreichte eine Stärke von über 7 auf der Richterskala. Dank der beträchtlichen Investitionen in erdbebensichere Häuser in Japan starben jedoch nur drei Menschen und 16 wurden schwer verletzt.

Im Jahr 2021 stellte das International Journal of Disaster Risk Science fest, dass weltweit 1,5 Milliarden Menschen in erdbebengefährdeten Gebieten leben. Eine Forbes-Liste der 10 erdbebengefährdetsten Städte (Kathmandu, Istanbul, Delhi, Quito, Manila, Islamabad, San Salvador, Mexiko-Stadt, Izmir und Jakarta) weist lauter Millionenstädte aus. In einem Nature-Artikel aus dem Jahr 1999 wird davor gewarnt, welche Folgen es hat, wenn erdbebensichere Wohnungen eine „niedrige Priorität“ haben. Weiter heißt es dort: „In künftigen Städten wäre das Fehlen erdbebensicherer Gebäude nicht zu entschuldigen.“

Die Kapitalistenklasse, die jede nationale Regierung kontrolliert, lehnt die notwendigen Ausgaben für sichereren Wohnraum ab. Sie betrachtet sie als untragbare Belastung für ihre Profite. Stattdessen sind seit 1990 Billionen Dollar in Bankenrettungen und Kriege geflossen. Die USA und die Nato haben Kriege in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Mali und der Ukraine finanziert. Heute besitzen die acht reichsten Menschen der Welt so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Doch in unzähligen erdbebengefährdeten Gebieten leben Millionen von Menschen nach wie vor in Behausungen, die im Falle eines großen Bebens zu Todesfallen werden.

Marokko liegt an der Verwerfung zwischen der afrikanischen und der eurasischen tektonischen Platte und wurde bereits von schweren Erdbeben heimgesucht; so gab es schwere Beben in den Jahren 1960 in Agadir und 2004 in Al Hoceima. Doch die marokkanische Bevölkerung lebt nicht nur in unsicheren Lehmziegelhäusern, darüber hinaus wurden auch keine Vorbereitungen für einen umfassenden Katastrophenschutz getroffen.

Der marokkanische König Mohammed VI., ein langjähriger Verbündeter des US-amerikanischen und französischen Imperialismus, verbrachte einen Urlaub in seiner 80-Millionen-Euro-Villa Nahe des Eiffelturms in Paris, als das Beben stattfand. Seit seiner Rückkehr nach Marokko hat er sich nicht geäußert und lediglich einen kurzen Clip ohne Ton veröffentlicht, der ihn bei einem Gespräch mit Sicherheits- und Gesundheitsbeamten zeigt. Der marokkanische Journalist Omar Brouksy erklärte, dass andere Beamte noch keine Erklärungen abgegeben hätten, da es „eine ungeschriebene, aber unbeirrbar befolgte Regel gibt, wonach kein staatlicher Vertreter vor dem Herrscher sprechen oder eine öffentliche Reise unternehmen darf“.

Was die kalte Gleichgültigkeit gegenüber der Notlage der Erdbebenopfer angeht, wird der marokkanische König nur von Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht in Marokko, übertroffen. Frankreichs marokkanische Diaspora zählt über 1,5 Millionen Menschen, und Marrakesch ist in Frankreich ein sehr beliebtes Urlaubsziel. Nachdem die marokkanische Monarchie jedoch angedeutet hatte, dass sie lieber spanische, britische, katarische oder VAE-Rettungsteams als französische im Land sieht, kündigte die Regierung von Präsident Emmanuel Macron eine Spende von gerade mal 5 Millionen Euro für Rettungs- und Hilfsorganisationen in Marokko an.

Das bedeutet, dass Macron eben so viel an Marokko spendet, wie eins der 30 schweren Caesar-Artilleriesysteme kostet, die er für den Nato-Krieg gegen Russland in die Ukraine geschickt hat.

Die Gleichgültigkeit der kapitalistischen Regierungen gegenüber den grundlegenden sozialen Bedürfnissen der Bevölkerung spiegelt ihre Angst und Feindschaft gegenüber der Arbeiterklasse wider. Es sei an das letzte große Erdbeben in Marokko erinnert, welches noch stärker gewesen sein muss als das aktuelle Beben in Marrakesch. Im November 1755 verwüsteten zwei Erdbeben die portugiesische Stadt Lissabon und die marokkanische Stadt Meknès.

In der Passage des „Candide“, die der Aufklärer Voltaire dem Erdbeben von Lissabon widmete, verspottete er die Verfechter der absoluten Monarchien, die damals in Europa herrschten. Die Verwüstungen des Erdbebens von Lissabon brachten ihre selbstgefällige Behauptung, dass in der besten aller möglichen Welten alles zum Besten stehe, ins Wanken. Drei Jahrzehnte, nachdem Voltaire sein Werk veröffentlicht hatte, wurde die absolute Monarchie mit höherem Recht durch die Französische Revolution beseitigt.

Mehr als zweihundert Jahre später offenbart das Erdbeben in Marokko den Bankrott der kapitalistischen Ordnung, die nicht weniger korrupt und überholt ist als die französische absolute Monarchie zu Voltaires Zeiten.

In Libyen meldeten die Behörden der Libyschen Nationalen Armee (LNA) am Montag, dass 2.000 Menschen getötet und über 5.000 vermisst würden, nachdem ein Staudamm gebrochen war. Die Fluten hatten einen Großteil der Stadt Derna weggespült. Die LNA kontrolliert die östliche Hälfte Libyens, die seit dem Nato-Krieg gegen Libyen 2011 zwischen rivalisierenden Milizen aufgeteilt ist, die einen blutigen Bürgerkrieg führen.

In der Türkei leben zigtausende Opfer des Erdbebens vom Februar immer noch in Zelten, während die türkische Regierung den Bau weiterer nicht erdbebensicherer Gebäude zulässt, in welchen die Arbeiter dann erneut leben sollen – bis beim nächsten Beben wieder Tausende sterben werden. Und immer so fort. Gibt es irgendeinen Zweifel daran, dass auch die nächste vermeidbare Erdbebenkatastrophe genauso abläuft, wenn die Angelegenheit in den Händen von Mohammed VI., Macron oder anderen Lakaien der Banken liegt?

Überall auf der Welt sieht die Realität für die Arbeiterklasse so aus: Eine winzige, unverantwortliche herrschende Elite verschwendet riesige soziale Ressourcen, die für das Wohlergehen und sogar das Überleben der Bevölkerung unerlässlich sind. Diese Elite ist für Forderungen nach Veränderung unempfänglich. Ihr Streben richtet sich auf Militarismus und auf das Anhäufen von obszönem Reichtum. Dies gilt sowohl für ehemalige Kolonialländer wie Marokko als auch für imperialistische „Demokratien“ wie Frankreich: Dort hat die Bereitschaftspolizei in diesem Frühjahr Massenproteste gegen Macrons äußerst unpopuläre Rentenkürzungen brutal unterdrückt.

Der Weg vorwärts für die Arbeiterklasse besteht darin, der Bourgeoisie die Kontrolle über die wesentlichen Ressourcen der Weltindustrie und des Welthandels zu entreißen. Die Ressourcen müssen zur Befriedigung grundlegender sozialer Bedürfnisse eingesetzt werden, einschließlich zur Errichtung von erdbebensicheren Gebäuden in gefährdeten Gebieten.

Die objektiven Bedingungen für eine grundlegende Auseinandersetzung zeichnen sich in den Aufständen in Europa und Afrika ab, in denen sich die Wut der Massen entlädt. Zuletzt haben Millionen Arbeiter und Jugendliche den Abzug der französischen Truppen aus Niger, Mali und Burkina Faso gefordert. Um den Kapitalismus abzuschaffen, müssen sich Arbeiter in Afrika, Europa und auf der ganzen Welt zusammenschließen und für den Sozialismus kämpfen.

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