Seit einer Woche gelangen jeden Tag neue Einzelheiten über die rechtsextreme Vergangenheit des stellvertretenden bayrischen Ministerpräsidenten und Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger an die Öffentlichkeit. Inzwischen steht fest, dass der Vorsitzende der Freien Wähler als Jugendlicher ein Neonazi war und das bis heute verteidigt.
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat am Sonntagmittag trotzdem entschieden, dass Aiwanger im Amt bleibt. Er hatte unter erheblichem Druck gestanden, ihn noch vor der Landtagswahl in fünf Wochen zu entlassen.
Söders Entscheidung zugunsten von Aiwanger bedeutet auch, dass er die Zusammenarbeit mit ihm nach der Wahl voraussichtlich fortsetzen wird. Söder hatte sich seit Beginn des Wahlkampfs ausdrücklich für eine Weiterführung des Regierungsbündnisses von CSU und Freien Wählern ausgesprochen, das er als „bürgerliche Koalition“ bezeichnet. Sein Festahlten an Aiwanger ist ein klares Signal, dass Rechtsextremismus in Deutschland kein Hindernis darstellt, höchste Regierungsämter zu bekleiden.
Der Fall Aiwanger
Am 25. August hatte die Süddeutsche Zeitung über ein antisemitisches Flugblatt berichtet, das im Schuljahr 1987/88 in Aiwangers Schule, dem Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg, zirkulierte. Die Schulleitung machte Aiwanger als Urheber der Hetzschrift aus, in dessen Tasche sich mehrere Exemplare davon fanden. Zur Strafe musste er ein Referat über die NS-Zeit halten.
Das Flugblatt ist eine zynische Aneinanderreihung übelster Neonazi-Hetzparolen. Überschrieben mit „Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandverräter?“, lädt es die Teilnahmeberechtigten – „Jeder der Deutscher ist und sich auf deutschem Boden aufhält“ – ein, sich „im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ zu melden.
Als 1. Preis wird ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ versprochen. Weitere Preise sind ein „lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“, ein „kostenloser Genickschuss“, eine „kostenlose Kopfamputation durch Fallbeil“ und eine „Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe (Erfüllungsort ebenfalls das Vergnügungsviertel Auschwitz und Nebenlager)“. Den Gewinnern der Preise 7.-1000. wird „eine Nacht im Gestapokeller, dann ab nach Dachau“ angedroht. Die Hetzschrift endet, indem sie den Gewinnern „viel Vergnügen“ wünscht.
Der Titel des Flugblatts bezog sich offenbar auf den „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“, der seit 1973 alle zwei Jahre stattfindet und Schüler anregen soll, sich mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. An dem Wettbewerb beteiligte sich zur damaligen Zeit mit Roman Serlitzky auch mindestens ein Schüler aus Aiwangers Gymnasium.
Serlitzky reichte seine Arbeit zum „Judenfriedhof bei Mallersdorf-Pfaffenberg“ im Februar 1989 ein und legte ihr als „Negativbeispiel“, wie sich „andere Jugendliche derselben Altersstufe mit dem Dritten Reich beschäftigen“, eine Kopie von Aiwangers Hetzflugblatt bei, ohne allerdings den Namen des Autors zu nennen. Auf dem Friedhof sind 67 KZ-Häftlinge begraben, die im Frühjahr 1945 während eines Todesmarsches aus dem Konzentrationslager Buchenwald umkamen.
Mit den „Vaterlandverrätern“, denen das Flugblatt Auschwitz, Fallbeil und Genickschuss als „Preis“ anbot, waren demnach Teilnehmer des Geschichtswettbewerbs gemeint, die Verbrechen des Nazi-Regimes untersuchten und aufdeckten.
Aiwanger reagierte auf die Veröffentlichung der Süddeutschen, indem er alles leugnete, von einer „Schmutzkampagne“ sprach und der Zeitung mit juristischen Schritten und Schadenersatzforderungen drohte. Als sich diese Linie nicht mehr halten ließ, gab er zu, dass ein oder mehrere Exemplare des Flugblatts in seiner Tasche gefunden worden waren. Er leugnete jedoch, den Text selbst verfasst zu haben. Er kenne den Autor, wolle ihn aber nicht „verpfeifen“, erklärte er.
Am folgenden Tag meldete sich Aiwangers Bruder Helmut zu Wort, der ein Jahr älter ist und dasselbe Gymnasium besucht hatte. Er behauptete, das Flugblatt selbst verfasst zu haben, aus Wut, dass er sitzen geblieben sei. Die Flugblätter seien in die Tasche seines Bruders Hubert gelangt, weil dieser „sie wieder eingesammelt“ habe, „um zu deeskalieren“.
Diese fadenscheinige Ausrede platzte in kürzester Zeit. Es meldeten sich zahlreiche Zeitzeugen, die dem Politiker Aiwanger das Verfassen der Hetzschrift sehr wohl zutrauen, seinem Bruder dagegen eher nicht. Letzterer galt als „cooler“ Typ mit langen Haaren, während Hubert mit streng gescheiteltem Haar und Oberlippenbart auftrat. Helmut schrieb eine Facharbeit über die Rolling Stones, Hubert über einen bayrischen Kampfflieger aus dem Ersten Weltkrieg.
Journalisten von Spiegel und Süddeutscher spürten jeweils rund zwei Dutzend Zeitzeugen auf, von denen viele bestätigten, dass Hubert Aiwanger in der Schule als Neonazi galt.
„Mehrere ehemalige Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte haben Hubert Aiwanger als stramm konservativ bis rechtsradikal in Erinnerung,“ berichtet der Spiegel. Er habe Hitlers Wehrmacht verteidigt und ihr bescheinigt, sie habe sich „ehrenhaft verhalten“. Er habe ab und zu den Hitlergruß gezeigt und nach einem Besuch in einer KZ-Gedenkstätte einen abstoßenden Witz über Juden gemacht.
Eine frühere Schulfreundin erinnerte sich, Hitlers „Mein Kampf“ in Hubert Aiwangers Schultasche gesehen und das Buch selbst einmal in der Hand gehalten zu haben. Eine weitere Mitschülerin versicherte eidesstattlich, auf der Innenseite eines Ordners, den Hubert in der Schule dabeihatte, habe der rassistische Spruch „Schwarzbraun ist die Negersau“ gestanden.
Stephan Winnerl, der damals Schülersprecher am Burkhart-Gymnasium war, berichtete der Süddeutschen von Hakenkreuz-Schmierereien am Schulklo. Der Schuldirektor habe ihm bestätigt, dass Hubert Aiwanger deswegen überführt worden sei. Möglicherweise habe man ihn deshalb sofort wegen des Flugblattes verdächtigt und die Exemplare in seiner Tasche gefunden.
Ein Klassenkamerad Aiwangers, der anonym bleiben will, versicherte der Süddeutschen: „Er war durch und durch ein Nazi.“ Er habe des Öfteren das „Horst-Wessel-Lied“, die verbotene Parteihymne der Nationalsozialisten, angestimmt.
Am 31. August las Hubert Aiwanger schließlich auf einer Pressekonferenz eine kurze Erklärung vom Blatt, in der er sich pro forma entschuldigte. „Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe,“ sagte er. Seine Entschuldigung gelte „zuvorderst allen Opfern des NS-Regimes, deren Hinterbliebenen und allen Beteiligten und der wertvollen Erinnerungsarbeit“.
Gleichzeitig verschärfte Aiwanger die Angriffe auf seine Kritiker. Auf Wahlkampfauftritten in Bierzelten stilisierte er sich vor jubelnden Anhängern als verfolgtes Opfer einer „Schmutzkampagne“, das „politisch und persönlich fertig gemacht werden“ solle. Er leugnete weiterhin, das Hetz-Flugblatt verfasst zu haben, und verhöhnte die jüdischen Opfer des Nazi-Regimes, indem er seinen Kritikern in einem Welt-Interview vorwarf, „die Schoa zu parteipolitischen Zwecken“ zu missbrauchen.
Politischer Rechtsruck
Ministerpräsident Söder (CSU) begründete seine Entscheidung, Aiwanger im Amt zu lassen, damit, dass sich dieser nach seinem Eindruck glaubhaft von seinen schweren Jugendfehlern distanziert habe. Es gebe außerdem keinen Beweis dafür, dass Aiwanger das Flugblatt erstellt oder verteilt habe. Er gab Aiwanger den „ernst und gut gemeinten Rat: Auch wenn all die Sachen lang her sind, ist es wichtig, Reue und Demut zu zeigen“.
Das ist absurd. Aiwanger hatte vor Söders Entscheidung schriftlich 25 Fragen zu den Ereignissen von 1987/88 beantwortet, die ihm dieser vorgelegt hatte, um Zeit zu gewinnen. Seine Antwort auf fast alle Fragen lautete: „Im Detail nicht in Erinnerung“, „das entzieht sich meiner Erkenntnis“, „das ist mir nicht bekannt“, „daran kann ich mich nicht mehr erinnern“, usw.
Noch während Söder die Presse informierte, triumphierte Aiwanger in einem Bierzelt in Keferloh vor johlenden Anhängern: „Ich sage Ihnen voraus, Bayern wird weiter von CSU und Freien Wählern regiert. … Wir werden durch diese Kampagne gestärkt werden.“ Die Berichterstattung über ihn sei ein „schmutziges Machwerk“.
In Wirklichkeit wusste die CSU bereits 2018, als sie eine Koalition mit den Freien Wählern bildete, auf wen sie sich da einließ. Dass Aiwanger rechtsextreme Auffassungen vertrat, war nie ein Geheimnis.
Bereits 2008, kurz nachdem er den Vorsitz der Freien Wähler übernommen hatte und diese erstmals in den Landtag eingezogen waren, hatte Aiwanger persönlich beim damaligen CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer vorgesprochen, weil ein CSU-Mitglied gedroht hatte, er müsse sich „dringend die Schulakte von Hubert Aiwanger besorgen“, um diesen mit deren Inhalten „politisch fertigzumachen“. Aiwanger wollte von Seehofer wissen, ob er ausgeforscht werde, und nannte ihm den Namen des entsprechenden CSU-Mitglieds. Seehofer versicherte ihm, dass dies nicht der Fall sei.
„Wusste die CSU demnach schon seit 15 Jahren von den politisch explosiven Episoden aus Aiwangers Schulzeit – und hat nie etwas gesagt?“, folgert die Süddeutsche Zeitung, die über diese Episode berichtete.
Aiwanger hat die Freien Wähler, die bisher nur auf lokaler Ebene aktiv waren, zu einer schlagkräftigen Partei geformt, die die Empörung über die Klientelpolitik der CSU, die Bayern seit 1957 ununterbrochen regiert, in rechtspopulistische Kanäle lenkt. Er wurde deshalb oft mit dem österreichischen Politiker Jörg Haider verglichen, der die FPÖ in eine rechtsextreme Partei verwandelte. Auch Markus Söder, damals noch CSU-Generalsekretär, hatte Aiwanger bereits 2007 öffentlich vorgeworfen, er bediene sich rechtsextremer Methoden.
Als stellvertretender Ministerpräsident erregte Aiwanger dann immer wieder mit AfD-Positionen Aufmerksamkeit. So wenn er öffentlich gegen den „Corona-Irrsinn“ wetterte und sich brüstete, er lasse sich nicht gegen Covid impfen. Oder wenn er auf Versammlungen dazu aufrief, die „Berliner Chaoten“ (gemeint war die Bundesregierung) vor sich her zu treiben, oder „die schweigende Mehrheit dieses Landes“ aufforderte, „sich die Demokratie wieder zurückzuholen“.
Innerhalb der CSU selbst gibt es starke rechtsextreme Tendenzen, die bis auf ihren Gründer und langjährigen Vorsitzenden Franz-Josef Strauß zurückgehen. Auf europäischer Ebene arbeitet sie eng mit ultrarechten Parteien zusammen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán war gefeierter Gast auf CSU-Klausurtagungen, als er in Ungarn ein autoritäres Regime errichtete. Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, führte in Italien Wahlkampf für Silvio Berlusconi und damit indirekt für die Giorgia Meloni von den faschistischen Fratelli d‘Italia, die die Wahl im Bündnis mit Berlusconi und der rechtsextremen Lega gewann.
Die Freien Wähler boten der CSU 2018 die Möglichkeit, ein Regierungsbündnis mit einer weit rechtsstehenden Partei zu schließen, ohne direkt mit der AfD zusammenzuarbeiten, was in breiten Teilen der Bevölkerung auf Empörung und Ablehnung gestoßen wäre. Diese Zusammenarbeit will Söder unbedingt fortsetzen, trotz der offensichtlichen Nazi-Gesinnung von Aiwanger.
Er sieht sich dazu in der Lage, weil er weder von der SPD noch von den Grünen ernsthaften Widerstand zu fürchten hat. Diese haben zwar pflichtschuldig Aiwangers Rücktritt gefordert, doch in Berlin sind sie Teil einer Bundesregierung, die ein ultrarechtes Programm der äußeren und inneren Aufrüstung, des Kriegs und des Sozialabbaus verwirklicht. In Bayern streben sowohl die SPD wie die Grünen eine Koalition mit Söders CSU an.
Entsprechend abgeschlagen sind sie in den Umfragen zur bayrischen Landtagswahl. Die Grünen liegen mit rund 14 Prozent etwa gleichauf mit AfD und Freien Wählern. Die SPD schwankt um die 10 Prozent. Die CSU, die einst bis zu 60 Prozent erreichte, führt in den Umfragen mit 40 Prozent.
Die herrschende Klasse braucht die Rechtsextremen, um die wachsende Opposition gegen Krieg und soziale Ungleichheit einzuschüchtern und zu unterdrücken. Deshalb hält Söder an Aiwanger fest. Das Signal, das er damit gibt, ist klar: Eine Nazi-Gesinnung ist kein Hindernis mehr, um in eine deutsche Regierung aufgenommen zu werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dies auch für die AfD gilt.