Niederlande: Ruttes Rücktritt ermutigt die extreme Rechte

Am 7. Juli trat der seit 2010 amtierende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte zurück. Drei Tage später kündigte er an, er werde bei der Neuwahl im November nicht als Spitzenkandidat seiner Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) antreten. Bis zur Neuwahl wird er eine geschäftsführende Regierung leiten.

Rutte ist, nach dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der dienstälteste Ministerpräsident in der Europäischen Union. Seine Fähigkeit, in einem Parlament mit mehr als zehn Parteien diverse Koalitionen zusammenzubringen, brachte ihm den Spitznamen „Teflon-Mark“ ein.

Mark Rutte (Mitte) mit Geert Wilders (rechts) und Maxime Verhagen (links) im Jahr 2010 [Photo by Minister-president Rutte / CC BY 2.0]

Im Jahr 2010 nahm Ruttes erste Minderheitsregierung die parlamentarische Unterstützung von Geert Wilders' neofaschistischer Partei für die Freiheit (PVV) in Anspruch, was bis dahin als tabu galt. Im Jahr 2012 bildete er eine Regierungskoalition mit der Arbeiterpartei (PvdA). Im Jahr 2016 ging er eine instabile Koalition mit den Christdemokraten (CDA), den Liberalen (D66) und den Calvinisten der Christlichen Union (CU) ein.

Ruttes dritte Regierung war kurz vor den Wahlen 2021 zusammengebrochen, weil sie Tausenden von Familien fälschlicherweise Sozialbetrug unterstellt und sie zur Rückzahlung von Leistungen gezwungen hatte. 26.000 Familien waren dadurch von einer Insolvenz bedroht. Nach zehnmonatigen Verhandlungen hinter den Kulissen schlossen sich die gleichen Parteien erneut zu einer Koalition zusammen, die jedoch nur 18 Monate durchhielt.

Während die Koalitionspartner von Rutte wechselten, ging sein eigener politischer Kurs immer weiter nach rechts. Seine 13-jährige Amtszeit war von wirtschaftsfreundlicher Politik, strengen Sparmaßnahmen und der Begünstigung der extremen Rechten geprägt.

Angesichts eines drohenden Misstrauensvotums gegen seine zutiefst unpopuläre Regierung hat Rutte nun deren Scheitern in einer Art und Weise provoziert, welche die Flüchtlingspolitik in den Mittelpunkt des Wahlkampfs rückt und bei den Neuwahlen erneut die extreme Rechte begünstigt wird. Er bestand darauf, dass Kinder von „anerkannten Flüchtlingen“, die in den Niederlanden leben, erst nach einer Frist von zwei Jahren zu ihren Eltern ziehen können, weil er wusste, dass sein Koalitionspartner CU, dies nicht akzeptieren werde.

Am Freitagabend erklärte Rutte auf einer Pressekonferenz: „Es ist kein Geheimnis, dass die Koalitionsparteien sehr unterschiedlich über die Asylpolitik denken. Und heute müssen wir leider zu dem Schluss kommen, dass die Differenzen unüberbrückbar sind. Der Sturz einer Regierung ist nie etwas Gutes. Aber in einem Land der Koalitionen wie den Niederlanden ist es manchmal unmöglich, sich zu einigen.“

Die extreme Rechte hat Arbeitsmigranten und Asylsuchende systematisch zum Sündenbock gemacht und sie für alle sozialen Missstände verantwortlich erklärt, vor allem für die akute Wohnungsnot. Dabei wurden in den Niederlanden letztes Jahr nur 46.000 Asylanträge gestellt. Die seit Langem bestehende und zunehmende Wohnungsnot ist dagegen das Ergebnis jahrzehntelanger unablässiger Kürzungen beim sozialen Wohnungsbau. Derzeit fehlen landesweit mindestens 390.000 Wohnungen, und bis zum Jahr 2030 könnte diese Zahl laut Prognosen auf fast eine Million steigen.

Dass sich Rutte 13 Jahre lang im Amt halten und mehrere Skandale überstehen konnte, lag daran, dass alle Parteien – von den so genannten „Linken“ bis hin zur extremen Rechten – seinen reaktionären Kurs unterstützen. Angesichts einer tiefen sozialen und politischen Krise versucht das gesamte politische Establishment der Niederlande die soziale Unzufriedenheit von Fragen wie den steigenden Lebenshaltungskosten, den sich verschlechternden Arbeitsbedingungen und dem Ukraine-Krieg in Hass gegen Immigranten und Unterstützung für eine drakonische Asylpolitik umzulenken.

Als Rutte im Parlament seinen Rücktritt ankündigte, wurde er von allen Parteien der offiziellen Opposition, einschließlich der nominellen Linken, mit Lob überschüttet.

Wilders erklärte: „Wir haben politisch hervorragend zusammengearbeitet, auch in den ersten beiden Jahren der Rutte-Regierung... Ihre Entscheidungen waren nicht die unseren, aber Sie haben sie mit Überzeugung vertreten, und das verdient eine ganze Menge Respekt.“

Er schilderte gegenüber den Medien kurz, wie eng die beiden Parteichefs miteinander verbunden waren: „Wir kennen uns schon sehr lange. Wir waren einmal Parteikollegen in der VVD. Ich war sogar sein Mentor.“ In einem weiteren Tweet erklärte Wilders, Ruttes Rücktritt würde dafür sorgen, dass die Niederlande „wieder ein schönes Land werden, mit weniger Asylanten und Kriminalität, mehr Geld und Wohnraum für unsere eigene Bevölkerung.“

Der Vorsitzende der Grün-Links-Partei (GroenLinks), Jesse Klaver, antwortete: „Was ich Ihnen, Mark, sagen möchte, ist, das, was ich in der ganzen Zeit, in der wir die Klingen gekreuzt haben, zu schätzen wusste, war, dass wir nie persönlich wurden, dass wir immer sachlich geblieben sind.“

Lilian Marijnissen von der ehemaligen maoistischen Sozialistischen Partei (SP) bezeichnete Ruttes Rücktritt als „vernünftige Entscheidung“, die „gut für die Niederlande“ sei.

Während die offizielle „Linke“ Rutte lobte, war seine Regierung in breiten Teilen der Arbeiterklasse zutiefst verhasst. Nach seinem Rücktritt erklärten bei einer Meinungsumfrage der populären Fernsehsendung EenVandaag fast drei Viertel der Befragten, dass es „inakzeptabel“ sei, wenn Rutte nach den Wahlen im November als Ministerpräsident zurückkehren würde.

Ruttes Rücktritt erfolgte vor dem Hintergrund erbitterter Klassenkämpfe in allen Bereichen. Vor allem seit Anfang 2023 wurden die Niederlande von einer Streikwelle im öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft erschüttert, mit denen Tausende von niederländischen Arbeitern für bessere Löhne, Arbeits- und Lebensbedingungen kämpften. Diese Kämpfe fielen zeitlich zusammen mit den Massenprotesten und Streiks in Frankreich gegen die Rentenreform von Präsident Macron.

Ruttes vier aufeinanderfolgende Regierungen waren verantwortlich für eine strikte Sparpolitik in den Niederlanden und der Europäischen Union. Nach der Eurokrise 2009 waren er und der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble die treibenden Kräfte hinter der Verhängung von strengen Austeritätsmaßnahmen gegen Griechenland, Portugal, Spanien und andere Länder. Er erhöhte das Budget für den Staatsapparat, d.h. für Polizei, Überwachung, Geheimdienste, Gefängnisse und Justiz, zementierte den institutionellen Rassismus und verstärkte die systematische Unterdrückung der gesellschaftlich Marginalisierten und Schwachen.

Letztes Jahr hatten 60 Prozent der niederländischen Haushalte Probleme, ihre Nebenkosten zu bezahlen. Fast fünf Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, weitere 220.000 gelten als Erwerbsarme, 320.000 sind offiziell arbeitslos, 32.000 obdachlos, und 120.000 sind auf Tafeln angewiesen – ihre Zahl ist im letzten Quartal 2022 um ein Drittel angewachsen.

Angesichts dieser düsteren Bilanz der vorsätzlichen sozialen Verwüstung wird die Zahl der Haushalte unterhalb der Armutsgrenze laut der niederländischen Zentralen Planungsbehörde (CPB) bis 2024 vermutlich auf eine Million steigen – bei einer Gesamtbevölkerung von nur 17,8 Millionen. Dies wird einen Anstieg der Kinderarmut auf sieben Prozent bedeuten.

Rutte war außerdem verantwortlich für die verbrecherische Reaktion auf die Pandemie. Er hat von Anfang an eine Politik der „Herdenimmunität“ verfolgt, die über 22.000 offizielle Todesopfer forderte und mindestens 375.000 Long-Covid-Patienten zur Folge hat.

Einer der kritischsten Aspekte der derzeitigen gesellschaftspolitischen Krise in den Niederlanden ist die rapide Eskalation des Nato-Stellvertreterkriegs gegen Russland. Nur wenige Stunden nach Ruttes Rücktritt bedankte sich der ukrainische Präsident Selenskyj bei Rutte auf Twitter für die „standhafte und prinzipientreue Haltung der Niederlande gegenüber der russischen Invasion und der Anerkennung des Holodomor als Völkermord durch das Repräsentantenhaus.“

Seit dem rechtsextremen Putsch in Kiew im Jahr 2014, der von den USA und ihren Nato-Verbündeten organisiert wurde und eine Nato-freundliche Regierung an die Macht brachte, spielte die niederländische Regierung eine wichtige Rolle dabei, Stimmung gegen Russland zu schüren. Rutte nahm eine Schlüsselstellung dabei ein, Russland für den Absturz von Flug MH-17 der Malaysian Airlines im Juli 2014 verantwortlich zu machen, bei dem 298 Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben kamen.

Seither hat Ruttes Regierung Hysterie gegen Russland geschürt und der Ukraine militärische Unterstützung im Gesamtwert von ganzen 1,9 Milliarden Euro gewährt. Das soll durch weitere Einschnitte bei den ohnehin schon spärlichen Sozialausgaben finanziert werden. Das niederländische „Unterstützungspaket“ für die Ukraine umfasst Waffen, Munition, Fahrzeuge, Schiffe, Minenräumgerät, Brücken, Treibstoff, Medizinbedarf und Verpflegung.

Wie Politico schrieb, wurde Rutte trotz seines rechten Kurses „von Kollegen und Freunden eher als Manager denn als visionärer Führer beschrieben, der rivalisierende Parteien dazu bringen konnte, miteinander zu reden und Kompromisse zu finden. Er war die Inkarnation der niederländischen Konsenskultur: pragmatisch, flexibel – und ohne Vision.“

Angesichts der Eskalation des Nato-Kriegs gegen Russland und des Klassenkriegs im Inland ist die herrschende Elite der Niederlande zu dem Schluss gekommen, dass ein „Manager“ nicht mehr ausreicht. Während eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse fehlt, versucht die ehemalige Kolonialmacht eine noch rechtere Regierung einzusetzen.

Die Entstehung der rechtspopulistischen Partei BBB (Bauern-Bürger-Bewegung), die in den letzten Provinzwahlen die Macht im Senat errungen hat, ist eine Warnung. Obwohl sie in den Medien als bauernfreundliche Bewegung dargestellt wird, hat die 2019 gegründete BBB die Proteststimmen gegen die Rutte-Regierung für rechtsextreme Ziele ausgenutzt.

Laut Umfragen von Ende Juni liegen Ruttes VVD und die BBB mit je 18 Prozent der Stimmen Kopf an Kopf, gefolgt von Wilders' PVV mit 10 Prozent. Die Grün-Linken, D66 und die sozialdemokratische Arbeiterpartei (PvdA) kommen demnach auf 8 Prozent, die Sozialistische Partei auf 6 Prozent.

Die Verantwortung für diesen Rechtsruck liegt eindeutig bei den Parteien der nominellen „Linken“. Die PvdA, GrünLinks und die Sozialistische Partei haben Ruttes Durchseuchungspolitik unterstützt und waren am Schüren fremden- und muslimfeindlicher Stimmungen gegen zugewanderte Arbeiter beteiligt. Da es keine unabhängige revolutionäre Führung der Arbeiterklasse gibt, war die extreme Rechte in der Lage, die Wut und Frustration verzweifelter kleinbürgerlicher und verarmter Schichten für ihre reaktionären Ziele auszunutzen.

Die PvdA, früher eine der großen niederländischen Regierungsparteien, und Grün-Links sind so diskreditiert, dass sie in den bevorstehenden Parlamentswahlen mit einem gemeinsamen Wahlprogramm und einer gemeinsame Kandidatenliste antreten wollen. Die SP wird mit ihrer eigenen Liste antreten.

Was in den Niederlanden passiert, ist Teil einer internationalen Entwicklung. In Spanien kehrt die herrschende Klasse zu ihren faschistischen Wurzeln im Franco-Regime zurück, wofür die Sozialdemokraten und die pseudolinken Parteien verantwortlich sind. Auch in Deutschland lässt die Bourgeoisie ihre faschistischen Traditionen wiederaufleben und betreibt eine beispiellose militärische Aufrüstung.

Genau wie in Spanien, Deutschland und dem Rest der Welt herrscht auch in den Niederlanden großer Widerstand gegen die wachsende Gefahr von Faschismus, Krieg und Militarismus. Doch diese Stimmungen finden außerhalb des Internationalen Komitees der Vierten Internationale keinen bewussten politischen Ausdruck.

Die dringlichste Aufgabe der niederländischen Arbeiterklasse ist der Aufbau einer Sektion des IKVI auf der Grundlage einer sozialistischen Perspektive sowie einer europaweiten Bewegung der Arbeiterklasse, um gegen die wachsende Gefahr von Krieg, Austerität, Faschismus und deren Quelle zu kämpfen: das kapitalistische System.

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