Am 4. Juni fand in Warschau eine der größten Massendemonstrationen gegen die Regierung in der Geschichte der polnischen Dritten Republik, also seit dem Zusammenbruch des Stalinismus und der Restauration des Kapitalismus 1989, statt. Beobachter sprachen von bis zu einer halben Million Demonstranten in Warschau. Viele reisten aus ganz Polen in die Hauptstadt, um an der Demonstration teilzunehmen.
Der Hauptgrund für die Proteste war ein kürzlich verabschiedetes Gesetz der regierenden rechtsextremen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), mit dem eine Sonderkommission gegen russische Einflussnahme eingerichtet wurde. Dieses „Quasi-Gericht“, das sich der parlamentarischen Kontrolle entzieht, soll rückwirkend von 2007 bis 2022 gegen Politiker des Landes ermitteln. In Anlehnung an die antikommunistischen und antisowjetischen McCarthy-Anhörungen der frühen 1950er Jahre würde die „Sonderkommission gegen russische Einflussnahme“ öffentliche Anhörungen durchführen. Wird eine „Beeinflussung“ festgestellt, können die Angeklagten mit einer Geldstrafe und einem Verbot der Ausübung politischer Ämter für bis zu zehn Jahre belegt werden.
Das Gesetz bedeutet eine qualitative Verschärfung der Bemühungen der PiS, diktatorische Herrschaft aufzubauen. Die Partei hat seit 2015 bereits de facto die unabhängige Gerichtsbarkeit abgeschafft, die Vollmachten des Parlaments eingeschränkt, und umfassend demokratische Grundrechte wie Meinungsfreiheit und das Recht auf Abtreibung abgeschafft.
Das Gesetz ist auch Teil der Kriegsentwicklung und wurde unter Bedingungen verabschiedet, in denen offen über ein mögliches direktes Eingreifen Polens in den Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine diskutiert wird. Die PiS hat das Gesetz als wesentlich zur Verteidigung der “nationalen Sicherheit” verteidigt.
Organisiert hatte die Demonstration vor allem die größte Oppositionspartei „Platforma Obywatelska“ (PO, Bürgerplattform) mit ihrem Parteichef Donald Tusk. Die Opposition sieht das Gesetz am Vorabend der Wahlen im Herbst vor allem an Angriff auf die PO und auf Tusk persönlich.
Der Protest war überwiegend von städtischen Mittelschichten geprägt. Aufnahmen zeigten ein Meer von polnischen Nationalflaggen sowie auch Flaggen der EU und der Ukraine. Doch es kamen auch viele junge Menschen zu der Demonstration und einige Plakate warfen auch soziale Fragen auf, und thematisierten die hohe Inflation von über 18 Prozent. Andere forderten das Recht auf freie Abtreibung.
Es gibt in der polnischen Bevölkerung zweifellos wachsenden sozialen Unmut und Empörung über die rechte PiS-Regierung und ihre Angriffe auf demokratische Rechte. Doch diese soziale und politische Opposition versucht die PO in rechte und militaristische Richtung zu lenken.
Der Protest war von der PO bewusst als „Feier“ des 34. Jahrestags der Wahlen von 1989 anberaumt worden. Auch der einstige Führer der Solidarność-Bewegung und erste Präsident Polens nach 1989, Lech Wałęsa, sprach auf der Kundgebung.
Die Wahlen 1989 gingen unmittelbar der Zerschlagung der stalinistisch-regierten polnischen Volksrepublik und der Restauration des Kapitalismus voran, die in Polen und ganz Europa zu einer sozialen Katastrophe für die Arbeiterklasse führte. Sowohl die PO als auch die ultra-rechte Regierungspartei PiS gingen aus der Restauration hervor, stehen voll und ganz hinter der Nato-Kriegsoffensive gegen Russland in der Ukraine und überbieten sich gegenseitig mit antikommunistischer und anti-russischer Hetze.
Polen ist neben den baltischen Staaten der wichtigste Frontstaat der Nato im Krieg gegen Russland. Letzte Woche erklärte der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Rasmussen, die Nato könnte direkt militärisch in den Konflikt eingreifen, und nannte dabei insbesondere Polen und die baltischen Staaten. Im März hatte bereits der polnische Botschafter in Frankreich, Jan Emeryk Rościszewski, gedroht, Polen werde „keine andere Wahl“ haben, „als in den Konflikt einzutreten“, sollte die Ukraine allein den Krieg gegen Russland nicht erfolgreich führen können.
Die polnische Regierung bereitet zudem einen massiven Ausbau der polnischen Armee auf 250.000 Mann vor, was diese zu einer der größten Armeen Europas machen würde. Außerdem will die polnische Armee 1500 Kampfpanzer anschaffen, wodurch sie zur drittgrößten Panzerarmee der Nato werden würde. Diese Aufrüstungs- und Kriegspläne werden hinter dem Rücken und auf Kosten der polnischen Arbeiterklasse von beiden Fraktionen der polnischen Bourgeoisie vorangetrieben.
Die rechtsextreme PiS wirft dem ehemaligen Ministerpräsidenten (2007-14) und EU-Ratspräsidenten (2014-19) vor, neben einer „deutschlandfreundlichen“ Politik auch eine „russlandfreundliche“ Politik verfolgt zu haben.
Tatsächlich arbeitete Tusk wie alle polnischen Regierungschefs eng mit Washington zusammen. Als die USA und die EU im Februar 2014 einen rechten Putsch in Kiew gegen die pro-russische Regierung von Viktor Janukowitsch finanzierten und mitorganisieren, spielte die Tusk-Regierung eine zentrale Rolle.
Es gibt innerhalb der polnischen Bourgeoisie schon seit langem Konflikte über die außenpolitische Orientierung und insbesondere das Verhältnis zu Deutschland. Zwar sind beide Parteien extrem anti-russisch und treten für eine enge Zusammenarbeit mit den USA ein. Im Gegensatz zur PiS, die oft vehement anti-deutsch auftritt, befürwortet die PO jedoch in außenpolitischen Fragen eine enge Zusammenarbeit mit der EU – und allen voran mit Deutschland, mit dessen Wirtschaft die polnische eng verzahnt ist.
Tusk persönlich galt vor allem während seiner Amtszeit als EU-Ratspräsident als enger Verbündeter der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er wurde von der PiS deshalb als „deutscher Kandidat“ denunziert.
Doch trotz der bitteren Konflikte über ihre Verbündeten und die Methoden der Kriegsführung, sind beide Parteien tief in die Kriegsoffensive gegen Russland verwickelt. Sowohl bei der Wahl der Mittel als auch bei der rechtsnationalistischen und russlandfeindlichen Rhetorik gibt es kaum Unterschiede zwischen PO und PiS.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die PO hatte erst im Herbst 2022 eine parlamentarische Untersuchungskommission zur PiS-Energiepolitik angeregt, da diese angeblich „russlandfreundlich“ gewesen sei. Auch die Wahlniederlage von 2015, eine Folge ihrer unsozialen Politik, schiebt die PO auf einen Abhörskandal, für den sich die PiS angeblich mit dem russischen Geheimdienst verbündet hatte. Bei der Parlamentsabstimmung über die Sonderkommission richtete die Opposition wütende anti-russische Angriffe auf die PiS, darunter der Vorwurf, „dieses Gesetz trage Putins Geist“.
Die Fraktionskämpfe innerhalb der polnischen Bourgeoisie und die hysterische Hetze gegen Russland können nur von dem Hintergrund der tiefen sozialen Spannungen und der weit fortgeschrittenen Vorbereitungen Polens auf eine direkte Kriegsteilnahme verstanden werden.
Während das Gesetz Teil eines zunehmenden Fraktionskampfes innerhalb der polnischen Bourgeoisie ist, wird es in erster Linie die Gegner des Krieges gegen Russland und die Opposition innerhalb der Arbeiterklasse treffen. Eine wesentliche Triebkraft der anti-russischen Hetze und Kriegstreiberei beider Parteien ist schon jetzt der Versuch, von den explosiven Klassenspannungen in Polen abzulenken.
Polen grenzt unmittelbar an die Ukraine und ist in besonderem Maße von den sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges betroffen. Millionen ukrainische Familien flüchteten nach Kriegsbeginn nach Polen, wo sie von hunderttausenden polnischen Familien zumeist auf ihre eigenen Kosten aufgenommen und untergebracht wurden. In einigen Städten stieg die Bevölkerungszahl praktisch über Nacht um ein Viertel, ein Drittel oder sogar die Hälfte. Die Inflationsrate in Polen gehört zu den höchsten in Europa und liegt immer noch bei über 13 Prozent.
Polen ist eines der sozial ungleichsten Länder Europas. Als Ergebnis der kapitalistischen Restauration hat das obere Prozent sein Einkommen seit 1989 mehr als vervierfacht. Neue Statistiken belegen einen weiteren Anstieg der Zahl der Millionäre während der Pandemie.
Dagegen lebten Anfang 2020 fast zwei Millionen Polen unter dem Existenzminimum von nur 640 Zloty im Monat (ca. 144 Euro), 1,7 Millionen davon waren werktätig. Über 400.000 Kinder lebten in absoluter Armut. Unter diesen Bedingungen, die durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie noch weiter verschärft wurden, hat die Inflation für Millionen polnische Arbeiter und ihre Familien verheerende Konsequenzen.
Die massiven Militärausgaben, die die polnische Bourgeoisie nun vorantreibt, werden mit weiteren Angriffen auf die sozialen Bedingungen der Arbeiterklasse einhergehen.
Die unmittelbare Gefahr einer Ausweitung des Nato-Krieges gegen Russland auf Polen und andere Länder Osteuropas stellt die Arbeiterklasse in Polen und in der gesamten Region vor die Aufgabe, unabhängig von allen Flügeln der Bourgeoisie in das politische Geschehen einzugreifen. Dies erfordert den Aufbau einer sozialistischen Antikriegsbewegung von Arbeitern und Jugendlichen in ganz Europa und international. Wir rufen unsere polnischen Leserinnen und Leser auf, Kontakt mit der WSWS aufzunehmen.