Wenige Tage vor der zweiten Runde der türkischen Präsidentschaftswahl am Sonntag fordern der Kandidat der Volksallianz, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, und sein Herausforderer vom Bündnis der Nation, Kemal Kılıçdaroğlu, die Abschiebung von Millionen von Flüchtlingen und propagieren die Staatsaufrüstung im Namen des „Kampfs gegen den Terrorismus“.
Der Kandidat des rechtsextremen Ata-Bündnisses Sinan Oğan, der im ersten Wahlgang mit 5,2 Prozent bzw. 2,8 Millionen Stimmen auf den dritten Platz kam, sprach sich im zweiten Wahlgang für Erdoğan aus. Allerdings erklärte die wichtigste Kraft desAta-Bündnisses, die Partei des Sieges, am Mittwoch ihre Unterstützung für Kılıçdaroğlu. Die Partei des Sieges hat bei der Wahl am 14. Mai 2,2 Prozent bzw. 1,2 Millionen Stimmen erhalten.
Kılıçdaroğlu betreibt schon seit Jahren eine reaktionäre Hetzkampagne gegen Flüchtlinge, doch seit dem ersten Wahlgang am 14. Mai hat er sie zu seinem Hauptthema gemacht, begleitet vom Versprechen, „den Terrorismus zu bekämpfen“. Alle Arbeiter müssen dies als Warnung verstehen.
Kılıçdaroğlus Kampagne entlarvt den politischen Bankrott der kurdisch-nationalistischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), der Grün-Linken Partei (YSP) und der pseudolinken Parteien, die sich hinter Kılıçdaroğlu gestellt haben und ihn als „Alternative“ zu Erdoğan darstellen. Sie leiten den wachsenden sozialen Widerstand der Massen in die Kanäle einer rechten, pro-imperialistischen Fraktion der herrschenden Klasse und blocken damit eine echte linke, von der Arbeiterklasse ausgehende Herausforderung Erdoğans ab.
Entgegen der verlogenen Behauptungen des politischen Establishments geht von wehrlosen Flüchtlinge aus den imperialistischen Kriegen von Afghanistan über den Irak bis Syrien keine Gefahr für die sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiter und Jugendlichen in der Türkei dar.
Die Erdoğan-Regierung hingegen ist verantwortlich für Angriffe auf demokratische Rechte und den Aufbau eines Polizeistaats im Namen des „Kampfs gegen den Terrorismus“. Diesen Kampf hat sie als Vorwand für staatliche Unterdrückungsmaßnahmen benutzt, u.a. die Verhaftung von Tausenden HDP-Mitgliedern und die Absetzung von gewählten Bürgermeistern. Ebenso dient er als Vorwand für die Fortsetzung der illegalen türkischen Militärpräsenz in Syrien und im Irak.
Dieser Kurs, über den sich Erdoğan und Kılıçdaroğlu im Wesentlichen einig sind, bildet den Rahmen für den Angriff der Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse. Hintergrund ist die ausufernde wirtschaftliche und sozialen Krise in der Türkei und weltweit angesichts der Eskalation des Nato-Krieges gegen Russland.
Die Sosyalist Eşitlik Grubu (SEG), die türkische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI), ruft Arbeiter und Jugendliche auf, die beiden pro-imperialistischen Kandidaten und ihre reaktionären Programme zurückzuweisen. Sie kämpft für die politische Unabhängigkeit und internationale Einheit der Arbeiterklasse. Demokratische Grundrechte können nur verteidigt werden, wenn die Flüchtlinge gegen alle reaktionären Fraktionen der herrschenden Klasse in Schutz genommen werden und der imperialistische Krieg abgelehnt wird.
Am Mittwoch wiederholte Kılıçdaroğlu bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Vorsitzenden der Partei des Sieges, Ümit Özdag, die Argumente rechtsextremer und faschistischer Tendenzen auf der ganzen Welt: „Wenn Sie nicht wollen, dass die Türkei ein ,Einwanderungsland‘ wird, wenn Sie sich keine Sorgen machen wollen, wenn Ihre Tochter das Haus verlässt... dann unterstützen Sie die Politik, die zur Abschiebung von dreizehn Millionen Flüchtlingen in ihre Heimat führen wird, und stimmen Sie am 28. Mai für Kemal Kılıçdaroğlu.“
Özdağs widerliche Verleumdung der offiziell etwa vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei als potenzielle Vergewaltiger ist kein Einzelfall. Kılıçdaroğlu, der auch die Rhetorik von Sinan Oğan und der Partei des Sieges übernommen hat, erklärte vor kurzem: „Wer sein Heimatland liebt, sollte zur Wahl gehen, bevor die Flüchtlingswelle das Leben unserer Töchter völlig mit Dunkelheit überschattet.“ Vor der Pressekonferenz bedankte sich Özdag bei der Jugendorganisation der CHP, „Syrer werden nach Hause geschickt“ an die Wände geschrieben haben.
Özdağ ist ein erbitterter Fremdenhasser. Er stammt aus der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die heute Erdoğans wichtigster Verbündeter in der Volksallianz ist. Sein Vater, Stabshauptmann Muzaffer Özdag, war Mitglied der Junta, die 1960 den Militärputsch durchführte.
Özdağ wurde ein führendes Mitglied von Meral Akseners Guter Partei, die sich nach dem von der Nato unterstützten Putsch gegen Erdoğan im Jahr 2016 von der MHP abspaltete. Die Gute Partei und Kılıçdaroğlus Republikanische Volkspartei (CHP) sind die führenden Kräfte im Bündnis der Nation.
Nachdem Özdag seine Unterstützung für Kılıçdaroğlu erklärt hatte, veröffentlichten die Partei des Sieges und das Bündnis der Nation ein Protokoll mit sieben Punkten, auf das sie sich geeinigt hatten. Im Abschnitt „Zweck“ werden die Flüchtlinge für das soziale Elend verantwortlich gemacht, das Erdoğans Politik verursacht hat. Es wird außerdem deutlich gemacht, dass grundlegende soziale Forderungen der Arbeiterklasse gewaltsam unterdrückt werden sollen.
Wörtlich heißt es, der Zweck des Protokolls sei es, „Details über die gemeinsame Arbeit und Kooperation festzulegen, um nationale Einheit und Solidarität zu gewährleisten, die Probleme der Türkei zu lösen – Korruption, Verbote und schwere wirtschaftliche Probleme – und Flüchtlinge abzuschieben, die ein ernsthaftes Sicherheits- und demografisches Problem für die Türkei darstellen.“
Weiter hieß es: „Alle Flüchtlinge, vor allem Syrer, werden spätestens innerhalb eines Jahres abgeschoben.“ Laut internationalen Konventionen, zu deren Einhaltung sich die Türkei verpflichtet hat, und nach türkischem Recht ist dieser Abschiebungsplan illegal. Allerdings wurde das demokratische Grundrecht auf Asyl durch die EU-Politik der „Festung Europa“ und Erdoğans Mitwirkung daran in der Praxis weitgehend abgeschafft.
Weiter wird in dem Dokument ein „effektiver und entschlossener Kampf gegen alle terroristischen Organisationen“ angekündigt und erklärt: „Die Ernennung von Staatsvertretern als Ersatz für Bürgermeister mit nachweislichen terroristischen Verbindungen wird im Rahmen von Gerichtsentscheiden weitergehen.“
Das bedeutet, dass Erdoğan seine Politik fortsetzen wird, gewählte HDP-Bürgermeister in den kurdischen Provinzen ohne Gerichtsurteil abzusetzen und durch eigene Beamte zu ersetzen.
Die HDP und die YSP haben sich mit Kılıçdaroğlu verbündet, weil sie dessen Ausrichtung auf die USA und die imperialistischen Nato-Mächte teilen. Obwohl die CHP die staatliche Unterdrückung der Kurden unterstützt, veröffentlichte sie am Mittwoch nach einem Treffen ihrer Führungsspitze eine heuchlerische Erklärung, in der sie den Kompromiss bei der „Ernennung von Vertrauensleuten“ als Ersatz für gewählte HDP-Bürgermeister kritisierte. Allerdings übte sie keine Kritik an den Plänen, Flüchtlinge innerhalb eines Jahres unter undemokratischen Vorschriften abzuschieben. Die HDP erklärte, sie werde am Donnerstag ihre endgültige Entscheidung zur Wahl bekanntgeben.
Im Vorfeld des Abkommens zwischen der Partei des Sieges und dem Bündnis der Nation hatte sich Oğan am Montag trotz Kılıçdaroğlus Bemühungen um seine Unterstützung hinter Erdoğan gestellt. Oğan erklärte, er und Erdoğan hätten sich auf fast identische Bedingungen geeinigt: „Ein ununterbrochener, anhaltender Kampf gegen alle Arten von terroristischen Organisationen. Es gibt jetzt einen Zeitplan für die Abschiebung von Flüchtlingen.“
Erdoğan erklärte am Dienstag auf einer Kundgebung: „Der Vorsitzende der CHP... hat seine politische Laufbahn als angeblicher ,Gandhi Kemal‘ begonnen und wird sie als ,Nazi Kemal‘ beenden.“ Doch seine eigene reaktionäre Vergangenheit und sein Bündnis mit Oğan zeigen, dass seine Kritik an Kılıçdaroğlus Haltung zu Flüchtlingen nur leere Demagogie ist.
In einem Interview erklärte Erdoğan, seine Regierung werde die Politik, „Flüchtlinge zurückzuschicken“, fortsetzen: „Wir haben die sichere und freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen von Anfang an unterstützt. Bisher sind fast 560.000 Flüchtlinge in Gebiete [in Syrien] zurückgekehrt, die wir vom Terrorismus gesäubert haben. Diese Zahl wird sich erhöhen, wenn Syrien von weiteren Terrororganisationen gesäubert wird.“
Seit 2016 hat Ankara mehrfach im Norden Syriens die von den USA unterstützen kurdisch-nationalistischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) angegriffen, um die Entstehung eines kurdischen Staates neben der Türkei im Norden Syriens zu verhindern. Heute halten das türkische Militär und seine islamistischen Stellvertreter beträchtliche Teile der Region besetzt.
Erdoğans Regierung will die Entstehung eines kurdischen Staates endgültig verhindern, indem sie syrische Araber in illegal gebauten Unterkünften in diesen Gebieten ansiedelt. Dieser schmutzige Plan geht einher mit Bestrebungen, die Beziehungen zum von Russland unterstützten syrischen Präsidenten Baschar al-Assad wiederherzustellen.
Die pseudolinken Parteien, die sich hinter Kılıçdaroğlu stellen und über seine flüchtlingsfeindliche Kampagne schweigen, reagierten zynisch auf Oğans Unterstützung für Erdoğan, hatten sie sich von ihm doch Unterstützung für Kılıçdaroğlu erhofft.
Die größte pseudolinke Partei, die Arbeiterpartei der Türkei (TIP), die bei der Parlamentswahl fast eine Million Stimmen erhielt, veröffentlichte eine Fotomontage der Gesichter Erdoğans und Oğans und schrieb: „Sie werden verlieren, Erdoğan!“ Doch die TIP übte keine Kritik an Kılıçdaroğlus Bündnis mit der Partei des Sieges, der treibenden Kraft hinter Oğan im ersten Wahlgang, und macht jetzt Wahlkampf für Kılıçdaroğlu.
Die stalinistische Kommunistische Partei der Türkei (TKP), aus der die TIP hervorgegangen ist, hat am Dienstag ebenfalls zur Wahl Kılıçdaroğlus aufgerufen und damit ihren eigenen politischen Bankrott offenbart. Absurderweise erklärte sie: „Diese Stimme bedeutet nicht die Wahl zwischen zwei Kandidaten, die sich gegenseitig mit Amerikanismus, Bigotterie und immigrantenfeindlichen Ansichten überbieten. Ebenso wenig bedeutet es, die Volksallianz oder das Bündnis der Nation zu akzeptieren, die schon vor dem Ende der Wahl neue Bündnisse gebildet haben.“
Die Sosyalist Eşitlik Grubu weist die Behauptung der Pseudolinken zurück, es gebe keine Alternative zur Unterstützung Kılıçdaroğlus. In Wirklichkeit hat die Wahl gezeigt, dass Kılıçdaroğlu keine Alternative zu Erdoğan ist. Der Weg vorwärts führt über die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Antikriegsprogramms, das die beiden proimperialistischen Kandidaten der herrschenden Klasse ablehnt. Dies erfordert den Aufbau der Sosyalist Eşitlik Partisi als türkische Sektion des IKVI.