Generalstreik in Griechenland: Hunderttausende protestieren nach dem tödlichen Zugunglück

In Griechenland wächst die Wut über das tödliche Zugunglück in Tempi am 28. Februar mit 57 Toten. Am Mittwoch beteiligten sich Hunderttausende an Streiks und Protestaktionen.

In mindestens 80 Städten auf dem Festland und auf vielen Inseln streikten und protestierten Beschäftigte des öffentlichen Diensts. Es waren die größten Proteste gegen die rechte Nea Dimokratia-Regierung seit deren Amtsübernahme 2019. Sie hatten das gleiche Ausmaß wie die Massendemonstrationen gegen die brutalen Spardiktate der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds seit 2008. Die Online-Zeitung The Press Project veröffentlichte einen Bericht unter der Überschrift „Das ganze Land ist auf der Straße“.

Demonstranten, Jugendliche und streikende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und der Schifffahrtsbranche versammeln sich am 8. März 2023 vor dem griechischen Parlament zu einem Protest für die Opfer des Tempi-Eisenbahnunglücks am 28. Februar [AP Photo/Petros Giannakouris]

In den größten Städten Athen, Thessaloniki, Patras, Piräus und Larissa protestierten Hunderttausende. Allein in Athen beteiligten sich 100.000 Menschen an Demonstrationen. Der Name der Stadt wurde auf Twitter zum Trend. Selbst die Polizei, die die Teilnehmerzahlen üblicherweise zu niedrig ansetzt, sprach von 60.000 Menschen in der Hauptstadt. In Thessaloniki demonstrierten mindestens 30.000.

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Der Zusammenstoß der Züge hatte sich auf der Strecke zwischen Athen und Thessaloniki nahe der Stadt Larissa im Tal von Tempi ereignet. Der Personenzug InterCity 62 war auf dem Weg nach Thessaloniki mit einem nach Süden fahrenden Güterzug zusammengestoßen, wobei es zum schwersten Eisenbahnunglück in der Geschichte des Landes kam.

Einen Tag später traten die Eisenbahner in einen landesweiten Streik, der dann die ganze Woche über bis zum Generalstreik am Mittwoch verlängert wurde.

Zu dem Generalstreik hatte die größte griechische Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes ADEDY aufgerufen. Die Schiffe blieben in den Häfen vor Anker, da die Seeleutegewerkschaft ebenfalls streikte. Auch die Gewerkschaft der Grundschullehrer trat in den Streik. Lehrer und Universitätspersonal unterstützten die Massendemonstrationen, an denen vor allem Jugendliche teilnahmen. Während des Generalstreiks waren landesweit mindestens 26 Schulen und Universitätsinstitute besetzt. Die meisten Todesopfer waren junge Menschen, zwölf von ihnen Studenten der Universität Thessaloniki.

Die U-Bahnen blieben noch mehrere Stunden in Betrieb, damit Demonstranten in die Athener Innenstadt fahren konnten. Die Behörden versuchten aber, die Teilnehmerzahlen zu begrenzen. Die Polizei legte deshalb die wichtigsten zentralen U-Bahnstationen still. Das hinderte die Massen jedoch nicht daran, auf den Syntagma-, Omonia- und den Klafthmonos-Platz zu strömen und durch die Stadt zu ziehen.

Die Regierung Mitsotakis tat alles , um sich der Verantwortung zu entziehen und die Schuld für die Katastrophe auf das „menschliche Versagen“ eines einzelnen Bahnhofsvorstehers zu schieben. Arbeiter und Jugendliche haben jedoch nie an diesen Betrug geglaubt, weil sie wissen, dass die tieferen Ursachen für das Unglück der marode Zustand, die Aushöhlung, der Stellenabbau und dann die Privatisierung des Eisenbahnnetzes durch die Regierung Syriza (Koalition der Radikalen Linken) im Jahr 2017 sind.

Kräne beseitigen die Trümmer nach der Zugkollision in Tempi, etwa 376 km nördlich von Athen, in der Nähe der Stadt Larissa. Rettungskräfte suchten am 2. März 2023 die Trümmer der Züge ab [AP Photo/Vaggelis Kousioras]

Die Eisenbahnen sind so unsicher, weil ein automatisiertes Computersystem, das die Katastrophe hätte verhindern können, nicht landesweit vorhanden ist. Der Bahnhofsvorsteher erklärte in seiner Aussage vor einem Untersuchungsrichter, er habe in der Nacht des Unglücks für 20 Minuten allein den gesamten Schienenverkehr in Zentralgriechenland kontrolliert.

Tausende von Demonstranten brachten am Mittwoch selbst gefertigte Transparente mit und riefen Parolen gegen die Regierung wie „Unser Leben zählt, deshalb keine Vertuschung“, „Mörder!“, „Wir sitzen alle im selben Waggon“ und „Das Leben unsere Kinder vor allem anderen“. Auf dem Athener Omonia-Platz trugen Tausende Arbeiter, Schüler und Studenten Transparente und Plakate mit Aufschriften wie: „Wir werden zur Stimme der Toten werden, die neue Generation verzeiht euch nicht“, „Staatliche Nachlässigkeit tötet“, „Wir werden nicht vergessen und nicht verzeihen“ und „Profite, getränkt im Blut der Studenten“.

Demonstranten tragen bei einem Protest in Athen am 8. März ein Transparent mit der Aufschrift „Mörder“ [AP Photo/Thanassis Stavrakis]

In Larissa, der Stadt nahe der Unfallstelle, riefen Demonstranten: „Keine Profite mit unserem Leben!“, „Trauer und Wut“ und „Ihre Profite, unsere Toten“.

The Press Project berichtete aus Patras über eine „riesige zweistündige Demonstration von Schülern, Studierenden, Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Privatwirtschaft und des Gesundheitswesens, von Organisationen und Kollektiven auf der Hauptstraße“.

Auf der größten griechischen Insel Kreta demonstrierten Tausende, die größten Kundgebungen fanden in Heraklion und Chania statt.

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Wie bei den anderen Protesten seit dem Unglück wurde erneut die schwer bewaffnete Bereitschaftspolizei mobilisiert, die gewaltsam gegen Demonstranten vorging.

Die Proteste sorgten auf Twitter unter dem Hashtag #Tempi für große Resonanz. In einem Tweet unter einem Bild der Massenproteste in Thessaloniki hieß es: „In Griechenland finden Proteste von historischem Ausmaß statt. Die Leute wissen, fühlen und verstehen, dass das Unglück in Tempi nicht nur auf menschliches Versagen zurückgeht, sondern auf die Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit des Staates“.

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Die explosive Wut der Arbeiterklasse, die in den Streiks zum Ausdruck kommt, stürzt die ND-Regierung in eine existenzielle Krise. Vor dem Zugunglück lag die Regierungspartei in Umfragen noch mit zehn Prozentpunkten vor der zweitstärksten Kraft Syriza. Sie profitierte davon, dass sich Syriza während ihrer Amtszeit durch die Fortführung des Sparkurses diskreditiert hatte. Es sollte eigentlich ein Termin im April für die Parlamentswahlen angekündigt werden, die vor Juli abgehalten werden müssen. Diese Pläne wurden von der Massenbewegung zunichte gemacht, die jetzt 40 Tage lang der Toten gedenkt. Am Dienstag meldete Mega TV, die Regierung habe die geplante Wahlankündigung am Freitag absagen müssen. Mitsotakis werde den ersten Wahlgang auf den 21. Mai und den zweiten auf den 2. Juli verlegen.

Die Tragödie von Tempi und die Forderung nach Vergeltung waren der Auslöser für die großen Proteste in Griechenland. Millionen Menschen sind sich bewusst, dass so ein schreckliches Ereignis das Ergebnis eines verrotteten Systems ist. Der marode Zustand des griechischen Schienennetzes und öffentlichen Verkehrssystem ist die Folge der massiven Sparoffensive, die ND, die sozialdemokratische Pasok und Syriza mehr als ein Jahrzehnt lang durchgeführt haben. Große Teile der griechischen Infrastruktur, darunter die staatliche Eisenbahngesellschaft TrainOSE, die früher Tausende Arbeiter beschäftigte, wurden privatisiert und mit riesigen Profiten an globale Konglomerate verkauft.

Die Tageszeitung Kathimerini wies am Dienstag auf den jährlichen Bericht des Handels- und Dienstleistungsinstituts der hellenischen Handels- und Unternehmerkammer (INEMY ESEE) hin. Dieser zeigt einen erschütternden Rückgang des Lebensstandards, nachdem mehrere Regierungen die brutalen Sparmaßnahmen umgesetzt haben, welche die verhasste „Troika“ aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank gefordert hatte.

Während im Jahr 2008 mehr als ein Drittel aller griechischen Haushalte über ein monatliches Einkommen von über 2.200 Euro verfügten, sind es heute nur noch 18,52 Prozent.

In den zehn Jahren seit 2008 sind „sehr arme Haushalte noch ärmer geworden, ein Großteil der Mittelschicht wurde in die Armut getrieben, während sich der Reichtum in immer weniger Händen als vor 2009 konzentriert hat“.

Kathimerini zitiert aus der INEMY ESEE-Studie: „Im Jahr 2008 gab es 193.747 von insgesamt 4.072.175 Haushalten mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von bis zu 750 Euro. Bis 2018 hatten sie sich mehr als verdoppelt und erreichten 521.223, und jetzt [da die Sparmaßnahmen für längst beendet erklärt wurden] sind es 404.966.“

Die Kapitalistenklasse hatte Griechenland in ein Testlabor für Sparmaßnahmen verwandelt, die später auf ganz Europa übertragen werden sollten. Durch diese bis heute andauernde Offensive wurden Millionen Arbeitern Löhne und Renten gekürzt und die Arbeitsbedingungen verschlechtert, um die Profitinteressen der Banken und Konzerne zu bedienen.

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Der Kampf um Gerechtigkeit für die Toten in Griechenland ist Teil einer größeren europäischen Bewegung der Arbeiterklasse. Allein diese Woche streikten in Frankreich Millionen für ein Ende der Rentenkürzungen, die der „Präsident der Reichen“ Macron durchsetzen will. Während die Arbeiter in Griechenland demonstrierten, fand in Italien ein landesweiter Generalstreik statt. In den Niederlanden begann am Mittwoch ein landesweiter Logistikstreik, in Belgien beginnt am 9. März ein landesweiter Streik im öffentlichen Dienst gegen dessen Unterfinanzierung.

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