Zwölf Tage nach den zwei schweren Erdbeben in der Provinz Kahramanmaraş, die den Süden der Türkei und Syrien erschütterten, steigt die Zahl der Todesopfer weiter an. Die Erdbeben mit einer Stärke von 7,7 und 7,6 auf der Richter-Skala haben in der Türkei zehn Provinzen verwüstet und laut offiziellen Zahlen mehr als 45.000 Todesopfer gefordert.
Syrien wurde ebenfalls schwer getroffen. Durch den Krieg, mit dem die Nato-Mächte einschließlich der Türkei seit 2011 einen Regimewechsel zu erzwingen versuchen, und durch die Sanktionen der imperialistischen Mächte lag das Land ohnehin schon am Boden. Nun kamen bei den Erdbeben in Syrien fast 6.000 Menschen ums Leben, und laut Schätzungen der Vereinten Nationen wurden fünf Millionen obdachlos.
Zudem lebten in den türkischen Provinzen an der Grenze zu Syrien mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus dem Nachbarland. Wie viele von ihnen ums Leben kamen, ist noch nicht offiziell bekannt, doch der Sprecher der Asylum Seekers Rights Platform, Taha El Gazi, sprach von mehr als 6.000 Toten.
Laut der jüngsten Erklärung von Murat Kurum, dem türkischen Minister für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel, wurden bei der Inspektion von 684.000 Gebäuden im Katastrophengebiet 84.000 als „eingestürzt, sofort abzureißen oder schwer beschädigt“ eingestuft. Das entspricht einem Anteil von zwölf Prozent, in einigen Orten sind es weitaus mehr.
Vizepräsident Fuat Oktay erklärte am Freitag, dass die Such- und Rettungsoperationen an weniger als 200 Orten andauern. Da der Staat diese Operationen erst Tage nach den Erdbeben begonnen hatte, kam für viele Verschüttete jede Hilfe zu spät. Kurz nach Beginn der offiziellen Rettungsaktionen und obwohl noch viele Menschen unter den Trümmern lagen, wurde in vielen Städten schon schweres Gerät für Aufräumarbeiten eingesetzt.
Es gibt keine offiziellen Angaben darüber, wie viele Menschen noch lebend oder tot unter den Trümmern liegen. Allerdings wird allgemein befürchtet, dass viele Menschen sterben könnten, wenn schwere Räumfahrzeuge eingesetzt werden.
Die Rettung der 30-jährigen Neslihan Kılıç in Maraş, die vom Fahrer einer Baumaschine entdeckt worden war, unterstreicht diese Gefahr. Die verfrühten Arbeiten zur Beseitigung der Trümmer sind eine Fortsetzung der kriminellen Politik der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die erst keine Vorsorge für die Erdbeben getroffen hatte und danach nichts unternahm, um Menschenleben zu retten.
Die Regierung, die erst am dritten Tag des Bebens in der betroffenen Region intervenierte, konzentrierte sich weniger auf Such- und Rettungsaktionen oder Hilfsmaßnahmen als darauf, von ihrer offensichtlichen Verantwortung für die Katastrophe abzulenken. Während noch kein einziger Politiker zurückgetreten ist, wurden bisher 83 Personen, meist Bauunternehmer, als Sündenböcke verhaftet.
Erdoğan machte das „Schicksal“ für die Katastrophe verantwortlich und behauptete, eine Vorbereitung auf schwere Erdbeben sei unmöglich.
In Wirklichkeit hatten Wissenschaftler und staatsnahe Institutionen seit Jahren gewarnt. Neben vielen anderen Berichten zeigt der „Risikoverringerungsplan für die Provinz Kahramanmaraş“, den der Gouverneur von Kahramanmaraş und die dem Innenministerium unterstellte Katastrophen- und Notfallschutzbehörde AFAD im Jahr 2020 veröffentlicht haben, dass das Erdbeben und die Zerstörungen vom 6. Februar 2023 größtenteils vorhergesagt wurden.
Über das Szenario eines Erdbebens der Stärke 7,5 in Kahramanmaraş heißt es: „Im Falle eines schweren Erdbebens lässt sich absehen, dass ein Großteil der Stadt von Zerstörungen betroffen wäre.“ Der Bericht nennt folgende mögliche Ursachen: „Die Region liegt nahe an einer aktiven Verwerfungszone, die Bausubstanz ist schlecht, die Bodenbedingungen begünstigen Verflüssigung, und der Grundwasserspiegel ist sehr hoch.“
Weiter wurde gewarnt: „Die Region Kahramanmaraş und das Umland befinden sich in einer Erdbebenzone ersten Grades mit hoher seismischer Aktivität der tektonischen Struktur. Die Region steht unter dem Einfluss der Ostanatolischen Verwerfung und der noch aktiven Verwerfung des Toten Meeres. Es wird davon ausgegangen, dass sich an diesen Verwerfungen eine Spannung von 200 Jahren angesammelt hat und ein hohes seismisches Gefährdungspotenzial besteht. Gleichzeitig erhöht die Tatsache, dass sich die Abschnitte der Verwerfungen, die noch nicht verschoben wurden, in der Nähe von Kahramanmaraş befinden, die Risiken in diesem Abschnitt.“
Weiter heißt es in dem Bericht:
Dass die Ostanatolische Verwerfung und die Verwerfung am Toten Meer direkt südlich von Kahramanmaraş aufeinandertreffen und sich verzweigen, könnte sie zum Epizentrum von möglichen Erdbeben großer Stärke machen. Dies lässt befürchten, dass sich das Risiko und das Ausmaß des Schadens erhöhen werden. Diese Sorge wird dadurch verstärkt, dass ein Großteil der Siedlungen auf sehr schwachem Boden liegt.
In dem Bericht wurde betont, dass der Öffentlichkeit die Gefahr eines Erdbebens nicht bewusst sei, was das Ausmaß der Bedrohung vergrößere, und es wurden folgende staatliche Maßnahmen empfohlen:
Um Todesopfer und Zerstörungen von Eigentum bei einem möglichen Erdbeben zu minimieren, ist es deshalb unerlässlich, detaillierte Bodenuntersuchungen in Wohngebieten durchzuführen und Gebäude in gefährlichen Zonen zu evakuieren. Zudem muss die Erdbeben-Aktivität und -Gefahr bei der Wahl der Bau- und Erschließungsgebiete neuer Dörfer und Städte berücksichtigt werden. Erdbebensichere Gebäude mit korrekt verstärktem Beton und statischen Berechnungen sollten auf solidem Boden abseits der aktiven Verwerfungen errichtet werden.
Doch die Bewohner der gefährdeten Zonen wurden nicht evakuiert. Ebenso wenig wurde die Bevölkerung durch den Bau erdbebensicherer Gebäude auf solidem Boden geschützt. Zehntausende haben deshalb ihr Leben verloren, und zwar unter Bedingungen, unter denen der größte Teil der Öffentlichkeit nichts über die Gefahr wusste. In der Türkei, wo die staatlich geförderte private Baubranche stolz auf ihre enormen Investitionen war und riesige Profite eingefahren hat, galten langfristige Investitionen in die Sicherheit, die umfangreiche staatliche Unterstützung erfordern, nicht als profitabel.
Während Millionen im Erdbebengebiet ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen konnten und Tausende noch immer unter den Trümmern lagen, konzentrierte sich die Erdoğan-Regierung darauf, die „nationale Einheit und Solidarität“ zu beschwören. Auf diese Weise versuchte sie, von den kapitalistischen Profitinteressen und der verantwortungslosen Politik hinter der Katastrophe abzulenken.
Während der Staat und die Milliardäre zunächst untätig zusahen, strömten von Anfang an Bergleute, Bauarbeiter, Feuerwehrleute, Gesundheitskräfte und andere Arbeiter in die Region, um sich an Such-, Rettungs- und Hilfseinsätzen zu beteiligen. Auf diese Weise wurden viele Menschenleben gerettet und Tausende notdürftig versorgt. Die herrschende Klasse jedoch wollte die Aufmerksamkeit unbedingt von dieser Hilfe ablenken, weil sie die unbestreitbare Verantwortung des Staates für die Katastrophe und ihre kriminelle Unfähigkeit bloßstellte.
Am Mittwoch inszenierte die Regierung eine Livestream-Veranstaltung mit dem Titel „Die ganze Türkei vereint“, um Spenden für die Erdbebenopfer zu sammeln. Das Programm wurde von Prominenten moderiert und live auf vielen Fernsehkanälen übertragen. Es handelte sich im Wesentlichen um eine Werbeveranstaltung für die Finanzoligarchie, die ihren Reichtum der Ausbeutung und Verarmung der Arbeiterklasse verdankt.
Tatsächlich stammten 85 der 115 Milliarden Türkischen Lira (5,7 Mrd. Euro), die bei „Die ganze Türkei vereint“ für die Katastrophenschutzbehörde AFAD zusammenkamen, nicht aus privaten Quellen, sondern von öffentlichen Banken.
Die wichtigsten staatlichen und privaten Vertreter des türkischen Kapitalismus, für den Profit und Bereicherung höher stehen als Menschenleben, versuchten dieses korrupte Gesellschaftssystem reinzuwaschen, indem sie mit Millionen um sich warfen. Darunter befanden sich auch einige Baukonzerne, die auf staatliche Ausschreibungen lauern. Denn laut Regierung sollen in dem Gebiet, das zu einem Massengrab wurde, neue Bauprojekte aufgelegt werden.
Was Friedrich Engels 1845 in Die Lage der arbeitenden Klasse in England über die Heuchelei der englischen Bourgeoisie jener Zeit schrieb, gilt auch für die heutige Reaktion der türkischen Elite auf diese vermeidbare soziale Katastrophe:
Als ob dem Proletarier damit gedient wäre, dass ihr ihn erst bis aufs Blut aussaugt, um nachher eure selbstgefälligen, pharisäischen Wohltätigkeitskitzel an ihm üben zu können und vor der Welt als gewaltige Wohltäter der Menschheit dazustehen, wenn ihr dem Ausgesogenen den hundertsten Teil dessen wiedergebt, was ihm zukommt!