Fünf Tage nach der Erdbebenkatastrophe an der türkisch-syrischen Grenze liegt die erschreckende Zahl der Todesopfer bereits bei über 35.000. Bis Sonntagabend wurden in der Türkei mindestens 29.000 Tote und in Syrien mindestens 6.000 Tote gemeldet. Den Behörden zufolge wurden mehr als 92.600 weitere Personen verletzt. In beiden Ländern sind vermutlich noch zehntausende Menschen unter den Trümmern begraben, und mindestens sechs Millionen Menschen sind durch das Beben obdachlos geworden.
Der türkische Katastrophen-Versicherungspool (TCIP) erklärte, er habe nach dem Erdbeben, das zehn Städte in der Türkei verwüstete, mehr als 30.000 Schadensmeldungen erhalten. In Syrien, wo erst am Donnerstag die ersten internationalen Hilfslieferungen eintrafen, sind laut der Gazete Duvar mehr als 900 Gebäude eingestürzt, und etwa 2.000 wurden beschädigt.
Eines der erschütterndsten Bilder der sozialen Katastrophe in der Region zeigt ein Massengrab in Adiyaman, in dem tausende Menschen begraben wurden. In anderen Städten, die von dem Erdbeben betroffen sind, ist die Situation ähnlich.
Journalisten von Medien, die nicht von der Regierung kontrolliert werden, und Social-Media-Nutzer berichten, dass es bei der Grundversorgung mit Strom, Wasser, Erdgas, Obdach und sanitären Einrichtungen in den betroffenen Provinzen immer noch große Probleme gibt.
Ein freiwilliger Helfer aus Antakya, einer Gemeinde der Metropolprovinz Hatay, die zu den am stärksten betroffenen Gebieten gehört, erklärte am Freitag gegenüber der World Socialist Web Site, schweres Gerät für Such- und Rettungsoperationen habe erst am dritten Tag nach dem Erdbeben die Arbeit aufgenommen. Der Bezirk habe ausgesehen, „als wäre er von einer Atombombe getroffen worden“. Zuvor hatten die Leute mit Hacken und Schaufeln versucht, die Menschen aus den Trümmern zu graben, und wichtige Stunden wurden verschwendet.
Der freiwillige Helfer erklärte, es fänden – abgesehen von Such- und Rettungsteams aus einigen Stadteilen von Istanbul – bis zu diesem Zeitpunkt noch immer keine groß angelegten Operationen statt. Es gebe noch immer keinen Telefonempfang und kein Internet. Lediglich einige Zelte seien am Eingang der Stadt aufgestellt worden, und die meisten Menschen verbrächten die Nacht noch immer an Lagerfeuern auf der Straße. Zudem sei es zu einem Cholera-Ausbruch gekommen.
Offizielle Zahlen vom Freitag zeigen, dass die Zahl der Toten diejenige des großen Erdbebens am Marmarameer 1999 überschritten hat. Bei diesem Erdbeben der Stärke 7,4 starben vor fast einem Vierteljahrhundert laut offiziellen Zahlen 17.480 Menschen in fünf Provinzen. Einige inoffizielle Berichte beziffern die tatsächliche Zahl auf über 50.000.
Doch das diesjährige Erdbeben, dessen Mittelpunkt in der Region Kahramanmaraş lag, ereignete sich nach jahrzehntelangen großen Fortschritten in der Industrie- und Bautechnik in der Türkei und weltweit, nach verbesserten Erdbebenschutzvorschriften und ständigen Warnungen von Wissenschaftlern.
Der Verband türkischer Anwaltskammern (TBB) hat Strafanzeige gegen „autorisierte und verantwortliche Unternehmen und Beamte“ gestellt, die „am Bau der während des Erdbebens eingestürzten Gebäude beteiligt waren“ und „gegen diejenigen, welche den Bau der eingestürzten Gebäude genehmigt und die Projekte nicht überprüft haben“. Er fordert eine Anklage wegen „vorsätzlicher Tötung“ und „fahrlässiger Tötung“.
Es ist klar, wer vor Gericht gestellt werden sollte. Die Verantwortung für dieses massive soziale Verbrechen liegt vor allem bei der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und dem gesamten staatlichen und politischen Establishment, welche die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen nicht getroffen haben.
Die Reaktion der Erdoğan-Regierung auf das Erdbeben konzentrierte sich mehr auf die Vertuschung als auf schnelle Hilfe für die Erdbebenopfer über und unter den Trümmern.
Erdoğan erklärte am Freitag bei einer Rede in Adıyaman, bei der er mit einer enormen sozialen Wut und Widerstand konfrontiert war, die sich nicht unterdrücken ließen: „Es gab in diesem Prozess einige Mängel, aber unser Staat hat alles getan, um seinen Bürgern zu Hilfe zu eilen.“ Dann räumte er ein: „Es ist wahr, dass wir die Interventionen nicht in dem Ausmaß beschleunigen konnten, wie wir gewollt hätten.“ Dennoch attackierte er diejenigen, welche die bankrotte Reaktion der Regierung auf die Erdbebenkatastrophe kritisierten, als „politische Plünderer“.
Obwohl die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie bei etwa 29.000 Lira (1.450 Euro) pro Monat liegt und der Mindestlohn bei 8.500 Lira (420 Euro), kündigte Erdoğan eine Entschädigung für Erdbebenopfer von nur 10.000 Lira (495 Euro) pro Haushalt an.
Damit setzt er die Politik seiner Regierung fort. Sie hat keine Mittel bereitgestellt, um durch erdbebensicheren Städtebau in den zehn betroffenen Provinzen oder in Istanbul – wo Wissenschaftler in den nächsten Jahren ein Beben der Stärke 7,0 erwarten – zehntausende Menschenleben zu schützen. Stattdessen hat die Regierung den Banken, Konzernen und dem Militär hunderte Milliarden zukommen lassen.
Wie Wissenschaftler betont haben, hat keine Partei des kapitalistischen Establishments in Kahramanmaraş oder Istanbul gegen die offizielle Regierungspolitik der Vernachlässigung kommender Erdbebenkatastrophen mobilisiert oder eine Kampagne geführt.
Der Geologe Professor Dr. Naci Görür, der besonders in den letzten drei Jahren auf die wachsende Gefahr von Erdbeben in der Region aufmerksam gemacht und sofortige Maßnahmen gefordert hat, wies erneut auf die Gefahren für Istanbul hin, die nach dem Erdbeben am Montag drohen: „Die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens [in Istanbul] innerhalb von 30 Jahren lag seit 1999 stetig bei 62 Prozent. Seither sind 23 Jahre vergangen, und die Wahrscheinlichkeit ist von 62 auf etwa 70 Prozent gestiegen. Wir werden überfällig.“
Seit dem Erdbeben hat Erdoğan mehrfach behauptet, man habe sich unmöglich auf eine so massive Katastrophe vorbereiten können. Doch damit versucht er nur, die Verantwortung seiner Regierung zu leugnen. Sowohl die Analysen von Wissenschaftlern als auch die Berichte türkischer Behörden widerlegen dieses Argument.
Professor David Alexander, ein Experte für Notfall-Planung und -Management am Londoner University College, erklärte gegenüber der BBC: „Die maximale Intensität dieses Erdbebens war gewaltig, aber nicht unbedingt stark genug, um stabil konstruierte Gebäude zum Einsturz zu bringen.“
Trotz der Verbesserungen bei den Erdbebenvorschriften im Jahr 2018 gab es laut Professor Alexander in der Praxis Korruption: „An den meisten Orten war das Beben geringer als die maximale Stärke. Daraus können wir schließen, dass von den tausenden eingestürzten Gebäuden fast alle nicht die erforderlichen Erdbeben-Bauvorschriften erfüllt haben.“
Der BBC-Bericht wies auf „Bau-Amnestien“ der türkischen Regierung hin. Dabei handelt es sich „faktisch um gebührenpflichtige Ausnahmen von Gesetzen für Gebäude, die ohne die notwendigen Sicherheitszertifikate gebaut wurden“. Pelin Pınar Giritlioğlu, Vorsitzende des Verbands der Stadtplaner der türkischen Ingenieurs- und Architektenkammer, erklärte: „In dem betroffenen Erdbebengebiet im Süden der Türkei haben bis zu 75.000 Gebäude Bau-Amnestien erhalten.“
Die letzte „Bau-Amnestie“ war im Jahr 2018.
Das türkische Ministerium für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel veröffentlichte einen Januar-Juni-2022-Bericht, laut dem insgesamt 244.607 unsichere Gebäude in 81 türkischen Provinzen der Türkei festgestellt wurden. Davon befanden sich 2.512 in Hatay, 1.765 in Kahramanmaraş und 1.239 in Adıyaman. In zehn Provinzen, darunter in diesen drei, sind laut offiziellen Angaben etwa 6.500 Gebäude vollständig eingestürzt.
In Istanbul, einer Stadt mit 16 Millionen Einwohnern, wurden 84.000 unsichere Gebäude identifiziert. Hunderttausende Menschen, die in diesen Gebäuden leben, sind durch ein bevorstehendes Erdbeben in Gefahr.
Trotzdem haben laut der Tageszeitung BirGün während der Erdbebenkatastrophe Istanbuler Stadträte, die von Erdoğans AKP regiert werden, „während ihrer Februarsitzung Grünanlagen zur Bebauung freigegeben“. Das bedeutet, dass sich die ohnehin schon sehr knappe Zahl der Sammelplätze nach Erdbeben weiter verringern wird.
Die Katastrophen- und Notfallschutzbehörde (AFAD), die dem Innenministerium unterstellt ist und die Reaktion auf das Erdbeben koordiniert, hat sich als völlig unvorbereitet auf eine Katastrophe erwiesen, von der alleine in der Türkei 13 Millionen Menschen unmittelbar betroffen sind. Die AFAD, die für das Erdbeben nur etwa 8.000 Such- und Rettungskräfte bereitstellte, bestätigte in ihrem eigenen Bericht von 2019, dass sie unterbesetzt ist.
Laut T24 hieß es in dem Bericht: „Die Aufteilung der Pflichten, Befugnisse und Verantwortungsbereiche innerhalb der Behörde sind nicht ausreichend geklärt... Die strukturelle und funktionale Integration war aufgrund der Fusion von zuvor drei Institutionen noch nicht abgeschlossen... einige Such- und Rettungskräfte können keine aktiven Rollen bei Such- und Rettungsdiensten übernehmen.“
Das Budget der AFAD wurde im Jahr 2023 um ein Drittel gekürzt. Bereits die Reaktion auf das Erdbeben der Stärke 6 in der nordwesttürkischen Stadt Düzce am 23. November 2022 hatte die Unzulänglichkeit der Behörde und die sträfliche Vernachlässigung durch die Regierung deutlich gemacht. In ihrem Bericht über das Erdbeben in Düzce von 2022, bei dem niemand unter den Trümmern starb, äußerte die AFAD über ihre eigenen Unzulänglichkeiten:
Nach dem Erdbeben konnte der türkische Katastrophen-Reaktionsplan (TAMP) nicht umgesetzt werden, weil Katastrophen-Hilfegruppen und Behörden nicht ausreichend vorbereitet waren. Da TAMP nicht umgesetzt werden konnte, herrschte beim Katastrophenmanagement Chaos und Verwirrung, was zu Verwirrung bei den Pflichten und Befugnissen führte. Entscheidungen konnten wegen fehlender Kommunikation nicht vernünftig gefällt werden. Die Katastrophen-Hilfegruppen konnten ihre Mittel nicht wirksam einsetzen, was zu einer unzureichenden Reaktion führte.
Die Folge war die verspätete und unzureichende Reaktion auf das Erdbeben in Kahramanmaraş von 2023, das zehntausende vermeidbare Todesopfer forderte und weitere zehntausende, die noch unter den Trümmern verschüttet sind.
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