Wenige Tage vor der Nachricht, dass die deutsche Regierung wieder Kampfpanzer gegen Russland rollen lässt, erinnerte das Museum Berlin-Karlshorst an die Hungerblockade Leningrads, des heutigen Sankt Petersburgs, der rund 1,2 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Sie endete vor 79 Jahren. Das bei der Veranstaltung vorgestellte Museumsheft dokumentiert die Zeugnisse der russisch-jüdischen Familie Mojshes und ruft dieses deutsche Kriegsverbrechen wieder ins Bewusstsein.
Dem Vernichtungskrieg der Nazis gegen die Sowjetunion fielen 27 Millionen Sowjetbürger zum Opfer, davon 14 Millionen Zivilisten, und damit fast die Hälfte der Gesamtzahl der Opfer des Zweiten Weltkriegs. Allein die Zahl der Blockadeopfer war rund 2,5 Mal so hoch wie die Gesamtzahl der Opfer der amerikanischen Armee.
Leningrad, Moskau und die Ukraine mit den Städten Kiew und Odessa waren die ersten Ziele des Überfalls der Wehrmacht am 22. Juni 1941. Als sich im Spätsommer die Erwartung eines schnellen Siegs als Fehlkalkulation abzeichnete, entschieden Hitler und die Wehrmachtführung, Leningrad nicht einzunehmen, sondern abzuriegeln. Die Bevölkerung der Drei-Millionen-Stadt sollte durch Dauerbeschuss und Hunger vernichtet werden, auch als blutige Rache am Bolschewismus und der Oktoberrevolution, die von dieser Stadt ausging.
Zweieinhalb Jahre lang, genau 872 Tage, waren die Bewohner des einstigen Petrograd eingeschlossen, bis es am 27. Januar 1944 der Roten Armee gelang, den Belagerungsring aufzubrechen. Im Winter 1941/42 gab es nur eine Verbindung über den zugefrorenen Ladoga-See per Lastwagen, von den Bewohnern „Straße des Lebens“ genannt, die ständig beschossen wurden und im Eis einbrachen. Viele Menschen, die auf diesem Weg evakuiert werden sollten, verloren ihr Leben, und dringend benötigte Lebensmittellieferungen erreichten nicht ihr Ziel. Erst ab dem 18. Januar 1943 konnte eine Eisenbahnlinie über einen schmalen Landkorridor, ebenfalls unter ständigem Beschuss, Nahrungsmittel transportieren.
Die Hungerblockade wurde im Nürnberger Prozess 1945 als eines der schwersten deutschen Kriegsverbrechen gewertet und gilt als Genozid. Dem Prozess lag als Beweisdokument unter anderem das wohl bekannteste und erschütterndste Tagebuch vor, in dem die 12-jährige Tatjana Sawitschewa den Tod ihrer Angehörigen mit Datum und Uhrzeit eingetragen hatte – zuletzt „Mama am 13. Mai um 7.30 morgens 1942“.
Im Mittelpunkt der Diskussionsrunde im ehemaligen Deutsch-Russischen Museum – auch „Kapitulationsmuseum“ genannt, denn hier hatten in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 die deutschen Generäle Keitel, von Friedeburg und Stumpff die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnet – standen das Tagebuch von Lasar Mojshes und die Erinnerungen seiner Tochter Anna.
Die Familie Mojshes stammte ursprünglich aus dem Rayon Witebsk, wo sich unter der Zarenherrschaft viele Juden ansiedelten, zog 1913 nach Jelez im Gebiet Orel und floh vor den grausamen Pogromen der Weißen Gardetruppen während des Bürgerkriegs nach Petrograd, dem späteren Leningrad.
Vater Lasar, der in einer Fabrik für Schulmaterialien arbeitete, begann am 9. September sein Tagebuch. Am Tag zuvor hatte sich der Belagerungsring um die Stadt geschlossen, und in der Nacht fielen deutsche Bomben auf das zentrale Versorgungslager der Stadt, die Badajew-Hallen, die fast vollständig niederbrannten.
„Die Ereignisse der letzten Tage in Leningrad sind so schwerwiegend, dass ich beschloss, darüber Tagebuch zu führen“, notiert Lasar Mojshes. Er sieht sich als Chronist und versucht, nüchtern, aber genau und detailliert mit Angaben von Straßennamen, Hausnummern, sogar Uhrzeiten, die Bomben- und Artillerieeinschläge zu registrieren, sowie die Zahl der Toten aufzulisten. Beiläufig erfährt man, wieviel soziale und kulturelle Einrichtungen in der Stadt der Oktoberrevolution existierten – Essenskantinen, mehrere Kliniken, das Mariinskij-Theater, ein Jugendtheater, das „Haus des Bauern“, der Palast der Arbeit, gemeinsame Wäschereien.
Die Nazis, von Lasar nur als Mistkerle und Schurken bezeichnet, bombardierten gezielt zivile Ziele mit vielen Opfern, darunter das größte Kaufhaus Leningrads Gostinij Dwor, Bus- und Straßenbahnhaltestellen oder auch das Krankenhaus für Evakuierte am Newskij-Prospekt. Man erfährt auch, dass eine Bombe die Elefantenkuh Betty getötet hat, die seit 1911 im städtischen Zoo lebte.
Gleichzeitig notiert Lasar, wie die Brotrationen immer kleiner werden – er selbst gehört zu den Nicht-Arbeitenden, nachdem seine Fabrik nach Kriegsbeginn geschlossen wird, und muss zum Schluss mit der geringsten Ration von 125 Gramm pro Tag auskommen, was etwa eine dünne Scheibe Brot bedeutet. Der Hunger wird immer verzweifelter, in den Kantinen gibt es nur noch dünne Suppe, ohne Gemüse und erst recht nicht Fleisch. „Man kann nicht mal Pferdefleisch bekommen, Katzen wurden fast alle gegessen, sogar ich träume davon, eine Katze zu fangen und sie zu probieren“, schreibt Lasar.
„Man ist am Verhungern. Trotz alledem murren wir nicht. So ist es besser, als in die Hände der Hitleristen zu fallen, die ihre Zähne an uns wetzen. Wir sehen unsere Erlösung nur in der Niederlage der Mistkerle und Banditen. Glück sei mit uns.“ Damit endet das Tagebuch von Lasar Mojshes am 30. November 1941.
Einen Monat später starb er mit 59 Jahren den Hungertod. Seine im Museumsheft abgebildete Sterbeurkunde wurde auf den 30. Dezember 1941 ausgestellt – Todesursache Dystrophie III. Grades. Seine Frau Tatjana und seine vier Kinder wurden rechtzeitig evakuiert und überlebten die Blockade. Tatjanas Bruder und dessen Frau, die mit ihnen zusammenwohnten, verhungerten ebenfalls.
Die Erinnerungen seiner Tochter Anna, Journalistin und beteiligt an den Kinderevakuierungen aus Leningrad, wurden kurz vor ihrem 90. Geburtstag, im Jahr 1999, auf Tonband aufgenommen. Sie hatte die Leitung der evakuierten Kinder insbesondere aus Journalisten- und anderen Familien der Intelligenzija nach Tatarstan im Spätsommer 1941 übernommen und kehrte 1944 nach Leningrad zurück. Auch ihr Sohn Wolodja war dabei.
Die Bonner Historikerin Katja Makhotina, selbst in Petersburg geboren, erklärte zu diesem Dokument in ihrer Einleitung, das Interessante sei, dass Anna Mojshes noch zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion das „kommunistische Erzählen“ vertrete. Ihre Sprache mit „optimistischem Narrativ“ klänge an vielen Stellen „wie eine Pionierzeitung“. Man spüre darin ihren „Stolz, den sie empfindet, dass es ihr gelungen ist, aus den eher verwöhnten Intelligenzija-Kindern ‚Stoßarbeiter‘ gemacht zu haben. ... Aber sie arbeiten nicht nur: Sie empfinden Glück bei der Arbeit, einen großen Stolz und Enthusiasmus.“
Sie erklärt sich diese „kommunistische Sprache“ mit dem Versuch der Überlebenden, ihre Traumata zu überwinden. Doch der Enthusiasmus und Stolz in der Zeit der Leningrader Blockade sind weder erfunden noch übertrieben, genauso wenig wie die Kampf- und Opferbereitschaft der sowjetischen Soldaten an den Fronten. Die einleitenden Bemerkungen bringen die Haltung der Nachwende-Akademiker zum Ausdruck, die den Kampfgeist der sowjetischen Bevölkerung als Unterstützung für das stalinistische Regime werten, dass sie mit Sozialismus gleichsetzen.
Die Bevölkerung war jedoch trotz der stalinistischen Verbrechen bis zum Letzten entschlossen, die Errungenschaften der Oktoberrevolution – das verstaatlichte Eigentum, die Planwirtschaft und die damit verbundenen sozialen und kulturellen Fortschritte – gegen die Nazi-Invasion zu verteidigen. Dass sich dies auch auf die Kinder auswirkte, ist nicht zu bezweifeln.
Es war die kriminelle Politik der stalinistischen Bürokratie, die die Sowjetunion schutzlos den Faschisten ausgeliefert hatte. Stalin hat im Großen Terror nicht nur nahezu die gesamte Führung der Oktoberrevolution und Hunderttausende aufrechte Kommunisten und Intellektuelle ermordet, sondern auch die Rote Armee enthauptet. Die Warnungen vor dem Angriff der Nazis schlug er in den Wind, vertraute auf den Hitler-Stalin-Pakt.
Anna verschweigt nicht die Schwierigkeiten auf den Dörfern, in denen Stalins Politik der Zwangskollektivierung zu feindlichen Reaktionen führt. Sie spricht auch über Auseinandersetzungen zwischen Kindern und Betreuern. Doch sie ist davon beseelt, die besten Elemente der Revolution in ihre pädagogische Betreuung der Kinder einfließen zu lassen, um sie trotz Trennung von ihren hungernden Eltern in Leningrad und trauriger Nachrichten aufzuheitern und Geborgenheit zu schaffen. „Die Kinder lieben es und schätzen es, wenn man sie als gleiche behandelt ...“, sagt Anna und berichtet, wie die Erzieher Theaterstücke, Literaturwettbewerbe, Lieder und eine Wandzeitung mit ihnen entwickeln.
Anna Mojhes setzt sich am Ende gegen bürokratische Widerstände dafür ein, die Waisenkinder nach Leningrad zurückzubringen und ihnen dort mit Betreuung und sozialen Zusammenhalt zu helfen, den Verlust der Eltern zu verarbeiten.
Am Ende der Versammlung ergriff der heute 94 Jahre alte russisch-jüdische Überlebende Leonid Berezin das Mikrofon und dankte mit bewegenden Worten dem Museum: „Diese Veranstaltung ist sehr selten. In Berlin, in Deutschland, überall in der Welt sind sie heute gegen Russland.“ Die Hungerblockade war ein Genozid, fuhr er fort. Aber: „Wir sind da!“ fügte er mit Blick auf die Überlebenden hinzu. „Diese Veranstaltung ist für mich besonders wichtig“, betonte er, und dann langsam, tief, rau, unüberhörbar noch einmal die Worte: „Denn wir sind da!“
Leonid Berezin, 1929 in Sibirien geboren, hat im Zweiten Weltkrieg die Blockade Leningrads durch die Deutschen und den Holocaust überlebt. 1941, als die Wehrmacht auf die sowjetische Millionen-Stadt vorrückte, wurde er mit einem Kindertransport evakuiert. Doch der Zug wurde von deutschen Bombern angegriffen, und als 12-Jähriger lief er drei Tage lang, zusammen mit wenigen anderen überlebenden Kindern, zurück nach Leningrad. Im Februar 1942 überlebte er als 13-Jähriger einen Kindertransport über den zugefrorenen Ladoga-See. Viele seiner Verwandten starben in Leningrad und wurden in Weißrussland Opfer des Holocaust.
Nach der Auflösung der Sowjetunion kam er als Teil der sogenannten Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Darunter befanden sich auch Blockadeopfer, von denen heute noch rund 300 leben. In Leningrad war Berezin zuletzt Professor für Funkwellentechnik, heute lebt er wie viele andere der jüdischen Kontingentflüchtlinge in ärmlichen Verhältnissen in einer Berliner Einzimmerwohnung und erhält lediglich Grundsicherung. Er leitet den Berliner Verein der Blockadeopfer „Lebendige Erinnerung“, der am 27. Januar die Befreiung Leningrads vom Belagerungsring als „unseren Siegestag“ feiert.
Am 2. Februar lädt das Museum Berlin-Karlshorst, dessen ursprünglicher Name vor allem auf Betreiben der Grünen geändert wurde, anlässlich des 80-jährigen Jahrestags der Schlacht um Stalingrad zu einer Lesung und Diskussion des Buchs von Wassili Grossman „Stalingrad“ ein.
Die Website des Museums hat während der letzten Corona-Jahre einige hilfreiche Videoführungen unter anderem zur Blockade Leningrads und zur Hungerpolitik der Nazis im Rahmen des Generalplans Ost integriert. Das Museumheft „Die Blockade Leningrads in Selbstzeugnissen der Familie Mojshes“kann hier bestellt werden.
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