Wassili Grossman, Stalingrad. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Maria Rajer, Andreas Weihe. Mit einem Vorwort von Jochen Hellbeck. Claassen Verlag, Berlin 2021
Am 1. November erscheint erstmals auf Deutsch Wassili Grossmans Roman Stalingrad als vollständige rekonstruierte Urfassung – fast sieben Jahrzehnte nach seinem ersten Erscheinen auf Russisch im Jahr 1952 unter dem Titel За правое дело (deutsch: Für die gerechte Sache). Jene erste, stark zensierte Fassung war 1958 im Berliner Dietz Verlag unter dem Titel Wende an der Wolga auf Deutsch erschienen.
Das Buch kommt zur rechten Zeit. Gerade erst hat der Fackelzug vor dem Berliner Reichstagsgebäude zur Feier für die Afghanistan-Soldaten düstere Erinnerungen an jene Zeit vor 80 Jahren geweckt, als die Nazi-Truppen die Sowjetunion überfielen. Die Rückkehr der militärischen Großmachtpolitik Deutschlands, für die heute alle offiziellen Parteien die Trommel rühren, macht Stalingrad höchst aktuell.
Das über tausend Seiten starke Werk ist die Vorgeschichte zu Grossmans weltbekanntem Roman Leben und Schicksal (1959) und erzählt die Schlacht um Stalingrad 1942/43 von seinem Ausgangspunkt an, dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Der Autor hatte beide Bücher als zwei Teile eines Gesamtwerks verstanden.
Allerdings, wie der Historiker Jochen Hellbeck in seinem exzellenten Vorwort für die deutsche Ausgabe, „Das Feuer von Stalingrad“, aufzeigt, wurde der erste Teil nicht nur von den stalinistischen Zensoren verstümmelt, sondern gleichzeitig auch im Westen ausgeblendet. Dies, so Hellbeck, liege an den „Schablonen aus der Zeit des Kalten Kriegs“, wonach nur Werke von Dissidenten als große Literatur gelten durften.
Als Wortführer gegen Grossmans Werk trat Alexander Solschenizyn auf, der Leben und Schicksal, das ebenfalls lange Zeit blockiert wurde und erst 1984 auf Deutsch erschien, als rückgratloses Auftragswerk beschimpfte. Er sprach der sowjetischen Bevölkerung bei ihrem Kampf um Stalingrad jegliche Identifizierung mit den Idealen der Oktoberrevolution ab.
Doch genau das steht im Mittelpunkt von Grossmans epischem Roman. Er erweckt in faszinierender Weise die vielen Menschen zum Leben, die in diesem Krieg zu den größten Opfern bereit waren, weil sie trotz Stalins Terrorregime den sowjetischen Staat als ihre eigene Errungenschaft betrachteten. Oder, wie es Hellbeck formuliert, Grossmans Bestreben galt vor allem „den zigtausend namenlosen Menschen, die die Last des Krieges willentlich trugen, im Bewusstsein, ‚für die gerechte Sache‘ zu handeln“. (S. 11)
Die nun vorliegende, unzensierte Ausgabe unter dem von Grossman selbst gewünschten Titel Stalingrad, die der Claassen-Verlag herausgebracht hat, folgt der Veröffentlichung auf Englisch im Jahr 2019. Das editorische Nachwort von Robert Chandler und die ausführlichen Anmerkungen wurden aus dem Englischen übersetzt, Nachfolgend veröffentlichen wir eine Besprechung der englischen Ausgabe, die am 2. Juli 2021 auf der WSWS erschienen ist.
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2019 erschien Wassili Grossmans Roman Stalingrad zum ersten Mal in einer vollständigen englischen Übersetzung, fast sieben Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1952. Das Werk ist die Vorgeschichte zu Grossmans bekanntem Roman Leben und Schicksal (1959). Der Autor hat die beiden Romane als ein einheitliches Ganzes konzipiert. Die Veröffentlichung dieses Meisterwerks ist ein kulturelles Ereignis von großer Bedeutung.
Der Roman beginnt mit einem Treffen zwischen den faschistischen Diktatoren Adolf Hitler und Benito Mussolini am 29. April 1942, bei dem sie über den Fortschritt des Krieges sprechen. Weniger als ein Jahr zuvor hatten die Nazis die Sowjetunion überfallen und den blutigsten Konflikt der Menschheitsgeschichte eingeleitet. Als im Jahr 1945 der Krieg zu Ende ging, waren mindestens 27 Millionen Sowjetbürger, darunter 1,5 Millionen sowjetischer Juden, nicht mehr am Leben. Trotz der stalinistischen Degeneration der Sowjetunion und des Großen Terrors der Jahre 1936-38, erhoben sich die Massen zur Verteidigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution gegen die faschistischen Invasoren.
Der Geist, der die Rote Armee in ihren Anfangsjahren beseelte, nachdem sie von Leo Trotzki und den Bolschewiki zur Verteidigung der Revolution geschaffen worden war, lebte in hohem Maße wieder auf. Es ist gerade dieser Geist, der Grossmans Roman durchdringt.
Die Handlung von Stalingrad ist zu komplex, um vollständig wiedergegeben zu werden. Viele der handelnden Figuren, insbesondere der Physiker Viktor Strum und die Familie Schaposchnikow, werden den Lesern von Leben und Schicksal vertraut sein. Grossman entfaltet ein gesellschaftliches Panorama der sowjetischen Bevölkerung im Krieg. Er porträtiert Teile der technischen Intelligenzija; Bergarbeiter in Sibirien, die in der Kriegsproduktion arbeiten; Kinder, die der Krieg zu Waisen machte; historische Persönlichkeiten wie General Andrej Jerjomenko; doch vor allen Dingen sowjetische Zivilisten und Soldaten, Angehörige der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in Stalingrad.
Der letzte Teil des Werks konzentriert sich ganz auf den Angriff der Nazis auf Stalingrad, ein lebenswichtiges Industrie- und Transportzentrum im Süden Russlands, und die sowjetische Verteidigung der Stadt in den ersten beiden Septemberwochen 1942. Es war die Schlacht um Stalingrad (vom 23. August 1942 bis zum 2. Februar 1943), auf dem Westufer der Wolga, im „Herzen Russlands“, die tatsächlich den Ausgang des Krieges entscheiden half und das Schicksal des Dritten Reiches der Nationalsozialisten besiegelte. Und jeder hatte dies damals, von Moskau bis Berlin, von London bis Washington, sofort verstanden.
Die Rote Armee wurde vom Einmarsch der Nazis vollkommen überrumpelt, was vor allem auf den verbrecherischen Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und die Enthauptung der Armeeführung durch Stalins Großen Terror zurückzuführen war. Sie war gezwungen, sich bis zum Herbst 1942 tief in das Landesinnere Sowjetrusslands zurückzuziehen. Millionen Menschen kostete dies das Leben. Indessen konnte die Sowjetunion im Verlaufe dieses Jahres immense wirtschaftliche Ressourcen für die Kriegsführung mobilisieren. Sie erreichte dies hauptsächlich durch das Planungsprinzip der Wirtschaft, das trotz bürokratischer Einschränkungen und Verzerrungen existierte, und die enormen Opfer, die die sowjetische Bevölkerung leistete.
Die Schlacht von Stalingrad
Obwohl die Wehrmacht der Roten Armee anfangs zahlenmäßig überlegen war, konnte letztere Stalingrad verteidigen und schließlich in die Offensive gehen. Anfang Februar 1943 war die 6. Armee von General Friedrich Paulus vernichtet, die erste große militärische Niederlage, die die Nazis im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges erlitten hatten. „Sollte die russische Revolution (...) gezwungen sein ihre Strömung in den Kanal eines Krieges zu lenken, so wird sie eine ungeheuere, alles überwältigende Kraft entfalten“, hatte Leo Trotzki im Jahr 1934 vorhergesagt. (Trotzki, Schriften, Band 1.1, Hamburg, 1988, S. 536)
Das Blatt hatte sich gewendet und damit die Moral der Bevölkerung in der Sowjetunion und in den von den Nazis besetzten Gebieten Europas erheblich gesteigert. Die Schlacht befeuerte auch den Widerstand gegen die Nazis in Deutschland selbst, darunter von der Gruppe „Weiße Rose” von Sophie und Hans Scholl.
Das schiere Ausmaß und die Brutalität der Schlacht – der größten des Zweiten Weltkriegs und der gesamten Menschheitsgeschichte – sind immer noch kaum zu begreifen. Weit über eine Million Männer waren auf beiden Seiten in die Schlacht verwickelt, und die Mehrheit von ihnen überlebte sie nicht. Auf sowjetischer Seite beziffern konservative Schätzungen die militärischen Verluste auf 479.000 Tote, doch es könnten doppelt so viele sein. Die Wehrmacht verlor schätzungsweise 295.000 Mann.
Grossmans Beschreibung der albtraumhaften Bombardierung, mit der die gesamte Stadt in Brand gesetzt wurde, hinterlässt einen tiefen Eindruck. Mindestens 40.000 Menschen, wird angenommen, starben innerhalb von drei Tagen. Er beschreibt ausführlich die Anstrengungen versprengter sowjetischer Soldaten der 308. Schützendivision, unter ohrenbetäubendem Beschuss durch die Wehrmacht Teile der Stadt zu halten, bis die Ablösung kommt. In praktisch jedem einzelnen Fall bezahlen sie dies mit ihrem eigenen Leben. Aus gutem Grund haben sich diese höllischen Erfahrungen tief in das Bewusstsein der Bevölkerung der früheren Sowjetunion eingebrannt.
Szenen schrecklicher Gewalt wechseln sich ab mit Szenen, die humorvoll, poetisch und zärtlich sind. Seine Darstellungen der vielen Menschen, die wissend ihrem eigenen Tod entgegengehen, um die Sowjetunion zu verteidigen, sind herausragend. Grossman hat ein sicheres Gespür für die Komplexität der menschlichen Psychologie vor dem Hintergrund dieser enormen historischen Erschütterungen und der sie begleitenden Massenvernichtung. In einer Szene erhält Lena Gnatjuk, eine junge Krankenschwester der Roten Armee, in einem der letzten Augenblicke ihres Lebens, ein amerikanisches Hilfspaket.
Sie [Lena] löste die Schnur und begann, das Papier abzuwickeln. Das Papier raschelte und widersetzte sich, bis das Paket schließlich offen dalag. Das Mädchen ging in die Hocke, damit all die kleinen und größeren Dinge nicht herunterfielen, und nahm den Inhalt in Augenschein. Was gab es da nicht alles! Ein Wolljäckchen mit schönem buntem Muster in Grün, Blau und Rot; einen flauschigen Bademantel mit Kapuze, zwei Paar Spitzenhöschen und Hemdchen mit Bändern, drei Paar Seidenstrümpfe; winzige mit Spitze gesäumte Taschentücher; ein weißes Kleid aus edlem Batist mit Biesen, eine Dose mit duftender Creme, ein Fläschchen Parfüm, das mit einem breiten Band umwickelt war.
Das Mädchen schaute von unten auf die beiden Kommandeure, mit einem Blick voller Weiblichkeit und innerer Grazie, und es schien, als hätte sich plötzliche Stille über den Bahnhof gesenkt, damit ihr Gesicht diesen Ausdruck ungetrübt bewahren konnte. Dieser Blick vereinte die Trauer über die ihr vom Schicksal vorenthaltene Mutterschaft, die Ahnung ihres harten Loses – und den Stolz darauf.
Da stand sie, in den großen Soldatenstiefeln, in Hosen und Feldbluse, aber auf seltsame, erstaunliche Weise wirkte Jelena Gnatjuk vielleicht niemals anmutiger und fraulicher als in diesem Augenblick, da sie auf diese schönen hübschen Dinge verzichtete. „Was soll ich damit?“, fragte sie. „Das nehm ich nicht, das brauch ich jetzt nicht.“
Und die Männer wurden verlegen, sie begriffen, was das Mädchen, das sich so unbeholfen, hässlich und stolz vorkam, in diesen Minuten fühlte. (S. 1110/11)
Einige Stunden später werden alle diese Menschen tot sein.
Wichtig sind auch die Szenen mit den deutschen Truppen. Grossman zeichnet ein scharfes und vernichtendes Porträt eines karrieristischen Wehrmachtssoldaten, von Stumpfe, einem Vertreter des deutschen Kleinbürgertums, der seine eigene Familie innig liebt, sich aber an gewalttätigen Übergriffen und Ausplünderungen der sowjetischen Bevölkerung beteiligt. Er denunziert Hitler-kritische Kameraden beim Gestapo-Beauftragten seiner Einheit und bemüht sich um seine „Beförderung“: Er will in einer „Todesfabrik“ für die Juden im besetzten Polen eingesetzt werden, wo er sich mehr Gelegenheiten zur Selbstbereicherung erhofft.
Schmidt hingegen ist ein ehemaliger Gewerkschafter, der mit dem revolutionären Sozialistenführer Karl Liebknecht zusammengearbeitet hat. Dem Spott und den Demütigungen, denen er von Stumpfe und anderen ausgesetzt ist, steht er gleichgültig gegenüber. Er verabscheut den Krieg und das Naziregime, weiß aber nicht, wie er sich mit gleichgesinnten Soldaten zusammenschließen kann.
Grossman wies eindeutig die stalinistische Lüge zurück, das gesamte deutsche Volk sei Hitler freiwillig gefolgt (die Theorie der „Kollektivschuld“), eine Lüge, die insbesondere während des Krieges verbreitet wurde, um die eigene Verantwortung der Stalinisten für die Katastrophe der Machtübernahme Hitlers 1933 zu vertuschen.
Grossmans zeichnet seine Figuren scharfsinnig und bisweilen bissig, aber nie verurteilend. Seine Schilderung ist von einer tief empfundenen Anteilnahme für das Leiden und die traumatischen Erlebnisse durchdrungen, die die sowjetische Gesellschaft durchgemacht hat – nicht allein in dem blutigen Krieg, sondern auch im stalinistischen Großen Terror der 1930er Jahre.
Zudem hat der Autor verstanden, dass inmitten dieser Katastrophen das Leben der Menschen weiterging. Sie zogen ihre Kinder groß, knüpften Beziehungen an, hielten sie aufrecht oder beendeten sie wieder, handelten manchmal kleinlich und verachtenswert oder trivial, aber oft auch bewunderungswürdig und edel. Er isoliert niemals das Individuum von der Gesellschaft und dem historischen Prozess, sondern zeigt die tiefe, komplexe und nicht immer direkte Wechselbeziehung zwischen entscheidenden gesellschaftlichen und politischen Ereignissen dieser Zeit und dem persönlichen Leben von Individuen.
Die Charaktere von Krymow und Schenja Schaposchnikowa, seiner jungen, schönen ehemaligen Ehefrau, gehören in dieser Hinsicht vielleicht zu den vielschichtigsten und wichtigsten. Krymow ist ein überzeugter Stalinist, allerdings auch der Revolution ergeben. Als ehemaliger Funktionär in der Kommunistischen Internationale verlor er viele seiner Freunde und Genossen in den Säuberungen der Jahre 1936-38. Krymow selbst hat diese nur knapp überlebt, doch sein Glaube an Stalin blieb unerschüttert. Schenja hatte ihn während des Terrors verlassen, nicht aus Sorge um ihr eigenes Schicksal oder aus Enttäuschung über die niedergehende Karriere ihres Mannes, sondern, weil sie ihn einfach nicht mehr liebte.
Mit Stalingrad (und Leben und Schicksal) wollte Grossman zweifellos eine Version von Tolstois Krieg und Frieden für das zwanzigste Jahrhundert erschaffen. Anders aber als Tolstoi in seinem monumentalen Epos über die Napoleonischen Kriege zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, macht der sowjetische Autor nicht den Adel oder seine zeitgenössische Entsprechung und auch nicht die Generäle zu seinen Protagonisten. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Bevölkerung als Gesamtheit, mit all ihren sozialen, politischen und psychologischen Widersprüchen, ihren unterschiedlichen Schichten und zahllosen charakterlichen und persönlichen Schattierungen.
Grossman verstand sehr gut, dass die Massen der Menschheit die Geschichte machen und dass, obwohl auch nationale Bedingungen eine Rolle spielten, die Ideale der Oktoberrevolution von 1917 – soziale Gleichheit und Freiheit von Unterdrückung jeglicher Art – die heldenhaften Anstrengungen der sowjetischen Massen im Widerstand gegen die Nazis anspornten. Zweifellos betrachtete er sein Werk als eine Hommage an ihr Heldentum und ihre Opfer. In der Tradition der russischen sozialistischen Intelligenzija sah Grossman die Aufgabe der Kunst darin, schonungslos ehrlich zu sein sowie dem Volk und dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen.
Grossmans Kampf mit der Zensur
Seinen Roman, den er 1943 begonnen hatte, stellte er 1949 fertig. Sein tiefes Verständnis des Krieges wurzelte in seinen eigenen Erfahrungen. Als Journalist für die Krasnaja Swesda (Roter Stern), einer offiziellen Armeezeitung, begleitete er die Rote Armee bei vielen der wichtigsten Schlachten des Krieges.
Er war Augenzeuge bei der Schlacht um Stalingrad von September 1942 bis Januar 1943 und bei der Befreiung der Ukraine, Teilen Polens und Deutschlands durch die Sowjetunion. Er sprach jahrelang mit Soldaten in den Schützengräben und schrieb über ihr Leben, ihre Erfahrungen und über das, was er „die unbarmherzige Wahrheit des Krieges“ nannte. Seine Artikel erschienen oftmals nur unter strenger Zensur. Sein Mut an der Front, für den er bekannt war, seine Ehrlichkeit und Liebe zum Detail, mit denen er die Erfahrungen der sowjetischen Bevölkerung während des Krieges vermittelte, machten ihn zu einer der beliebtesten und geachtetsten Persönlichkeiten in der UdSSR, insbesondere in der Roten Armee.
Grossman war auch Autor einiger der ersten Berichte über den Völkermord der Nazis am europäischen Judentum. Er wurde 1905, dem Jahr der ersten Russischen Revolution, in dem kleinen ukrainischen Schtetl Berdytschiw geboren. In den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs ermordete eine SS-Einsatzgruppe in einem Massaker die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt, über 30.000 Menschen, darunter auch Grossmans Mutter.
Grossmans Bericht über Treblinka, eines der sechs Todeslager im von den Nazis besetzten Polen, diente später als Beweismittel bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Zusammen mit Ilja Ehrenburg verfasste er das Schwarzbuch des sowjetischen Judentums (1944), eine umfassende Dokumentation des Holocausts in der Sowjetunion.
Der Holocaust ist auch in Stalingrad präsent, vor allem durch die Figur von Viktor Strum, dessen Mutter, ebenso wie die von Grossman, in einem Massaker in der Ukraine ermordet wird. Tatsächlich war die Figur Strums einer der Streitpunkte mit der Zensur. Im Jahr 1949, als Grossman seinen Roman vollendete, ließ Stalin antisemitische Säuberungen in Teilen der Intelligenzija und der Bürokratie durchführen. Der Holocaust wurde zu einem Tabuthema und sollte es noch einige Jahre lang bleiben. Exemplare des Schwarzbuches von Ehrenburg und Grossman wurden eingestampft, und die Zensur versuchte erfolglos, Grossman dazu zu bewegen, die Figur Strums aus Stalingrad zu entfernen.
Auch andere Elemente des Buches machten es aus stalinistischer Sicht „gefährlich“. Die Szene, in der ein Soldat der Roten Armee an der Front Krymow spöttisch daran erinnert, dass dieser im Jahr 1932 ihm und anderen unter Zuhilfenahme von „Statistiken jeder Art“ „endgültig bewiesen“ habe, dass der Sieg des Faschismus in Deutschland absolut unmöglich sei, musste die Zensoren in Rage versetzen. Auch die wiederholten Anspielungen auf den Terror brachten das Buch in Gefahr, Schikanen der Zensur anheimzufallen. Stalin wird nur von überzeugten Stalinisten als bewundernswerte Gestalt beschworen, ansonsten wird er kaum erwähnt.
„Bürokrat“ ist ein wiederkehrender und abschätziger Begriff, der in Stalingrad sowohl von Zivilisten als auch Soldaten verwendet wird. In einer Szene während der Bombardierung der Stadt heißt es von der bürokratischen Leitung eines Krankenhauses, dass sie sich – und das überrascht niemanden – nicht um die Rettung der Patienten kümmert, während die gesamte Belegschaft ihr Leben riskiert und in das brennende und bombardierte Gebäude läuft. Die leitenden Funktionäre kehren erst zurück, als die Gefahr vorüber ist, um ihre Untergebenen erneut zu kommandieren.
Grossman fängt die antibürokratischen Stimmungen ein, die nicht nur weit verbreitet waren, sondern während des Krieges auch relativ offen gezeigt wurden. Diese Stimmungen, häufig in der Hoffnung geäußert, dass die sowjetische Bevölkerung nach einer Abrechnung mit Hitler auch Stalin loswerden würde, waren einer der Hauptgründe, warum die Bürokratenkaste nach dem Krieg eine neue Säuberungswelle lostrat und in den frühen 1950er Jahren oppositionelle Jugendgruppen mörderisch unterdrückte.
Auch andere, scheinbar nebensächliche Darstellungen der Kriegsrealität berührten Tabuthemen: die Schilderung der chaotischen Massenevakuierungen aus dem brennenden Stalingrad, von massiven Niederlagen und Rückzügen und von der Handvoll erbittert antikommunistischer Bauern, die die Besetzung ihres Dorfes durch die Nazis herbeisehnten.
All dies – das Leid der Zivilbevölkerung und die Darstellung der Nazisympathisanten und Kollaborateure unter den Sowjetbürgern – wurde von den Stalinisten aus den Geschichtsbüchern verbannt. Die Darstellung von Kommandeuren als nicht besonders heldenhaft, manchmal voll kleinlicher Eifersüchteleien und Rivalitäten, erregte ebenfalls den Zorn der Zensoren und von Teilen der militärischen Führung, die sich an den Diskussionen über das Buch beteiligten. Andere erzwungene Änderungen und Weglassungen gingen auf das Konto der engstirnigen, antimarxistischen Konzeptionen des „Sozialistischen Realismus”.
Dieser Kampf mit der staatlichen und militärischen Zensur dauerte mehrere Jahre. Der Roman wurde schließlich 1952 in der Literaturzeitschrift Nowy Mir (Neue Welt) veröffentlicht. Allerdings war dies nicht die von Grossman bevorzugte Version. Tatsächlich existieren nicht weniger als elf Versionen dieses Werks. Die meisten bisherigen Publikationen gehen zurück auf die Fassung aus dem Jahr 1956.
Die vorliegende Fassung in Englisch, die vom Hauptübersetzer Robert Chandler in Zusammenarbeit mit Yury Bit-Yunan auf der Grundlage von drei Ausgaben und den Archiven von Grossman zusammengestellt wurde, ist die vollständigste Ausgabe in allen Sprachen. Die Herausgeber und Übersetzer haben ihre Entscheidungen in sorgfältigen Anmerkungen erläutert, die es dem Leser ermöglichen, die Geschichte der Manuskripte nachzuvollziehen.Es ist eine großartige Leistung.
In einer Rede, die Leo Trotzki am 27. November 1932 in Kopenhagen hielt, bemerkte er: „Die tiefste, doch einer unmittelbaren Bemessung am schwersten unterliegende Bedeutung jeder großen Revolution besteht darin, dass sie den Volkscharakter formt und stählt.“ [Schriften 1.1, S. 396; Trotzki hielt diese Rede auf Deutsch]
Mehr als wohl irgend ein anderer sowjetischer Schriftsteller hat Grossman genau dies wahrgenommen: den Einfluss der Oktoberrevolution auf Denken, Fühlen und Bestrebungen der sowjetischen Bevölkerung; und es gelang ihm, dies in seiner literarischen Arbeit als Journalist und als Romancier einfließen zu lassen. Zwar deutet Leben und Schicksal wachsende Desillusionierung und Pessimismus an, doch er blieb bis zum Ende seines Lebens ein überzeugter Sozialist.
In einer bewegenden russischsprachigen Dokumentation erinnert sich sein Sohn, dass Grossman alljährlich am Siegestag, dem 9. Mai, seine Uniform der Roten Armee anzog und Kriegslieder sang. Er war stolz darauf, als ein Schriftsteller des Krieges zu gelten, und ließ nie von seiner Überzeugung ab, dass der Kampf der Roten Armee gegen den Faschismus einen historischen Beitrag zur fortschrittlichen Entwicklung der Menschheit darstellte.
Für Grossman, der als Künstler auf Dialog und Interaktion mit seinem Publikum angewiesen war, bedeutete es zweifellos eine große Tragödie, dass er weder dieses Werk noch Leben und Schicksal jemals in den von ihm gewünschten Fassungen erscheinen sah. (Leben und Schicksal wurde überhaupt erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlicht.) Im Jahr 1991 löste die stalinistische Bürokratie die Sowjetunion auf und restaurierte den Kapitalismus, womit sie das vollbrachte, was die Nazis im Zweiten Weltkrieg nicht geschafft hatten.
Heute, drei Jahrzehnte später, wird die Übersetzung von Stalingrad nicht nur endlich einem breiten Leserkreis ein Meisterwerk der Weltliteratur nahebringen. Sie wird auch neuen Generationen, insbesondere jungen Menschen, helfen, den enormen Einfluss der Oktoberrevolution zu verstehen und sich wieder mit dieser entscheidenden geschichtlichen Erfahrung zu verbinden.
Empfohlene weiterführende Literatur:
Antony Beevor und Luba Vinogradova (Hg.): Ein Schriftsteller im Krieg. Wassili Grossman und die Rote Armee 1941-1945, Bertelsmann, München 2007.
Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht, Verlag S. Fischer, Frankfurt a. M. 2012.
David North: Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert.
John G. Wright: The Soviet Union at War (1941). (englisch)
WSWS-Themenseite: Die Russische Revolution 1917