Streikende sprechen über den größten Pflegestreik in der Geschichte Großbritanniens

„Sie investieren nicht in Bereichen, wo sie keinen Profit sehen. Bei Waffenlieferungen ist es natürlich etwas anderes.“

Reporter der World Socialist Web Site sprachen am Dienstag mit den Pflegekräften an den landesweiten Streikposten. Sie verteilten Flugblätter der Erklärungen „Für einen Generalstreik zur Unterstützung der Pflegekräfte und zur Verteidigung des NHS gegen die Tory-Regierung: Baut Aktionskomitees auf!“ und „Pflegekräfte und Sanitäter stehen Regierung, Militär und Gewerkschaftsführung gegenüber“.

Streikposten vor dem Addenbrookes Hospital am 20. Dezember 2022

In ganz England, Wales und Nordirland beteiligten sich bis zu 100.000 Pflegekräfte des National Health Service (NHS) an Streiks. Betroffen waren fast 80 Arbeitgeber, darunter große Krankenhäuser in London, Birmingham, Leeds, Liverpool, Bradford, Cambridge und Nottingham.

Am Mittwoch streikten die Beschäftigten der Rettungsdienste in ganz England und Wales, und als zweiter Streiktag ist der 28. Dezember vorgesehen.

Bereits letzten Donnerstag traten Zehntausende Pflegerinnen und Pfleger in den Ausstand, dem ersten landesweiten Streik dieser Berufsgruppe. Die Pflegekräfte, die stellvertretend für die insgesamt 1,5 Millionen Beschäftigten des NHS stehen, fordern höhere Löhne und wehren sich gegen massive Reallohnkürzungen, die Rishi Sunaks Tory-Regierung durchsetzen will. Der Plan der Regierung sieht nur eine nominelle Erhöhung von durchschnittlich vier Prozent vor, was zehn Prozent unter der Inflationsrate des Einzelhandelspreisindex (RPI) liegt.

Der Streik in der letzten Woche fand trotz der konzertierten Bemühungen der Gewerkschaftsbürokratie des Royal College of Nursing (RCN) statt, den nur für zwei Tage geplanten Streik zu sabotieren. Es war der erste, den das RCN in seiner 106-jährigen Geschichte organisiert hat, und einer der wenigen in der über 70-jährigen Geschichte des NHS.

Das RCN hat seine Mitglieder über den Kampf für eine Lohnerhöhung von fast 20 Prozent (fünf Prozent über der Inflation nach dem RPI) abstimmen lassen. Doch als der erste Streik näher rückte, gab die Gewerkschaft diese Forderung auf. Die RCN-Vorsitzende Pat Cullen erklärte, man könne sich auch auf einen niedrigeren Abschluss einigen, wenn die Regierung über Löhne verhandeln würde. Sie erklärte: „Kommen Sie an den Verhandlungstisch und lassen Sie uns diskutieren... Es geht nicht darum, dass [die Pflegekräfte] sich die Taschen vollstopfen wollen.“

Die Times schrieb letzten Freitag, Cullen habe deutlich gemacht, dass „die Forderung nach einer Lohnerhöhung von fünf Prozent über der Inflation ein ,Ausgangspunkt‘ sei, was klar darauf hindeutet, dass sich ihre Gewerkschaft auch mit deutlich weniger zufrieden geben würde, wenn [Gesundheitsminister Steve] Barclay damit einverstanden ist, ,ernsthaft und respektvoll‘ über die Bezahlung der Pflegekräfte zu diskutieren“.

Die Pflegekräfte haben in der Arbeiterklasse einen großen Rückhalt, zumal Millionen Eisenbahner, Postangestellte, Lehrkräfte und andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes selbst gegen ihre Arbeitgeber und die Regierung für höhere Löhne und ein Ende der Angriffe auf ihre Arbeitsbedingungen, Renten und Arbeitsplätze kämpfen. Gewerkschafterin Cullen hingegen nutzt jedes Statement für vergebliche Aufrufe zu Kompromissen der Klassenkriegs-Regierung unter Sunak und Entschuldigungen für den Streikbeschluss.

Die Tory-Regierung wird sich aber auf keinen derartigen Kompromiss einlassen.

Die Daily Mail schrieb in einem Interview auf ihrer Titelseite unter der Überschrift „Rishi: Ich gebe den Streikenden nicht nach“: „Wie Rishi Sunak die streikenden Gewerkschaften gestern warnte, sei er bereit, sich ihren ,unvernünftigen‘ Lohnforderungen weiterhin zu widersetzen. Im Vorfeld der größten Streikwoche seit Jahrzehnten deutete der Premierminister in einem Gespräch mit der Mail an, er werde lieber monatelange Störungen tolerieren, als eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale zu riskieren.“

Schlagzeile der Daily Mail: „Rishi: Ich gebe den Streikenden nicht nach“ [Photo: screenshot of Daily Mail print edition, December 20, 2022]

Die Regierung will sich gegen die Lohnforderung der Pflegekräfte behaupten, um einen Präzedenzfall für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu schaffen. Am Dienstagnachmittag verweigerte sie erneut alle Diskussionen über höhere Löhne.

Die Beschäftigten des NHS haben das gesamte politische Establishment gegen sich. Die Labour-geführte walisische Regionalregierung, die den NHS-Beschäftigten eine Lohnerhöhung zwischen vier und 5,5 Prozent angeboten hat, teilt die harte Haltung der Tories.

In Schottland gab es am Dienstag keine Streiks der Pflegekräfte, da die Gewerkschaften mit der amtierenden Scottish National Party eine Lohnerhöhung unter der Inflationsrate ausgehandelt haben.

Leeds General Infirmary

Rebecca, eine Koordinatorin am Traumazentrum des Leeds General Infirmary (LGI), erklärte, bei dem Streik gehe es „um die Arbeitsbedingungen und Löhne für Pflegekräfte. Wir müssen mehr Leute für den Beruf interessieren, wir brauchen mehr Pflegekräfte auf den Stationen, an vorderster Front, zur Unterstützung bei der Patientenversorgung. Die Versorgung muss besser sein, also brauchen wir einen besseren Schlüssel von Patienten und Pflegenden. Das schaffen wir nur, wenn wir einen angemessenen Lohn erhalten, damit sich alle Pflegekräfte die Lebenshaltungskosten leisten können.

Rebecca (links) auf Streikposten am Leeds General Infirmary

Alleine die Ausbildung kostet 27.000 Pfund (30.758 Euro). Die Leute werden nicht wegen des Geldes Pfleger, aber sie brauchen ein Auskommen für ihre harte, schwere und lange Arbeit, um ihre Familie zu versorgen.

Ich weiß, dass es in den letzten Jahren viele Sparmaßnahmen gegeben hat, und der Corona-Lockdown hatte massive Auswirkungen auf die Wirtschaft. Aber als wir in den Lockdown gegangen sind, haben die Leute Urlaubsgeld bekommen, um die Lebenshaltungskosten zu stemmen. Jetzt sagt die Regierung, wir können uns eine angemessene Bezahlung der Pflegekräfte für ihre qualifizierte Arbeit nicht leisten.“

Sarah, eine Kinderkrankenschwester, erklärte: „Ich habe die Arbeit auf der Station aufgegeben, weil sie unterbesetzt ist, man nicht respektiert wird und es kein angenehmer Platz zum Arbeiten ist.

Ich stehe heute hier, weil es Leute auf der Station gibt, die sich um die Sicherheit der Patienten kümmern und deshalb nicht zum Streikposten kommen können. Ich stehe hier für alle Pflegekräfte und alle Mitarbeiter des NHS, die höhere, angemessenere Löhne, mehr Personal, mehr Respekt und bessere Job-Aussichten brauchen.

Ich glaube nicht, dass die aktuelle Regierung uns geben wird, was wir brauchen. Sie hatten zehn Jahre Zeit dafür und haben es nicht getan. Es ist so viel los, mit all den unterschiedlichen Streiks, vielleicht sind wir zusammen stark und mächtig. Ich hoffe, dass wir aufzeigen können, welche Probleme im NHS gelöst werden müssen. Er funktioniert nicht für die Menschen und die Patienten.“

Die Intensivpflegerin Karen erklärte: „Ich habe während der Pandemie durchgearbeitet, und es war schrecklich. Wir haben alle sehr hart gearbeitet, und alle haben für uns geklatscht, aber jetzt hat die Regierung uns einfach aufgegeben. Es macht mich wütend, dass die Regierung Boni für die Banker finanziert und ihnen die Steuern senkt und dann behauptet, es wäre kein Geld da. Sie leben alle im Luxus, das ist es, wogegen ich bin.

Karen

Sie geben Milliarden für Atomwaffen aus, aber sie haben keine sechs Milliarden für den NHS. Uns droht eine Reallohnkürzung. Meine Hypothekenzahlung ist um 200 Pfund pro Monat gestiegen, das sind 2.500 Pfund pro Jahr, und meine Stromrechnung hat sich verdoppelt. Ich muss Sonderschichten einlegen. Alle sind gegen die Reichen, das oberste ein Prozent, das uns kontrolliert. Wir wollen alle das Gleiche, ein faires Leben. Wir wollen nicht um Geld, Essen und alles andere betteln müssen.“

Tracey erklärte: „Ich bin Pflegerin, ich bin seit vier Jahren qualifiziert. Ich arbeite in der Privatwirtschaft, aber ich will die NHS-Pflegekräfte unterstützen. Ich will, dass sie besser bezahlt werden, damit die Bedingungen besser werden, und dann würde ich zum NHS zurückgehen. Ich glaube, die Regierung hat sich erbärmlich verhalten. Sie hat nicht einmal verhandelt, sondern einfach ,Nein‘ gesagt.“

Über die Labour Party sagte Tracey: „Wir haben eigentlich keine Opposition gegen die Tory-Regierung.“

John erzählte uns: „Ich bin seit 40 Jahren Pfleger, und das ist das erste Mal, dass ich streike. Die diesjährige Lohnerhöhung ist nur der Höhepunkt von jahrzehntelangen lächerlichen Lohnerhöhungen. Es geht auch um den Angriff auf die Arbeitsbedingungen und die Tatsache, dass die Regierung das Personal nicht bezahlen und ausbilden will.“

Auf die Frage nach der Rolle von Labour bei der Vorbereitung der Privatisierung des NHS unter den Regierungen Blair und Brown von 1997 bis 2010 erklärte er: „Das stimmt, es war eine heimliche Privatisierung. Man sieht jetzt, dass nur im Bereich des Frontpersonals im NHS keine Privatisierung stattgefunden hat. Wir sind das letzte Überbleibsel einer kostenlosen Pflege im NHS. Viele Ärzte sind bereits in die Privatwirtschaft gegangen, alle Unterstützungsdienste sind in der Hand von Privatunternehmen. Das wird der Öffentlichkeit auf viele Arten vorenthalten. Sie glauben immer noch, wenn sie in eine Allgemeinarztpraxis kommen, dass diese ausschließlich vom NHS betrieben wird. Das wird sie aber nicht.

Ich glaube, dass Labour in Zukunft noch eine Chance hat, an die Macht zu kommen. Aber wenn sie den Arbeitern nicht geben, was sie hinsichtlich der Löhne und der Gleichstellung mit der Privatwirtschaft und hinsichtlich besserer Bedingungen wollen, dann werden sie wahrscheinlich von innen heraus zerfallen. Dann wäre Platz für eine dritte Kraft, die die Arbeiter unterstützt. Und wie ihr sagt, handelt es sich jetzt um eine internationale Bewegung, über ganz Großbritannien, Europa und Amerika hinweg. Alle haben die Tricks des einen Prozents durchschaut, das wird nicht mehr klappen.“

Miles erklärte: „Ich habe 2016 angefangen, und mit der Personalausstattung wird es seither immer schlimmer. Ich befürchte, die Regierung versucht, den NHS zu privatisieren, was alle in Gefahr bringen würde.

Miles

In den letzten zehn Jahren haben alle nur ein Prozent Lohnerhöhung bekommen, und die Preise sind gestiegen. Einige Kollegen von mir müssen zur Tafel.

Viele Länder benutzen die Tatsache, dass Covid-19 nicht mehr so verbreitet ist, als Vorwand, um die Gesundheitsetats zu kürzen.

Ich habe während Covid auf Krankenstationen gearbeitet. Es gab eine Zeit, in der die Vorgehensweisen zwischen den Krankenhäusern und den Pflegeheimen nicht einheitlich waren. Die Pflegeheime haben untereinander Richtlinien eingeführt, weil es Ausbrüche gab. Ich erinnere mich an einen Patienten, der von einem Pflegeheim berichtet hat, wo der Manager erklärte: ,Wir können nicht mehr, hier sterben so viele Menschen.‘ Der Manager brach in Tränen aus, weil sie keine Pause gemacht hatten, sie waren überfordert.

Sie verlassen sich auf unseren guten Willen. Sie rufen uns an freien Tagen an, oder wir kommen früher und bleiben länger. Das ist ihre Ideologie: Sie werden nicht in einem Bereich investieren, in dem sie keinen Profit sehen. Wenn sie Waffen liefern, ist es natürlich etwas anderes.

Letzten Dienstag waren einige von uns im Streik, jetzt sind es noch mehr. Nächstes Mal werden es noch mehr sein.“

Addenbrookes Hospital (Cambridge)

Andrea erklärte: „Wir sind ständig unterbesetzt, also bekommen wir keine Pausen, nichts zu essen und zu trinken, wir schaffen es kaum auf die Toilette.

Andrea (3. von rechts) auf einem Streikposten am Addenbrookes Hospital

Ich sehe kein Anzeichen dafür, dass die Regierung überhaupt etwas macht. Sie zahlen Pflegekräften von Agenturen das Dreifache von unseren Löhnen, aber angeblich können sie es sich nicht leisten, uns zu bezahlen. Eines Tages werden wir alle bei Agenturen arbeiten, und der NHS wird nicht mehr kostenlos sein.“

Auf die Frage, ob es bei so vielen Arbeitern, die gegen die Regierung und Arbeitgeber kämpfen, zu einem Generalstreik kommen könnte, erklärte Andrea: „Wenn die Regierung nicht reagiert und uns nicht zuhört, dann ist das der nächste Schritt.“

Die Pflegerin Rachel erklärte unseren Reportern: „Personalmangel kostet Leben, sie müssen anständig bezahlt werden, um die Arbeit anzutreten, dabei zu bleiben und sich und ihre Familien zu versorgen. Die Pflegekräfte und das gesamte Personal hier arbeiten sehr hart und müssen fair behandelt werden. Wir verlieren zu viele gute Pflegekräfte, weil sie von ihrem Gehalt nicht leben können. Wir müssen das wieder zu einem Beruf machen, in den die Leute kommen wollen und können.

Rachel

Die Regierung behauptet immer wieder, sie würden uns dieses Jahr 1.400 Pfund zahlen, aber das gleicht die ganzen Jahre nicht aus, in denen wir nichts bekommen haben. Und die 1.400 Pfund werden von den Energie- und Lebensmittelpreisen und allem anderen aufgefressen.

Pflegekräfte, Gesundheitspersonal, Ärzte, wir haben alle schwer gearbeitet, und die meisten Leute unterstützen uns. Es sind nicht nur die Pflegekräfte. Die Leute in der Regierung haben keine Ahnung. Sie tun sich leicht, zu sagen, ,Wir zahlen schon genug‘, ,Arbeitet härter‘ oder ,Wartet, bis ihr dran seid‘, aber sie warten nicht, bis sie dran sind. Sie nehmen sich, was sie wollen.

Die Leute haben es satt. Wenn man nicht aufsteht und nichts sagt, passiert nichts und es ändert sich nichts.... Immer mehr Menschen versuchen, sich zusammenzuschließen, und wenn wir uns zusammentun, dann ändert sich vielleicht was. Wenn alle sagen, ,Genug ist genug‘.

Sie haben sich die falsche Schlacht ausgesucht, den falschen Hügel [zum Kämpfen], indem sie nicht verhandeln, wenn es so viel Rückhalt für die Pflegekräfte gibt.“

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