Perspektive

Fifa-WM in Katar: Geopolitik, Geld und Doppelmoral

Dass der Spitzensport und insbesondere der Weltfußball vom großen Geld und von Machtinteressen beherrscht werden, ist keine neue Erkenntnis. Doch mit der Fußballweltmeisterschaft in Katar hat diese Entwicklung eine neue Dimension erreicht.

Bereits die Vergabe der Weltmeisterschaft durch den Weltfußballverband Fifa im Jahr 2010 war ein Skandal. Mit Katar erhielt ein Land den Zuschlag, das über keinerlei Fußballtradition verfügt, in dem drei Millionen Menschen leben, von denen nur jeder zehnte katarischer Staatsbürger ist, in dem die unerträgliche Hitze die Austragung zur üblichen Sommerzeit ausschließt und das von einem despotischen Herrscher regiert wird, der nicht einmal rudimentäre Formen der Demokratie zulässt.

Fifa-Präsident Gianni Infantino auf einer Pressekonferenz in Doha [Photo by Doha Stadium Plus Qatar / CC BY 2.0]

Es war klar, dass gewaltige Summen geflossen waren und dass hinter den Kulissen massiver politischer Druck ausgeübt worden war, um die Entscheidung herbeizuführen. Katar war dabei keine Ausnahme. Auch bei der Vergabe der Weltmeisterschaft an Deutschland (2006), Südafrika (2010) und Russland (2018) war geschmiert und begünstigt worden.

Seit der Vergabe werden mit der WM Katar gewaltige Geschäfte gemacht. Allein die Fifa erwartet Einnahmen von 7,5 Milliarden Dollar, eine Milliarde mehr als bei der letzten WM in Russland. Katar selbst hat über 200 Milliarden Dollar in die WM und die Infrastruktur investiert: davon 8 Milliarden in acht moderne, luftgekühlte Stadien, 16,5 Milliarden in 140 Hotels mit 155.000 Betten, 36 Milliarden in eine neue U-Bahn und 20 Milliarden in Flughafen, Hafen und Autostraßen.

Gebaut wurden diese Projekte von einem riesigen Heer von Arbeitern aus Asien unter sklavenähnlichen Ausbeutungsbedingungen. Zwölf-Stunden-Schichten und Sieben-Tage-Woche bei Gluthitze, unbeschreibliche Unterkünfte, Hungerlöhne, die oft monatelang ausblieben, eingezogene Pässe und Verbot des Arbeitsplatzwechsels waren an der Tagesordnung. Laut einem Bericht des britischen Guardian sind in den zehn Jahren nach der Vergabe der WM 6750 Arbeiter aus Indien, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka und Pakistan in Katar umgekommen. Amnesty International errechnete, dass zwischen 2010 und 2019 über 15.000 Nichtkatarer aller Altersgruppen starben. In 70 Prozent dieser Fälle wurde die Todesursache nicht aufgeklärt.

Inzwischen – so der örtliche Vertreter der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, dessen Gehalt von der katarischen Regierung bezahlt wird – habe sich einiges verbessert. So gebe es jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn von 1000 Riyal (230 Euro) – nicht am Tag, auch nicht in der Woche, sondern im Monat! Und das in einem der reichsten und teuersten Länder der Welt.

Westliche Firmen haben kräftig von dem Bauboom profitiert. So erstellte das deutsche Planungsbüro Albert Speer und Partner den Masterplan für die Weltmeisterschaft und die Entwürfe für die acht Fußballstadien. Albert Speer, der 2017 starb, ist der Sohn von Hitlers gleichnamigem Leibarchitekten und Rüstungsminister. Auch die Deutsche Bahn, Siemens und SAP sowie viele andere deutsche und europäische Firmen ergatterten Großaufträge in Katar.

Katar ist außerdem ein gefragter Investor. Das Scheichtum besitzt in Großbritannien, Frankreich und Deutschland zahlreiche Immobilien und Luxushotels und ist Großaktionär bei Volkswagen, RWE, Deutsche Bank, Lagardère, Vivendi, Veolia, TotalEnergies sowie zahlreichen weiteren Firmen. Auch den Fußballclub Paris Saint-German hat das Scheichtum gekauft und durch den Erwerb teurer Weltklassespieler wie Messi, Neymar und Mbappé zur stärksten Mannschaft Frankreichs gemacht. Der deutsche Meister Bayern München wird von Katar gesponsert.

Seit den Sanktionen gegen russisches Gas und Öl wird Katar zudem als führender Flüssiggasexporteur umwoben. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck sowie zahlreiche andere internationale Politiker pilgerten deshalb in diesem Jahr nach Doha.

Geopolitische Ziele

Noch wichtiger als die kommerziellen Interessen sind für die imperialistischen Mächte die geopolitischen Ziele, die sie in Katar verfolgen. Der Kleinstaat inmitten der umkämpften, energiereichen Golfregion ist für sie ein wichtiger politischer und militärischer Stützpunkt.

Die USA unterhalten in Al Udeid eine Airbase, die im Afghanistan-, Irak- und Syrienkrieg eine wichtige Rolle spielte und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran liegt. Am Libyenkrieg gegen Muammar al-Gaddafi beteiligte sich Katar mit eigenen Kampf- und Transportflugzeugen. Es unterstützte islamistische Terrorgruppen, die den Bürgerkrieg in Libyen anheizten und später in Syrien gegen das Assad-Regime zum Einsatz kamen.

Wenn westliche Politiker, Medien und Fußballfunktionäre jetzt die Menschenrechtslage in Katar beklagen und gleiche Rechte für Frauen und Schwule anmahnen, ist dies pure Heuchelei. Die USA und ihre europäischen Verbündeten haben im Afghanistan-, Irak-, Libyen- und Syrienkrieg eine Million Menschen getötet und weitere Millionen in die Flucht getrieben. Im Vergleich dazu sind die autoritären Herrscher der Golfmonarchien, mit denen sie eng zusammenarbeiten, Waisenknaben.

Was die imperialistischen Mächte betrifft, so stand die Austragung des Turniers in Katar nie in Frage. Fifa-Chef Gianni Infantino, der seinen Wohnsitz vor einem Jahr nach Doha verlegte und zu Beginn der WM in einer bizarren Pressekonferenz erklärte, er fühle sich heute als Katarer, als Araber, afrikanisch, homosexuell, behindert und als Arbeitsmigrant, drückt diese zynische Haltung nur am unverblümtesten aus.

Anders verhält es sich mit der Abscheu vieler Fußballfans, die das Spiel begeistert verfolgen, in ihrer Freizeit oft selbst Fußball spielen und nun ehrlich darüber empört sind, dass die Weltmeisterschaft auf den Knochen ihrer Kollegen aus ärmeren Ländern ausgetragen wird. Die brutale Ausbeutung der Bauarbeiter hat bei ihnen auch deshalb einen Nerv getroffen, weil sie selbst mit steigender Arbeitshetze und sinkenden Löhnen konfrontiert sind. In Deutschland ergab eine repräsentative Umfrage im Mai 2021, dass 65 Prozent der Befragten die Teilnahme der deutschen Nationalmannschaft an der WM ablehnen.

Wie die Fifa die WM an Katar verhökerte

Inzwischen sind viele Einzelheiten darüber bekannt, wie die Fifa 2010 die WM an Katar verhökerte. 22 der 24 Funktionäre, die damals abstimmten, mussten wegen Korruption gehen und landeten teilweise im Gefängnis. Politiker und Staatsanwälte stürzten, und selbst der legendäre Sepp Blatter, der die Fifa von 1998 bis 2016 wie ein Mafiapate beherrschte, musste seinen Stuhl räumen – nur um mit Gianni Infantino einem noch gewiefteren Intriganten Platz zu machen.

Dass diese Hintergründe überhaupt ans Licht gelangten, war selbst ein Ergebnis imperialistischer Machtkämpfe und Intrigen.

Am Vorabend des Fifa-Kongresses 2015 in Zürich verhafteten die Schweizer Behörden im Zürcher Luxushotel Baur au Lac in einer spektakulären Aktion sieben Funktionäre des Fußballverbandes unter dem Vorwurf der Korruption. Sie handelten im Auftrag der Justiz der USA, die wegen der WM-Vergabe im Jahr 2010 Ermittlungen gegen die Fifa aufgenommen hatte.

Im Vordergrund stand dabei nicht so sehr die WM 2022 in Katar, sondern die WM 2018 in Russland, über die auf demselben Treffen entschieden worden war. Nachdem die USA 2014 in der Ukraine einem antirussischen Regime an die Macht verholfen hatten und Russland die Krim annektiert hatte, wollten die USA die Austragung des Turniers in Russland unbedingt verhindern. Das gelang ihnen zwar nicht, aber die Ermittlungen setzten eine Lawine in Gang, die sich nur schwer wieder aufhalten ließ.

Dabei hatten die USA auch im Fall von Katar eine offene Rechnung zu begleichen. Sie hatten sich nämlich selbst um die WM 2022 beworben und dazu eine hochrangige Delegation – angeführt von Ex-Präsident Bill Clinton und Schauspieler Morgan Freeman – nach Zürich geschickt. Clinton soll Augenzeugen zufolge mit Aschenbechern um sich geschmissen haben, als er das Abstimmungsergebnis erfuhr.

Den Ausschlag für Katar gaben – neben dem Kauf der Stimmen dreier südamerikanischer Delegierten – der Franzose Michel Platini sowie zwei weitere Delegierte, die er beeinflusste. Der ehemalige Fußballstar war zu diesem Zeitpunkt Präsident des europäischen Fußballverbands Uefa und als Nachfolger Blatters an der Spitze der Fifa im Gespräch. Platini hatte sich wenige Tage vor der Fifa-Abstimmung im Amtssitz des französischen Präsidenten mit Präsident Nicolas Sarkozy und dem Emir von Katar, Tamim Al Thani, getroffen, die ihn offenbar „überzeugten“, für Katar zu votieren.

Blatter soll damals die Interessen der USA vertreten haben. Zumindest behauptete er später, er sei völlig überrascht gewesen, als er den Namen Katar aus dem Umschlag mit dem Abstimmungsergebnis zog. Doch das rettete ihn nicht, denn die WM in Russland unterstützte Blatter weiterhin – und inzwischen hatte sich Gianni Infantino in Stellung gebracht.

Infantino, der damals noch Generalsekretär der Uefa und damit Platinis Untergebener war, soll enge Kontakte zur US-Justiz unterhalten und fünf Monate nach der Razzia in Zürich als Zeuge vor einer Grand Jury in New York ausgesagt haben, die gegen die Fifa ermittelte. Zu diesem Schluss gelangen Recherchen der Süddeutschen Zeitung. Infantino verfügte außerdem über persönliche Kontakte zu Bundesanwalt Michael Lauber, dem obersten Ermittler der Schweiz.

Blatter ließ sich zwei Tage nach der Razzia in Zürich zwar für eine weitere Amtsperiode an die Spitze der Fifa wählen, musste aber bereits drei Tage später auf Druck der USA zurücktreten. In den acht Monaten bis zur Wahl seines Nachfolgers räumte die Schweizer Justiz dann auch den aussichtsreichsten Nachfolgekandidaten, Michel Platini, aus dem Weg.

Während sie die meisten ihrer 25 Strafverfahren im Sand verlaufen ließ, klagte die Bundesanwaltschaft Blatter wegen der Zahlung von zwei Millionen Dollar „Beraterhonorar“ an Platini an. Obwohl sie später von einem Gericht freigesprochen wurden, verhängte die Ethikkommission der Fifa daraufhin eine mehrjährige Sperre gegen Blatter und Platini und ebnete damit den Weg für Infantino, der mit Unterstützung des US-Verbandes zum Fifa-Chef gewählt wurde.

Der Schweizer Bundesanwalt Lauber verlor später ebenfalls seinen Job, weil er sich nach Infantinos Wahl mehrmals heimlich mit ihm traf, obwohl er offiziell noch gegen ihn ermittelte. Ein außergewöhnlicher Vorfall in einem Land, das sonst peinlichst darauf bedacht ist, seine schmutzigen Geschäfte hinter einer biederen Fassade der Wohlanständigkeit zu verbergen.

Einmal im Amt blockierte Infantino die Ermittlungen innerhalb der Fifa und stellte ihre Ethikkommission kalt. Dabei trieb er es noch wilder, als sein Vorgänger Blatter. So versuchte er, sämtliche Fifa-Rechte – die Haupteinkommensquelle des Fußballverbands – an ein von Saudi-Arabien geleitetes Konsortium auszulagern.

Auch der Ermittlungseifer der US-Justiz ließ nach, als sich die WM in Russland nicht mehr verhindern ließ und die Fifa die WM 2026 an Nordamerika vergeben hatte.

Loretta Lynch, die 2015 als Justizministerin Barack Obamas die Ermittlungen gegen die Fifa mit der Drohung eingeleitet hatte, sie würden „um die ganze Welt gehen“, wechselte die Seiten. Sie steht mittlerweile im Sold der Fifa und singt Lobeshymnen auf Gianni Infantino. 2019 trat sie in die Kanzlei Paul Weiss ein, die zum selben Zeitpunkt die Vertretung des Fußballverbands im Fifa-Gate-Skandal von der Kanzlei Quinn Emanuel übernahm.

Imperialistische Bündnisse

Der WM in Katar stand so nichts mehr im Wege. Sie verspricht nicht nur ein phantastisches Geschäft, sondern dient den USA und den europäischen Mächten auch als Bühne, um neue Bündnisse gegen Russland und China zu schmieden. Dabei umwerben sie nicht nur Katar, sondern auch die anderen Golfmonarchien und insbesondere Saudi-Arabien, die bisher zögern, den Ausfall von russischem Gas und Öl durch höhere Fördermengen zu kompensieren und auf Konfrontationskurs zu China zu gehen.

Präsident Joe Biden besuchte im Juli als erster westlicher Staatschef seit der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi den saudischen Herrscher Mohammed bin Salman, dem die US-Justiz inzwischen Immunität zugesichert hat. Beim Eröffnungsspiel der WM saß Salman dann als Ehrengast neben Infantino und dem Emir von Katar. Von 2017 bis 2021 hatten Saudi-Arabien und Katar noch am Rand eines Kriegs gestanden.

Die Empörung über die mörderische Ausbeutung asiatischer Arbeiter wird inzwischen gezielt heruntergefahren. Erst fokussierten die Medien die Aufmerksamkeit auf die Rechte von Frauen und Schwulen – ein weniger explosives Thema, da die Regierung von Katar ausdrückliche Garantien gegeben hat, dass WM-Besuchern in dieser Hinsicht keine Gefahr droht.

Inzwischen beschränkt sich die „kritische“ Berichterstattung auf die Frage, ob die Mannschaftskapitäne eine „One Love“-Armbinde tragen dürfen, um ein Signal gegen Homophobie und Rassismus zu setzen. Und selbst bei dieser rein symbolischen Geste sind die Verbände vor dem Verbot der Fifa eingeknickt, die sich ihre lukrativen kommerziellen und politischen Beziehungen zu den Despoten der Golfregion nicht trüben lassen will.

Die Doppelmoral ist unübersehbar. „Menschenrechte“ werden stets dann beschworen, wenn es um die Rechtfertigung brutaler imperialistischer Kriege – gegen Irak, Libyen, Iran, Russland, China, usw. – geht. Sie werden ignoriert, wenn es sich um eigene Menschenrechtsverletzungen oder die von verbündeten Diktatoren handelt.

Der Fußball dient dabei nur als Mittel zum Zweck. Die Fäulnis des Kapitalismus, der überall soziale Ungleichheit, Krieg, Faschismus und Umweltzerstörung hervorbringt, infiziert sämtliche Bereiche der Gesellschaft – einschließlich Kultur und Sport. Kultureller Fortschritt und wirklicher Sport, der nicht dem Kommerz unterliegt, sind nur im Rahmen einer sozialistischen Offensive möglich, des Eintretens für eine Gesellschaft, die das Gesamtinteresse über Profitinteressen stellt und die nationalen Grenzen überwindet.

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