Prag: Massenprotest gegen Krieg und Inflation zeigt Krise der politischen Perspektive

70.000 Menschen demonstrierten am 3. September in der tschechischen Hauptstadt Prag gegen steigende Energiepreise, den Nato-Krieg in der Ukraine und forderten den Sturz der Regierung. Sie rebellierten gegen eine soziale Katastrophe, die große Teile der Arbeiter- und Mittelklasse in den Abgrund zieht.

Demonstration vom 3. September 2022 gegen Inflation, Krieg und Regierung auf dem Wenzelsplatz in Prag [AP Photo/Petr David Josek]

Die seit Jahre schwelende wirtschaftliche und soziale Krise des ehemaligen Ostblock-Landes hat sich mit den von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland dramatisch verschärft. Bezog Tschechien bisher 90 Prozent seines Gases und 50 Prozent seines Öls aus Russland, ist es nun auf Gaslieferungen zu horrenden Preisen aus Deutschland angewiesen, das selbst in der Energiekrise steckt.

Die tschechischen Strompreise zählen zu den höchsten Europas und treiben massenhaft kleine und mittlere Unternehmen in den Bankrott. Die offizielle Inflationsrate lag im Juni bei 17,5 Prozent und soll laut Prognose der Tschechischen Nationalbank bis Ende des Jahres die 20 Prozent überschreiten.

Die Arbeiterklasse verarmt in atemberaubendem Tempo. Laut Berechnung des tschechischen Statistikamts lagen die Reallöhne im zweiten Quartal 2022 um 9,8 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Bezogen Ende 2021 noch neun Prozent der Tschechen ein Einkommen unter der Armutsgrenze, so sind es nun bereits 16 Prozent. 750.000 der zehn Millionen Einwohner des Landes sind bankrott und können ihre Schulden nicht mehr bezahlen.

Obwohl die Empörung über diese unhaltbaren Zustände Zehntausende auf die Straße trieb, fand sie auf der Demonstration keinen progressiven Ausdruck. Die Kundgebung wurde von nationalistischen und rechten Parolen beherrscht. Sie begann mit dem Abspielen der tschechischen Nationalhymne und versank in einem Meer von Nationalflaggen. Ihr offizielles Motto lautete: „Die Tschechische Republik zuerst“.

Die Redner und Organisatoren kamen vorwiegend aus dem rechten und ultrarechten Lager. ANO, die Partei des Oligarchen und ehemaligen Ministerpräsidenten Andrej Babiš, unterstützte sie ebenso wie die rechtsextreme SPD von Tomio Okamura. Auch Corona-Leugner und kleinere rechtsextreme Parteien waren prominent vertreten.

Da auch Teile der Gewerkschaften, Bürgerinitiativen sowie die Sozialdemokraten (CSSD) zur Kundgebung aufgerufen hatten und die Kommunistische Partei (KSCM) sogar einen eigenen Redner stellte, sprachen viele Kommentare von einer „Querfront“. Regierungschef Petr Fiala, gegen den sich die Kundgebung richtete, denunzierte sie als „russische Propaganda und Desinformationskampagne“, die von „prorussischen Personen mit Nähe zu extremistischen Positionen“ organisiert worden sei.

In Wirklichkeit tragen Fiala und die fünf Parteien seiner Regierungskoalition die Hauptverantwortung dafür, dass die Rechten den sozialen Protest instrumentalisieren können. Fialas Partei ODS geht auf das Bürgerforum zurück, das in der sogenannten Samtenen Revolution, die 1989 zum Sturz des stalinistischen Regime führte, eine maßgebliche Rolle spielte.

Doch die samtenen Pfoten der damaligen „Revolutionäre“ entpuppten sich schnell als scharfe Krallen, die der Arbeiterklasse an die Gurgel gingen. Sie lehnten den Stalinismus nicht ab, weil er die Arbeiterklasse unterdrückte, sondern weil er sie daran hinderte, Karriere zu machen und sich zu bereichern, wie dies die Mittelklasse im Westen tat.

Unter seinem ersten Vorsitzenden Vaclav Klaus entwickelte sich das Bürgerforum rasch nach rechts. Es wetteiferte mit den Ex-Stalinisten in der sozialdemokratischen CSSD darum, wer den größten Teil des früheren Staatseigentums vereinnahmen kann. Weil beide aus lauter Gier ihre Hände nicht tief genug in die Geldtöpfe stecken konnten, zerbrachen die Regierungen und Parteien immer wieder über Korruptionsskandale – nur um in veränderter Zusammensetzung und Form neu zu entstehen.

2017 gelangte Andrej Babiš, der zweitreichste Mann des Landes an die Macht, der ähnlich wie Silvio Berlusconi in Italien und Donald Trump in den USA Vermögen und rechten Populismus als politische Waffen einsetzte. 2019 forderten auf einer der größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes 250.000 Babiš Rücktritt wegen Korruption. Doch er blieb zwei weitere Jahre im Amt, bis ihn die jetzige Regierung ablöste.

Es handelt sich um ein Bündnis von fünf Parteien – der ODN, den Christdemokraten, der liberalen TOP 09, den Piraten und der Bürgermeisterpartei STAN – die nur durch ihre Gegnerschaft gegen Babiš und ihre Unterstützung für die EU, die Nato und deren Krieg gegen Russland zusammengehalten werden.

Tschechien hat die Ukraine mit großen Mengen Waffen beliefert. Fiala reiste nach Kriegsbeginn gemeinsam mit dem polnischen und slowenischen Regierungschef als einer der ersten nach Kiew. Seine Verteidigungsministern Jana Černochová jubelte über den Mord an der Putin-nahen Russin Darija Dugina und verglich ihn mit der Ermordung von Reinhard Heydrich, dem Statthalter Hitlers in der besetzten Tschechoslowakei. Fünf Tage vor der Massendemonstration hielt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in Prag auf Einladung Fialas eine Kriegsrede, in der er für die Militarisierung Europas unter deutscher Führung eintrat.

Für das soziale Elend der eigenen Bevölkerung hat die Regierung Fiala dagegen nur Verachtung übrig. Die Vorsitzende von TOP 09, Marketa Pekarova Adamova, riet als Maßnahme gegen den Energiemangel, im Winter einen zusätzlichen Pullover anzuziehen. Andere Regierungsmitglieder philosophierten über den gesundheitlichen Nutzen schlecht beheizter Räume.

Gleichzeitig ist die Regierung Fiala noch korrupter als ihre Vorgängerin unter Babiš. Ein führender Politiker der Bürgermeisterpartei STAN, die mit einer Antikorruptionskampagne gegen Babiš auf Anhieb ein Fünftel der Wählerstimmen gewonnen hatte, wurde im Juni von der Antikorruptionspolizei verhaftet. „Die Summen, die Hlu­bu­ček und weitere zehn Personen mit Verbindungen über die Stan-Partei illegal gerafft haben, lassen Babiš jetzt wie einen Konfirmanden aussehen,“ kommentierte die taz.

Das zentrale politische Problem in Tschechien besteht darin, dass die Opposition der Arbeiterklasse gegen die unhaltbaren sozialen Zustände und die korrupten bürgerlichen Parteien über keine unabhängige Perspektive verfügt. Jahrzehnte der stalinistischen Unterdrückung und der antisozialistischen Propaganda haben ein Erbe der Verwirrung und Desorientierung hinterlassen.

Maßgeblich dazu beigetragen hat die „kommunistische“ KSCM, die wie die sozialdemokratische CSSD aus der stalinistischen Staatspartei hervorgegangen ist und auf europäischer Ebene Beziehungen zur deutschen Linkspartei unterhält. Sie hielt an einer pseudosozialistischen Rhetorik fest und erreichte auf dieser Grundlage 2002 mit 18,5 Prozent ihr bestes Wahlergebnis. In vereinzelten Regionen war sie zeitweise sogar stärkste Partei.

Tatsächlich ist die KSCM pro-kapitalistisch und nationalistisch. Sie arbeitete immer wieder mit den rechtesten Kräften zusammen. So verhalf sie dem Oligarchen Babiš von 2017 bis 2021 mit einem Tolerierungsabkommen zu einer parlamentarischen Mehrheit. Auf der jüngsten Kundgebung in Prag sprach sich der Redner der KSCM, Josef Skala, ausdrücklich für eine Querfront mit den Ultrarechten aus. „Wir müssen unsere Kräfte bündeln, wir auf der linken Seite des politischen Spektrums, und wir brauchen auch eine patriotische demokratische Rechte, und umgekehrt,“ rief er.

Die tiefe Krise des Kapitalismus, die durch den Nato-Krieg gegen Russland und die Konfrontation mit China weiter verschärft wird, ruft weltweit heftige Klassenkämpfe hervor. Das schafft die objektiven Voraussetzungen, um die internationale Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms zum Sturz des Kapitalismus zu vereinen.

Die subjektive Voraussetzung ist der Aufbau einer Partei, die sich bewusst auf die Lehren und strategischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts stützt, einer tschechischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die den Stalinismus seit der Gründung der trotzkistischen Linken Opposition vor 99 Jahren von links, vom Standpunkt der sozialistischen Weltrevolution bekämpft hat.

Loading