Fischsterben in der Oder: Wechselwirkung von Klimawandel und systematischer Verschmutzung

Vor einigen Wochen schockierten Bilder von Tonnen toter Fische in der Oder die Öffentlichkeit. Jüngste Berichte sprechen von 150 bis 200 Tonnen. Während das Sterben immer größere Ausmaße annimmt, klären Wissenschaftler langsam die Hintergründe der ökologischen Tragödie auf. Im Fokus steht dabei die explosive Ausbreitung einer Algenart.

Tote Fische in der Oder [Photo by Hanno Böck / CC0]

Derzeit wird von einer zweiten Todeswelle gesprochen, denn aufgrund von Regenfällen in Schlesien stieg die Oder kurzfristig um einen Meter an. Nun wurde alles nachgespült, was bisher aufgrund des Niedrigwassers liegen geblieben war. Die Welle könnte in den nächsten drei Tagen den unteren Flusslauf erreichen.

Die sich flussabwärts sammelnden toten Fische entwickeln sich jedoch bereits jetzt zu einer neuen Todesfalle. Bevor die Oder ins Stettiner Haff einmündet, verzweigt sie sich in Nebenarme und den bei Stettin liegenden Dąbie-See. Die Entsorgung findet nach wie vor überwiegend durch Freiwillige, örtliche Feuerwehr und Behörden statt, die in dem weiträumigen Gelände kaum hinterherkommen.

Die Zersetzung großer Mengen toter Fische entzieht dem Wasser Sauerstoff und bildet in salzhaltigem Wasser zugleich Ammoniak. Zusammen mit der typischen Sommer-Oxidation, durch hohe Wassertemperaturen und verlangsamter Photosynthese wegen der Vertrübung des Wassers kommt es zu einem dramatischen Sauerstoffmangel bei gleichzeitiger Gefahr der Ammoniakvergiftung. Bei Stettin wurden am vergangenen Wochenende im Westarm der Oder 0,6 Milligramm Sauerstoff pro Liter gemessen. Der normale Gehalt beträgt 4 Milligramm.

Die Gazetta Wyborcza berichtete eindrücklich über die Zustände in Stettin: Der Geruch von Tod und Verwesung liegt über der Oderpromenade. Hunderte tote Fische schwimmen im Wasser. Drei Boote von Feuerwehr und Freiwilligem Wasserrettungsdienst versuchen, mit Keschern Fische zu fangen, aber die Kräfte sind zu bescheiden. Tags zuvor hatte der örtliche Anglerverband berichtet, 20 Tonnen an einem Tag beseitigt zu haben.

Fische die bisher die Vergiftung überlebt haben, drohen nun durch die Verwesung ihrer toten Artgenossen zu ersticken. Aktuell verhindern Nordwinde das schnelle Weiterfließen in den Dąbie-See, der bisher noch nicht betroffen ist. Durch rund 30 Pumpen, Belüftungsmaschinen und ein Ozonator aus Warschau wird versucht, den Sauerstoffgehalt künstlich zu erhöhen. Am Mittwoch lag der Sauerstoffgehalt an einer Stelle bei 1,72 mg/l. Doch letztlich ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, der einigen wenigen Fischen das Überleben sichert.

Die nachfolgende zweite Welle der Verwesung verstärkt die Gefahr und könnte den ganzen See zum Kippen bringen.

„Der Dabie-See ist heute die letzte Bastion für überlebende Fische, die dort Zuflucht finden. Dort gibt es Sauerstoff, dort gibt es Leben! Wenn die Welle entlang der Ost-Oder direkt auf Dabie zukommt, besteht die ernste Gefahr, dass Dutzende Tonnen toter Fische und anderer Organismen, einschließlich sich zersetzender Organismen, sowie andere organische Stoffe, die Sauerstoff verbrauchen oder Giftstoffe abgeben, direkt in den See gelangen. Das können wir nicht zulassen!“ warnen die Wissenschaftler Dr. Sylwia Horska-Schwarz von der Universität Breslau und Mikołaj Adamczyk und Paweł Prus vom Institut für Binnenfischerei in Olsztyn.

Während sich das Ausmaß der Naturkatastrophe an der Oder zu vergrößern droht, kommen Wissenschaftler langsam den Hintergründen für das ursprüngliche Sterben auf die Spur.

Im Sommer kommt es durch die künstliche Zufuhr von Nährstoffen, insbesondere aus der Landwirtschaft, häufig zu einem rasanten Wachstum von Algen, die dem Wasser zu viel Sauerstoff entziehen und zu Fischsterben führen. Jüngst geschah dies im Niepruszewskie-See mit einer halben Tonne toter Fische und vermutlich auch beim Fischsterben im Fluss Stever in Nordrhein-Westfalen.

Der Oder wurde jedoch eine besondere Alge zum Verhängnis, die Goldalge (Prymnesium parvum). Das polnische Institut für Binnenfischerei stellte deren Vorhandensein in der Oder fest, wie Umweltministerin Anna Moskwa am 18. August bekannt gab. Später bestätigte das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), dass auch eine hohe Konzentration der dazugehörigen Algengifte Prymnesine „zweifelsfrei und tatsächlich in signifikanten Mengen in Oderproben von verschiedenen Standorten“ festgestellt worden sei.

„Da alle Proben bereits im fortgeschrittenen Stadium der Algenblüte gezogen wurden, ist von einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sterben von Fischen und Weichtieren auszugehen“, sagte die Wissenschaftlerin Dr. Elisabeth Varga von der Universität Wien, wo die Massenspektrometrie durchgeführt wurde.

Nach Aussage des Leiters der Arbeitsgruppe Photosynthese und Wachstum von Algen und Makrophyten beim IGB, Dr. Jan Köhler, erlebt die Oder „derzeit eine extreme Massenentwicklung planktischer Algen“. Prymnesium parvum sei in allen Proben seit dem 8. August sehr dominant, die Alge stelle mindestens die Hälfte der Gesamtalgenbiomasse. Selbst nach Verdünnung durch den Zulauf der Warthe seien es derzeit immer noch 36 Prozent.

„So eine Massenentwicklung wurde nach meinem Wissen noch nie in unseren Gewässern beobachtet. Vermutlich wurde sie ermöglicht durch Salzeinleitungen, reichlich Nährstoffe, hohe Wassertemperaturen und lange Verweilzeiten in Staustufen und im ausgebauten Fluss,“ ergänzte der IGB-Wissenschaftler.

Auch wenn es zur Toxizität von Prymnesinen noch Forschungsbedarf gibt, sind die tödlichen Auswirkungen auf Fische und Weichtiere schon länger bekannt. Insbesondere durch die Auflösung der Epithelzellen der Fischkiemen kommt es zum Erstickungstod der Fische. Das erklärt die vielen Berichte über verzweifelt im Todeskampf an der Wasseroberfläche zappelnde Fische.

Die Alge Prymnesium parvum ist schon seit einigen Jahrzehnten dafür bekannt, dass sie in den USA, Skandinavien oder auch China zu drastischem Fischsterben geführt hat. Aber „wir haben die hier noch nie gehabt“, so Dr. Köhler vom IGB gegenüber dem Deutschlandfunk.

Die Ausbreitung der Algen konnte auch mit Aufnahmen des Satelliten Sentinel 2“ rekonstruiert werden, der Daten für das Europäische Erdbeobachtungsprogramm Copernicus liefert. Aufgrund des farbigen Chlorophylls ist die Konzentrationen entlang der Oder sichtbar. Gab es Ende Juli nur eine leichte Erhöhung bei der Stadt Opole, stieg die Konzentration im August um Wroclaw plötzlich sprunghaft an und verlagerte sich dann weiter flussabwärts.

Eigentlich ist salzhaltiges Brackwasser Lebensraum der Goldalge. Doch wegen der Zunahme nahezu stehender Gewässer, die durch Staustufen und -dämme, künstliche Seen und Teiche entstehen, findet sie immer größere Verbreitung. Als Nährstoff braucht die Alge Stickstoff und Phosphor, der durch an sich harmlose Abwässer in die Flüsse kommt oder durch die Überdüngung in der Landwirtschaft in das Grundwasser. Niedrigwasserstände infolge langanhaltender Dürren oder wasserintensiver Wirtschaft schafft gerade im Sommer ideale Wasserverhältnisse für die Alge. Auch der Salzgehalt, gespeist aus Abwässern, dürfte sich mangels normaler Strömung und Wassermenge so erhöht haben.

Was es dann noch brauche, so Dr. Köhler, sei Zeit zum Wachstum, und diese Zeit bekomme die Alge durch Staustufen auf polnischer Seite und das derzeit langsame Fließtempo. Die Mikroorganismen wüchsen exponentiell. Wenn eine Zelle sich jeden Tag verdopple, verachtfache sie sich in drei Tagen. In zehn Tagen wachse die Biomasse um das Tausendfache. Das Wachstum sei sehr stark abhängig von der Zeit, die man ihr gebe, und diese verlängere sich durch menschliche Eingriffe.

Umweltschutzverbände hatten bereits auf diese Gefahren für die Oder hingewiesen, sollte die polnische Regierung an ihren Plänen zum Ausbau zum großen europäischen Schifffahrtsweg der Klasse 5 festhalten, der für 50-Meter-Schiffe zugänglich ist und eine durchgängige Tiefe von 2,5 Metern hat.

Im Mai tagte die Konferenz „Zeit für die Oder, drei Länder – ein Fluss“ von deutschen, tschechischen und polnischen Umweltverbänden in Breslau. Dort hatte Dr. Michael Tautenhahn vom Nationalpark Untere Oder gewarnt: „Es ist bekannt, dass das Wasser der Oder für die Schifffahrt nicht ausreicht, daher müssen Schleusen und Dämme gebaut werden. Nach der Erweiterung ändert sich der Wasserfluss und infolgedessen wird die Menge an giftigen Substanzen zunehmen.“

Zu den Auswirkungen des Klimawandels, den Veränderungen des Flusslaufs durch Bauarbeiten und der in normalen Zeiten harmlosen Verschmutzung der Gewässer kommt ein weiterer Faktor hinzu: die kriminelle Verschmutzung.

In einem früheren Artikel sind wir auf die Vorwürfe gegen die Papierfabrik JackPol in Oława eingegangen. Seither mussten die Behörden ein enormes Ausmaß von illegalen Abwassereinspeisungen zugeben. So veröffentliche die polnische Wasserbehörde Wody Polskie am 18. August das Ergebnis einer Kontrolle von illegalen Abflüssen in ganz Polen. Danach stellte sie 1432 illegale Abflüsse fest, 282 darunter im Bereich der Oder.

Meldung der polnischen Wasserbehörde [Photo by Twitter]

Bei früheren Kontrollen bis zum Dezember 2021 hatte man noch 7000 illegale Abflüsse festgestellt. Erklärtes Ziel war es, „nicht nur Sanktionen einzuführen, sondern auch den Eigentümern von Abflüssen die Möglichkeit zu geben, sie zu legalisieren“. Auch wenn es sich bei den meisten der Fälle um kleine private und nicht industrielle Abflüsse handelt, ist diese zuvorkommende Art der polnischen Behörden bezeichnend. Laut eigenen Angaben waren damals nur 10 Prozent der Flüsse in Polen in gutem oder sehr gutem ökologischen Zustand, 60 Prozent in einem mäßigen und 30 in einem schlechten oder sehr schlechten ökologischen Zustand.

Inzwischen wurde auch ein Fall von industrieller Verschmutzung im Gleiwitzer Kanal bestätigt, wo Ende Juli die ersten toten Fische gemeldet wurden. Nach offiziellen Angaben der polnischen Wasseraufsicht vom 17. August ist der Salzgehalt in der ganzen Oder nach wie vor um etwa das Zweifache erhöht. Im Raum des Gleiwitzer und Kędzierzyński-Kanals jedoch um das Fünf- bis Sechsfache. Die durchschnittliche Wassertemperatur lag bei 25 bis 27 Grad. Belastung mit Chemikalien oder Schwermetallen wurden keine mehr festgestellt.

Eine „legale“ Einleitung fand nachweislich zwischen dem 29. Juli und dem 10. August flussabwärts statt. Die Kupferschmelze Glogow leitete große Mengen Salzwasser aus der Erzflotation in die Oder. Umweltschützer werfen den Behörden vor, dass sie keine angepassten Regeln für Niedrigwasser ausgegeben haben.

Auch Journalisten meldeten mehrere Fälle überhöhter Schadstoffkonzentration. Sie seien aber nicht erheblich, so die Sprecherin der Wasserbehörde, Małgorzata Zielonka. „Leider sind sie typisch für Oberflächengewässer in urbanisierten Gebieten. Hohe Salzkonzentrationen: Chlorid, Sulfat oder Natrium sind typisch für die untersuchten Wässer, da der Fluss Kłodnica, der sowohl den Gliwice-Kanal als auch den Dzierżno Duże-See versorgt, ein Empfänger von salzhaltigem Grundwasser aus der Entwässerung der nahe gelegenen Minen ist. Ähnlich verhält es sich mit der Oder, in die das Grubenwasser aus dem südlichen Teil unserer Region durch die Olza-Sammlung eingeleitet wird.“

Mit anderen Worten, die Behörden wissen um die systematische Verschmutzung, und wenn ab und zu dabei die Grenzwerte überschritten werden, ist das für sie kein Grund für mehr als eine Aktennotiz. Die polnischen Behörden haben eine Belohnung von eine Million Zloty für Hinweise zur Ursache der Oderverschmutzung ausgestellt. Sie können sie an sich selbst überweisen.

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