Bericht über Gräueltaten der griechischen Küstenwache: Flüchtlinge misshandelt und ins offene Meer geworfen

Die Vorwürfe klingen ungeheuerlich, doch die Augenzeugenaussagen erscheinen absolut glaubwürdig. Die griechische Küstenwache, die für ihre illegalen Pushback-Aktionen gegen Flüchtlinge in der Ägäis berüchtigt ist, soll im September vergangenen Jahres noch einen Schritt weiter gegangen sein und drei Flüchtlinge nahe der griechischen Insel Samos von Bord eines Küstenwachenschnellbootes ins offene Meer geworfen haben. Nur einer hat überlebt, zwei Flüchtlinge wurden tot an die türkische Küste gespült.

Investigativjournalisten vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel haben die Ereignisse zusammen mit Reportern von Lighthouse Reports, Mediapart und des britischen Guardian rekonstruiert. Tatsächlich soll es nach Informationen von Hilfsorganisationen wie Aegean Boat Reports und der türkischen Küstenwache seit Mai 2021 noch 29 weitere Vorfälle gegeben haben, bei denen Flüchtlinge von griechischen Grenzschützern einfach ins Meer geworfen worden sind.

Die griechische Regierung hat die Vorwürfe umgehend zurückgewiesen. Der für Migration und Asylfragen zuständige Minister Notis Mitarakis von der konservatriven Partei Nea Demokratia beschuldigte stattdessen die türkischen Behörden, gezielt Falschinformationen zu verbreiten, um Griechenland zu diskreditieren. Mitarakis erklärte, „die türkische Propaganda über illegale Immigration führt häufig dazu, dass unwahre Geschichten in den Medien veröffentlicht werden.“

Er fügte hinzu, dass die griechischen Behörden ihre Verantwortung für den Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union gegen Flüchtlinge unter Einhaltung aller internationaler Gesetze und Vorgaben wahrnähmen. „Durch die Unterlassung der türkischen Behörden, die illegale Immigration einzudämmen, rettet die griechische Küstenwache jedes Jahr tausende Männer, Frauen und Kinder.“ Zwischen 2015 und 2021 habe „die griechische Küstenwache so 230.000 Drittstaatsangehörige aus Seenot gerettet.“

Diese Behauptungen sind absurd. Es ist bekannt, dass die griechischen Grenzschützer immer wieder brutal gegen schutzsuchende Menschen vorgehen, ihnen das Recht, einen Asylantrag zu stellen, verweigern und sie stattdessen illegal zurückschieben und dabei das Leben der Flüchtlinge aufs Spiel setzen. Die Ereignisse im September 2021, die nun aufgedeckt worden sind, stehen beispielhaft für die Gräueltaten, die tagtäglich an den EU-Außengrenzen gegen Flüchtlinge begangen werden.

Die Rekonstruktion der Journalisten basiert auf Interviews mit mehr als ein Dutzend Augenzeugen, medizinischen Berichten, Satellitenaufnahmen, Fotos und Videos, sowie Informanten der griechischen Sicherheitsbehörden. Danach bestieg am 15. September 2021 frühmorgens eine Gruppe von 36 Flüchtlingen nahe Kusadasi an der türkischen Ägäisküste ein Schlauchboot für die Überfahrt nach Griechenland. Unter ihnen Sidy Keita aus der Elfenbeinküste und Didier Martial Kouamou Nana aus Kamerun.

Gegen 7 Uhr morgens erreichte die Gruppe das Kap Akra Prasso im Nordosten von Samos. Anwälte der Hilfsorganisation Human Rights Legal Project (HRLP) erhielten an diesem Morgen eine Textnachricht von einer unbekannten Telefonnummer, die die Ankunft des Schlauchboots meldete und Fotos eines nahen Küstenwachtschiffes beinhaltete. Die Anwälte sendeten um 10:25 Uhr eine Mail an die örtlichen griechischen Behörden sowie an die auf Samos ansässige Vertretung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) und den Repräsentanten der EU-Kommission auf der Insel, dass die Gruppe Asyl beantragen will. Sie erhielten nie eine Antwort.

Bereits kurz nach der Ankunft des Schlauchbootes haben Zeugen Schüsse gehört. Die Gruppe der Flüchtlinge geriet in Panik und versuchte verzweifelt, sich im hügeligen Gelände zu verstecken. Nur acht Menschen entkamen zunächst der Hetzjagd der griechischen Grenzschützer, die mit Sturmhauben ihre Gesichter verdeckten. Die anderen 28 Flüchtlinge, darunter Kinder und eine hochschwangere Frau, wurden abgeführt und noch am Nachmittag auf ein Schiff der griechischen Küstenwache gebracht. Die Flüchtlinge wurden geschlagen, ihnen wurden Wertgegenstände und Handys abgenommen. Auf der Suche nach verstecktem Geld griffen die Männer den Frauen in die Vagina, den Männern in den Anus.

Auf hoher See wurden die Flüchtlinge auf zwei aufblasbaren Rettungsflößen ausgesetzt. Die aus Kamerun stammende Pascaline Chouake berichtete den Reportern, dass ihr Kind, das noch kein Jahr alt gewesen ist, ihr von den Grenzschützern hinterhergeworfen wurde „als sei es Abfall“. Später werden die 28 Flüchtlinge von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und in ein Aufnahmelager gebracht.

Von den acht Flüchtlingen, die zunächst entkommen konnten, schafften es vier bis zu einem Flüchtlingslager, in dem sie registriert wurden. Eine Frau wird später von der Polizei aufgegriffen und alleine mit einer Flasche Wasser auf einem Rettungsfloß ausgesetzt. Sie wird zwei Tage später von der türkischen Küstenwache aus dem Meer gefischt.

Keita und Kouamou versteckten sich zusammen mit Ibrahim. Auch Ibrahim stammt aus Kamerun und ist Kronzeuge der weiteren Geschehnisse. Die drei Männer werden am 16. September auf der Straße von Männern aufgegriffen, die sich als Polizisten in Zivil zu erkennen gaben. Die Flüchtlinge werden nach Ausweisen gefragt, geschlagen, ihrer Habseligkeiten beraubt und zum Hafen gebracht.

Keita, Kouamou und Ibrahim werden auf ein Schnellboot der griechischen Küstenwache verfrachtet, das dann aufs offene Meer gefahren ist. Nach etwa einer halben Stunde haben die griechischen Beamten die Motoren gestoppt und erst Kouamou und dann Keita ins Meer gestoßen. „Ich habe mich gewehrt“, erzählt Ibrahim, „sie haben mich verprügelt, bevor sie mich ins Wasser geworfen haben.“

Kouamou sei zuerst in den Wellen verschwunden, berichtet Ibrahim weiter. Er selbst habe es mit letzter Kraft bis zur türkischen Küste geschafft, da er als ehemaliger Angehöriger der kamerunischen Marine sehr gut schwimmen kann. Der leblose Körper von Keita wurde nicht weit von der Stelle, an der Ibrahim strandete, an die Küste gespült. Ibrahim versuchte vergeblich, Keita wiederzubeleben und markierte die Stelle mit einem dicken Stock, den er in den Boden zwischen die Felsen rammte.

Am 18. September wird Ibrahim von der türkischen Polizei gefunden, der er von dem ungeheuerlichen Verbrechen berichtet. Wenig später werden die Leichname von Keita und auch Kouamou an der Stelle gefunden, die Ibrahim beschrieben hat.

Es gibt keine unabhängigen Belege für Ibrahims Bericht, doch seine detaillierten Angaben decken sich nach Angaben der Journalisten, die den Vorfall untersucht haben, mit vielen tatsächlichen Gegebenheiten angefangen vom Wellengang, dem Boot der Küstenwache, das Ibrahim eindeutig identifizieren konnte, bis hin zum Stock am Strand, der von der türkischen Polizei fotografiert wurde.

Außerdem bestätigten zwei griechische Offizielle, die anonym bleiben wollten und genaue Kenntnisse der Vorgehensweise der Küstenwache besitzen, dass Flüchtlinge immer häufiger über Bord gestoßen werden. Laut Spiegel werde die Vorgehensweise ,,vor allem bei kleinen Gruppen genutzt. Zudem seien für die Anschaffung der Rettungsflöße öffentliche Ausschreibungen nötig – und eine hohe Zahl von Flößen könnte unangenehme Fragen nach sich ziehen.“ Normalerweise werden den Flüchtlingen aber Schwimmwesten mitgegeben, bevor ihnen befohlen wird, zurück in die Türkei zu schwimmen.

Kouamous Leichnam konnte aufgrund von Ersparnissen zurück nach Kamerun gebracht werden. Er hinterlässt Frau und zwei kleine Kinder. Sidy Keita wurde in Izmir in der Türkei begraben, da seine Familie die Überführungskosten nicht aufbringen konnte. Er liegt auf dem „Friedhof der Namenlosen“. Auf seinem Grab ist nicht einmal sein Name vermerkt, nur eine Holztafel mit der Nummer 68091 erinnert an sein Schicksal.

Die griechischen Behörden erklärten zwar, die Vorfälle untersuchen zu wollen, aber das sind nur Lippenbekenntnisse. Tatsächlich rühmt sich der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis damit, die Überfahrten von Flüchtlingen über die Ägäis drastisch reduziert zu haben.

Der griechische Migrationsminister Mitarakis twitterte, er sei sehr zufrieden, „die geringsten Flüchtlingsankünfte seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 vermelden zu können“. 2021 seien nur noch 8.616 Flüchtlinge in Griechenland neu registriert worden, ziemlich genau die Hälfte davon sei über den Seeweg gekommen. Mitarakis erklärte, dieser Rückgang sei das Ergebnis „harter Arbeit“ und ermögliche es der Regierung, die „Kontrolle über die Außengrenzen zurückzugewinnen“. Dabei werde natürlich alles getan, um die Flüchtlinge zu schützen.

Doch der Fall der 36 Flüchtlinge von Samos zeigt das genaue Gegenteil. Die griechischen Behörden agieren voller Willkür jenseits aller rechtlichen und internationalen Verpflichtungen. Sie verweigern den Flüchtlingen nicht nur das Recht, Schutz zu suchen, und schieben sie wieder zurück, sondern setzen das Leben der Flüchtlinge bewusst aufs Spiel. Und das nicht nur in Einzelfällen sondern systematisch und massenhaft.

Der Neuen Zürcher Zeitung, die ansonsten der Flüchtlingsunterstützung völlig unverdächtig ist, ist aufgefallen, dass der griechische Schifffahrtsminister Ioannis Plakiotakis in einer Pressemitteilung verlautbaren ließ, dass 2021 „1.450 Seenotrettungsaktionen in griechischen Gewässern durchgeführt worden sind, bei denen mehr 29.000 Menschen gerettet worden sind“. Laut Mitarakis sollen aber nur rund 4100 Menschen als Flüchtlinge registriert worden sein. Wo sind also die anderen 25.000 Personen, die aus Seenot gerettet wurden?

Illegale Pushbacks

Der Verdacht liegt nahe, dass sie alle Opfer illegaler Pushback-Aktionen geworden sind, wie die Gruppe von 25 afghanischen Flüchtlingen, die Anfang Januar auf Lesbos anlandete. Die Gruppe bestand aus 17 Kindern, darunter vier Kleinkinder, drei Männern und vier Frauen. Kurz nach ihrer Ankunft versuchten sie die Hilfsorganisation Aegean Boat Report (ABR) zu kontaktieren, um Hilfe zu erhalten. Die in Norwegen angesiedelte ABR kontaktierte Hilfsorganisationen auf Lesbos, fand aber niemanden, da jede Unterstützung für noch nicht registrierte Flüchtlinge als Beihilfe zur illegalen Einreise als schwere Straftat geahndet wird.

Die afghanischen Flüchtlinge mussten daher auf sich alleine gestellt eine Nacht in den Wäldern ausharren. ABR informierte die griechischen Behörden, dass die Gruppe um Asyl bitte und Unterstützung benötige. Auch in diesem Fall gab es keine Antwort. Stattdessen wurden die Flüchtlinge nahe der Ortschaft Tsonia von Sicherheitskräften mit Sturmhauben aufgegriffen. Handys und Wertgegenstände wurden ihnen abgenommen, sie wurden geschlagen und getreten und schließlich rund 200 Kilometer südlich auf aufblasbaren Rettungsflößen ohne Motor ausgesetzt. Dabei gingen die Grenzpolizisten mit äußerster Brutalität vor. Die Kleinkinder wurden einfach heruntergeworfen, ein Baby landete im Meer und konnte gerade noch vor dem Ertrinken gerettet werden.

Laut Infomigrants berichteten die Inselbewohner auf Lesbos, dass die Sicherheitskräfte „Militärangehörige seien, die von den griechischen Behörden beauftragt worden sind, Flüchtlinge zu jagen“.

Anfang Februar wurden die Leichen von 19 weiteren Flüchtlingen gefunden, die an der türkisch-griechischen Landgrenze nahe des Grenzflusses Evros erfroren sind. Indizien legen auch hier nahe, dass diese verzweifelten Menschen illegalen Pushback-Aktionen der griechischen Grenzschützer zum Opfer gefallen sind.

Tommy Olsen, der Gründer von Aegean Boat Reports, erklärte, er sei „beschämt über das, was vor den Toren Europas geschieht“. Nach seinen Schätzungen seien allein in den vergangenen 22 Monaten „mehr als 25.000 Menschen illegal in der Ägäis zurückgeschoben worden, wobei 485 aufblasbare Rettungsflöße im Meer treibend gefunden wurden, mit insgesamt 8.400 Flüchtlingen an Bord.“ All das geschehe „auf Anordnung der griechischen Regierung, abgesegnet und gedeckt durch die Europäische Kommission.“

Tatsächlich ist die europäische Grenzschutzagentur Frontex direkt an den illegalen Pushback-Aktionen in der Ägäis beteiligt und das mörderische Vorgehen wird von Brüssel organisiert und finanziert. Anfang 2020 pries die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland als „Schutzschild Europas“ im Kampf gegen Flüchtlinge. Seit 2015 hat die griechische Regierung von der EU mehr als 3,5 Milliarden Euro an direkter finanzieller Unterstützung zum Ausbau der Grenzbefestigungen und der Aufrüstung der Küstenwache erhalten.

Das massenhafte Sterben der Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen ist das Ergebnis einer bewussten Politik. Wie bei der Durchseuchungspolitik im Zuge der Covid-19-Pandemie, die von allen europäischen Regierungen durchgesetzt wird, um die Profite der Wirtschaftselite nicht zu gefährden, wird auch der Tod von Flüchtlingen normalisiert.

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