Am Freitag ist die offizielle Zahl der Toten durch den Terroranschlag vor dem internationalen Flughafen in Kabul von Donnerstag deutlich angestiegen und liegt jetzt bei über 160. Die Zahl der afghanischen Todesopfer hat sich fast verdreifacht, und das US-Verteidigungsministerium bestätigte den Tod eines weiteren Militärangehörigen, womit die Zahl der toten US-Soldaten auf 13 stieg.
Bei einer Pressekonferenz des Verteidigungsministeriums am Freitag erklärte Generalmajor Hank Taylor, dass nur ein Selbstmordattentäter an dem Anschlag beteiligt war. Die ersten Berichte deuteten an, dass es eine zweite Explosion in einem nahegelegenen Hotel gegeben haben soll. Nachdem die Bombe mitten in einer großen Menschenmenge explodierte, die am Abbey Gate auf Einlass in den Flughafen warteten, begannen weitere Attentäter des Islamischen Staats Khorasan (IS-K) zu schießen. Amerikanische Soldaten feuerten ebenfalls in die Menge, um das Gebiet zu räumen. Es ist noch unklar, wie viele Menschen bei der Schießerei starben.
Taylor erklärte außerdem, dass die Evakuierung von Personal, Mitarbeitern und Bürgern der USA und ihrer Verbündeten sowie der afghanischen Ortskräfte, die die 20 Jahre andauernde neokoloniale Besetzung unterstützt hatten, fortgesetzt wird. Er erklärte, in den letzten 24 Stunden hätten 89 Flüge mit etwa 12.500 Menschen Kabul verlassen. Darunter befanden sich 300 Amerikaner, womit die Gesamtzahl der Amerikaner, die das Land seit der Machtübernahme der Taliban verlassen haben, auf über 5.100 anstieg. Hinzu kamen zwei Flüge mit 18 verwundeten US-Soldaten, die zum Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland gebracht wurden.
Seit Beginn der Evakuierungen am 14. August wurden etwa 111.000 Menschen ausgeflogen. Taylor bestätigte, dass im Flughafen noch weitere 5.400 Menschen auf einen Flug warteten.
Bei einer Pressekonferenz am Freitagnachmittag bestätigte die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, dass das nationale Sicherheitsteam der Biden-Regierung einen weiteren Terroranschlag bis zum 31. August für „wahrscheinlich“ hält; das ist der Stichtag für das Ende der Evakuierungen und den Abzug der US-Truppen. Sie fügte hinzu, dass auf dem Flughafen maximale Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der Truppen getroffen würden.
Bei beiden Pressekonferenzen wurde jedoch deutlich, dass die Zahl der Personen, die noch evakuiert werden, in den kommenden Tagen deutlich abnehmen wird, wenn der Abzug der US-Truppen beginnt. Taylor erklärte indessen, es werde „bis zum Schluss“ möglich sein, Menschen zu evakuieren.
Das bleibt jedoch abzuwarten, da ein Taliban-Sprecher am Freitagabend erklärt hatte, die Organisation habe die Kontrolle über Teile des Flughafens übernommen. Das Pentagon dementierte den Bericht zwar sofort, doch die internationale Chefkorrespondentin der BBC, Lyse Doucet, die sich derzeit in Kabul aufhält, hatte erfahren, dass amerikanische und britische Truppen den Taliban in wenigen Stunden die Kontrolle über den Flughafen übergeben würden.
Dass sich Washington im letzten Stadium des Abzugs in solchem Ausmaß mit den Taliban absprechen und kooperieren muss, verdeutlicht wie groß das Debakel ist, das der US-Imperialismus durch den Zusammenbruch seines Marionettenregimes in Kabul erlitten hat. Selbst Vertreter der Biden-Regierung mussten zugeben, dass der weitere Erfolg der Mission zu einem beträchtlichen Teil von der Unterstützung der Taliban abhängt.
Auf die Frage, ob die Koordination mit den Taliban die beste von vielen schlechten oder die einzige Option sei, antwortete Psaki offen: „Vielleicht beides“. Sie fügte hinzu, das sei „zwangsläufig unsere Option“, weil die Taliban „große Teile“ Afghanistans und das Gebiet um den Flughafen kontrollieren. Laut einer vorbereiteten Erklärung würden die kommenden Tage „die gefährlichste Zeit“ der amerikanischen Militäroperationen werden.
Die Taliban wiederum haben Washington scheinbar ein Friedensangebot gemacht: Wie das US-Außenministerium am Freitag mitteilte, haben sie Washington angeboten, nach dem 31. August eine diplomatische Präsenz in Kabul beizubehalten. Ein Sprecher der Taliban erklärte gegenüber al-Jazeera, die Bewegung wolle eine „umfassende Übergangsregierung“ vorstellen, an der auch Mitglieder der usbekischen und tadschikischen Minderheiten beteiligt sind.
Auf Nachfrage gaben sich Vertreter des Verteidigungs- und Außenministeriums große Mühe, Vorwürfe über die Beteiligung der Taliban oder deren Mitverantwortung für den Anschlag von Donnerstag zurückzuweisen. Die Hintergründe des Anschlags sind weiterhin unklar.
Der IS-K bezeichnet sich als regionaler Ableger des Islamischen Staats und hatte zuvor eine Serie von Anschlägen verübt, die das amerikanische Marionettenregime gestärkt hatten. Doch unabhängig von den derzeitigen Beziehungen dieser Organisation, die in Afghanistan Berichten zufolge weniger als 2.000 Anhänger hat, bleibt es eine Tatsache, dass alle islamistischen Milizen – einschließlich des Islamischen Staats und der Taliban – das Produkt der tragischen Geschichte Afghanistans und der ganzen Region sind, die mehr als vier Jahrzehnte Intrigen und brutale neokoloniale Kriege des US-Imperialismus durchgemacht hat.
Dass sogar einige von Bidens erbittertsten Kritikern stillschweigend zugegeben haben, dass der Rückzug der USA alternativlos ist, verdeutlicht das katastrophale Ergebnis dieser Politik für die imperialistischen Strategen in Washington. Der Minderheitsführer des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, attackierte Biden am Freitag in einer Pressekonferenz, die als Reaktion auf den Terroranschlag vom vorherigen Tag einberufen wurde, als „schwach und inkompetent“, weil er sich „von den Taliban eine Frist setzen lässt“. Doch auf die Frage, welcher alternative Kurs ihm vorschwebt, forderte er lediglich die Wiedereinberufung des Repräsentantenhauses zu einer vertraulichen Besprechung mit den Geheimdiensten und einen Gesetzesentwurf, der den US-Truppen den Abzug verbietet, bis „jeder einzelne Amerikaner evakuiert wurde“.
Die amerikanische Militärpräsenz in dem vom Krieg verwüsteten Land beizubehalten würde die Stationierung von Zehntausenden oder sogar Hunderttausenden Soldaten erfordern. Biden und seine außenpolitischen und nationalen Sicherheitsberater haben dies jedoch ausgeschlossen, weil eine derartige Investition von militärischen und finanziellen Mitteln von den Hauptkonflikten mit Russland und vor allem China ablenken würde.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Medien verschweigen diese geostrategischen Erwägungen, während sie die Soldaten der USA und ihrer Verbündeten als Retter der afghanischen Bevölkerung vor Barbarei und Tod darstellen. Taylor erklärte am Freitag während der Pressekonferenz im Pentagon, die amerikanischen Soldaten würden „so viele Menschen retten, wie sie können“ und befänden sich auf einer „edlen Mission“.
Dieses militaristische Geschwätz wurde von den Medien und dem politischen Establishment in den USA, Kanada und Westeuropa bis zum Erbrechen wiederholt. Als Deutschland am Freitag seine Evakuierungsmission mit der Ankunft von etwa 300 Bundeswehrsoldaten beendete, berichteten die Medien atemlos über die heimkehrenden „Helden“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte, die Soldaten hätten „Tausende von Menschen aus Afghanistan in Sicherheit gebracht“, und ihr Land sei stolz auf sie.
In Wirklichkeit lassen die amerikanischen Soldaten und ihre europäischen Verbündeten ein Land zurück, das vom Krieg zerstört ist. Hunderttausende von Afghanen wurden von den imperialistischen Mächten und ihren lokalen Kollaborateuren durch Luftangriffe, nächtliche Angriffe, Folter und Misshandlungen massakriert oder verwundet.
Laut dem Cost of War Project wurden alleine 2019 durch Luftangriffe der USA und ihrer Verbündeten 700 Zivilisten getötet, d.h. so viele wie noch nie seit Beginn des Kriegs. Die USA haben ihre Luftangriffe zwar nach dem Waffenstillstand der Trump-Regierung mit den Taliban zurückgefahren, allerdings hat dafür die afghanische Luftwaffe ihre Angriffe verschärft, die völlig von den Munitionslieferungen und Wartungsdiensten der USA abhängig ist. Während des Jahres 2020 wurden in dem Konflikt schätzungsweise 3.000 Zivilisten getötet.
Das pro-imperialistische Marionettenregime, unter dem diese schrecklichen Zustände herrschten, steckte bis zum Hals im Sumpf von Bestechung und Korruption. Während der ehemalige afghanische Präsident Ashraf Ghani Berichten zufolge bei seiner Flucht mehr als 150 Millionen Dollar mitgenommen hat, leben 90 Prozent der Bevölkerung nach zwei Jahrzehnten Besatzung durch das US-Militär von weniger als zwei Dollar pro Tag.
Die UN veröffentlichten am Freitag eine Stellungnahme, die weniger Aufmerksamkeit erhielt als das Schicksal einer vergleichsweise kleinen Zahl von Menschen auf dem Flughafen von Kabul. Laut dieser Stellungnahme sei anzunehmen, dass bis Ende 2021 eine halbe Million Menschen aufgrund einer drohenden Lebensmittelkrise aus dem Land fliehen würden. Die UN erklärten, dass vor der Machtübernahme der Taliban die Hälfte der Bevölkerung in der einen oder anderen Form humanitäre Hilfe benötigte und dass die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren unter akuter Unterernährung leidet.
Seit Beginn des Jahres 2021 wurden 560.000 Menschen als Binnenflüchtlinge registriert, Ende 2020 waren es bereits 2,9 Millionen. Mehr als 80 Prozent derjenigen, die seit Beginn des Jahres zu Binnenflüchtlingen wurden, sind Frauen und Kinder.