Widerstand bei Lieferdiensten weitet sich aus

Die Proteste und Streiks von Beschäftigten bei Lieferdiensten gegen miserable Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung weiten sich aus und erfassen immer mehr Unternehmen.

Bei dem Lebensmittellieferdienst Gorillas kommt es in Berlin seit Monaten zu Streiks und Protesten. Mehrmals mussten Warenlager des Start-Ups geschlossen werden und die Auslieferung kam zum Erliegen. Am vergangenen Freitag demonstrierten in zehn deutschen Städten Rider (Fahrrad-Lieferkuriere) gegen die miserablen Arbeitsbedingungen bei Gorillas, Lieferando, Wolt und anderen Lieferdiensten und zogen vor deren Firmenzentralen.

Auch in anderen Ländern kommt es zu Protesten. In New York haben die „Deliveristas“ begonnen, sich zu organisieren. Die unabhängige Lebensmittelzusteller, von denen es allein in New York City etwa 80.000 gibt, arbeiten – ähnlich wie die Taxifahrer von Uber – über Apps wie Grubhub und Uber Eats.

Die Rider gehören zu den am stärksten ausgebeuteten Teilen der Arbeiterklasse. Sie werden schlecht bezahlt, haben unmögliche Arbeitsbedingungen und setzen im Großstadtverkehr ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel.

Die Corona-Pandemie hat der Branche einen Aufschwung beschert, da sich viele Leute Lebensmittel und andere Waren lieber liefern lassen, als sich in einem Supermarkt der Ansteckungsgefahr auszusetzen.

Für Investoren ist das eine Goldgrube. Ständig auf der Suche nach hochrentablen Anlagemöglichkeiten für die Milliardensummen, die Notenbanken und Regierungen als Corona-„Hilfen“ in die Märkte gepumpt haben, wittern sie hohe Profite.

Das Startup Gorillas, das im Juni 2020 den Betrieb aufnahm, erreichte innerhalb von zehn Monaten eine Marktbewertung von mehr als einer Milliarde Dollar und gilt deshalb in Finanzkreisen als sogenanntes Einhorn. Sein Wirtschaftsmodell ist einfach: Es verspricht den Kunden, bestellte Waren innerhalb von zehn Minuten zu liefern – und setzt dafür Fahrradkuriere ein, die die Vorgabe bei allen Wetter- und Verkehrsverhältnissen erfüllen müssen.

Aber Gorillas ist bei Weitem nicht der einzige Lieferdienst, der versucht, sich auf dem hart umkämpften Markt zu behaupten. Durchsetzen kann sich nur, wer die Beschäftigten bis aufs Blut ausbeutet.

Zuletzt hatte Gorillas Pressemeldungen zufolge Probleme beim Einsammeln von Investorengeldern. Laut Financial Times strebte Firmenchef Kagan Sümer ursprünglich eine Bewertung von sechs Milliarden US-Dollar an, bisher wird Gorillas aber „nur“ mit 2,5 Milliarden bewertet. Der US-Lieferdienst Doordash habe sogar Interesse an einer Übernahme von Gorillas geäußert, allerdings zu einem recht niedrigen Preis.

Trotzdem setzt Gorillas seine Expansion unbeirrt fort. Das Unternehmen ist inzwischen in Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Italien, Spanien und den Vereinigten Staaten auf dem Markt. Mit Deena Fox holte Gorillas in diesem Monat eine Person in die Geschäftsführung, die zuvor beim Online-Handelsriesen Amazon als Personalchefin verantwortlich für die Beschäftigten in Nordamerika war. Sie soll bei Gorillas die Ausbeutungsmaßnahmen einführen, die Amazon seit langem praktiziert.

Die Proteste bei Riders haben sogar die Bundesregierung auf den Plan gerufen. Mitte Juli besuchte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) streikende Gorillas-Beschäftigte in Berlin-Kreuzberg. Er wolle sich vor Ort ein Bild über die „wirkliche Situation“ und die „konkreten Probleme der Beschäftigten“ machen, so Heil in einem anschließenden Pressegespräch.

Die Regierung und insbesondere die SPD fürchten, die Proteste bei den Lieferdiensten könnten sich ausdehnen und einen Flächenbrand entfachen, was sie – insbesondere im Bundestagswahlkampf – um jeden Preis verhindern wollen.

Die SPD, die seit Beginn des Jahrhunderts mit Ausnahme von vier Jahren immer den Arbeitsminister stellte, hat mit den Hartz- und anderen Gesetzen erst die Voraussetzungen für den Niedriglohnsektor geschaffen, in dem mittlerweile Millionen ausgebeutet werden. Nun nutzte Heil den Streik der Riders als Foto-Kulisse für einen Wahlkampfauftritt, um sich und die SPD als Gegner der extremen Ausbeutung darzustellen. Der unverschämte Auftritt wurde von Ridern heftig kritisiert.

Heil hatte schon im Mai das Betriebsrätemodernisierungsgesetz durch den Bundestag verabschieden lassen, das die Gründung von Betriebsräten erleichtern soll. Dabei geht es nicht darum, die Rechte und Einkommen der Arbeiter zu verbessern, sondern den Würgegriff der Gewerkschaften zu festigen, die ihren Einfluss in den Betrieben vor allem über die Betriebsräte ausüben. Die Gewerkschaften sollen spontane Streiks wie bei Gorillas unterdrücken und verhindern.

Mehrere pseudolinke Gruppierungen unterstützten dies und treten für die Bildung eines Betriebsrats bei Gorillas ein. Nur die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) lehnt dies ab und schlägt stattdessen vor, ein Aktionskomitee zu gründen, das auf der Tradition der Arbeiterräte basiert. „Ein solches Aktionskomitee,“ schrieben wir auf der WSWS, „ist in der Lage, Verbindung zu Arbeitern in anderen Produktions- und Verwaltungsbereichen und in anderen Ländern aufzunehmen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, um die Sklavenarbeit nicht zu ‚humanisieren‘ und erträglich zu gestalten, sondern abzuschaffen.“

Die World Socialist Web Site sprach am Freitag in Berlin am Rande der Demonstration mit Agustin, einem Rider beim Lieferdienst Wolt. Er ist bei dem finnischen Unternehmen seit knapp einem Jahr beschäftigt und beschreibt seine Arbeitsbedingungen und die seiner Kollegen.

Diese haben sich „vor allem in den letzten zwei Wochen“ stark geändert. „Wir erhielten bisher einen Bonus von 160 Euro für 150 Lieferungen, aber das wurde jetzt abgeschafft.“ Er hat mittlerweile den zweiten Sechs-Monats-Vertrag, dabei ist „der neue Vertrag noch schlechter als der erste. Sie behandeln uns wirklich schlecht.“

Es gibt auch kaum Unterstützung bei Problemen für die Rider. „Bei Problemen haben wir keinen Support mehr. Jetzt gibt es nur noch eine automatische Bandansage. Wenn ein Rider beispielsweise Schwierigkeiten mit dem Fahrrad hat, gibt es keine Antwort. Das heißt, von uns wird erwartet, dass wir die Reparatur während der Arbeitszeit organisieren und bezahlen.“

Auch der Arbeitsdruck ist enorm. Teilweise müssen Strecken von sechs Kilometern zurückgelegt werden, und das immer auf der kürzesten Route, auch wenn das eigentlich nicht möglich ist.

Welche Auswirkungen das hat, zeigte sich letzte Woche. Bei einem Verkehrsunfall in Berlin-Charlottenburg wurde ein Gorillas-Rider schwer verletzt. Der Polizei zufolge fuhr er über eine rote Ampel und wurde dabei von einem Auto erfasst. Der Fahrer erlitt mehrere Brüche am Bein und an einem Wirbel sowie eine Kopfverletzung.

Zweifelsohne sind solche Unfälle dem Druck geschuldet, der auf die Rider ausgeübt wird. Gorillas wirbt damit, dass zehn Minuten nach der Bestellung die Lieferung erfolgt. Es ist nicht verwunderlich, dass Verkehrsregeln missachtet werden, um dies einzuhalten. Laut einem Bericht der Abendzeitung kam es in München binnen einer Woche allein zu 17 Unfällen, in denen Rider verwickelt waren.

Wie auch Augustin bestätigt, kümmert es die Unternehmen nicht, ob es heiß oder kalt ist, oder ob es in Strömen regnet. Gleichzeitig müssen die Rider immer wieder um ihre Löhne kämpfen, obwohl diese in der Regel ohnehin auf dem Niveau des Mindestlohnes liegen. Bei Gorillas kam es über diese Frage schon zu Protesten.

Auch der Pizzalieferdienst Dominos sorgt für Schlagzeilen, da den Beschäftigten vom Mindestlohn sogar noch Beträge abgezogen werden. Der Berliner Tagesspiegel berichtete jüngst von einem Studenten, der in einer Berliner Filiale als Lieferfahrer anheuerte und bei einem Stundenlohn von 9,50 Euro pro Tour 0,35 Euro abgeben musste, angeblich als „Trinkgeldpauschale“.

Der Student berichtete dem Tagesspiegel: „An meinem ersten Tag habe ich zwanzig Touren geschafft, musste also sieben Euro in diese Kasse einzahlen. Dabei habe ich nur drei Euro Trinkgeld bekommen. Die restlichen vier Euro musste ich also aus eigener Tasche zahlen.“

Als er seinen Vorgesetzten auf diesen Umstand ansprach, erhielt er am nächsten Tag seine Kündigung überreicht. Darüber hinaus wurden von seinem Gehalt nochmals 50 Euro unter fadenscheinigen Begründungen einbehalten.

Im Juni wurde in einer Filiale in Leipzig ein Beschäftigter entlassen, nachdem er Corona-Tests für Mitarbeiter gefordert hatte. Die Entlassung wurde mittlerweile vom Unternehmen zurückgenommen.

Auch Dominos erwirtschaftet auf dem Rücken der Beschäftigten Rekordgewinne. Nachdem Dominos 2015 den früheren Marktführer Joeys Pizza und 2019 auch Hallo Pizza übernommen hatte, verzeichnete das Unternehmen im letzten Jahr alleine in Deutschland rund 290 Millionen Euro Umsatz, 60 Millionen mehr als im Vorjahr.

Auch Agustin berichtet, dass es schwer ist, mit dem niedrigen Gehalt über die Runden zu kommen. Er selbst arbeitet in Teilzeit und muss ein normales Fahrrad nutzen. Für ein E-Bike müsste er 70 Euro monatlich bezahlen, was angesichts des geringen Verdienstes schlichtweg nicht möglich ist.

Auf die Frage, wie die Beschäftigten den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne führen müssen, antwortet Agustin: „Ich denke, unabhängige Arbeiterkomitees sind notwendig. Die Leute arbeiten in der Gig-Economy, weil sie keine Alternative haben.“

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