Lebensmittelzusteller in New York wehren sich gegen extreme Ausbeutung

In New York City gibt es etwa 80.000 Menschen, die als unabhängige Lebensmittelzusteller für Apps wie Grubhub und Uber Eats arbeiten. Viele von ihnen sind lateinamerikanische Immigranten, weshalb sie unter dem spanischen Begriff „Deliveristas“ bekannt sind. In der Pandemie hat ihre Bedeutung für das Alltagsleben von Millionen Stadtbewohnern und damit auch ihre Anzahl zugenommen. Allerdings gehören sie zu den am stärksten ausgebeuteten Teilen der Arbeiterklasse.

Deliveristas sind Tag und Nacht und bei jedem Wetter unterwegs, meistens auf Fahrrädern oder Mofas unter gefährlichen Verkehrsbedingungen in einer der verkehrsreichsten Städte der Welt. Wie gefährlich der Beruf ist, zeigte der Tod des 24-jährigen Lieferfahrers Borkot Ullah am 8. Juli. Er wurde in Lower Manhattan von einem PKW angefahren und starb später im Bellevue Hospital. Der Autofahrer beging Fahrerflucht.

Laut Daten des New Yorker Verkehrsamts wurden in den letzten acht Jahren im Durchschnitt etwa 9,4 Radfahrer und 13 Motorradfahrer pro Jahr bei Verkehrsunfällen getötet. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres starben bereits acht Radfahrer und 17 Motorradfahrer nach Verkehrsunfällen.

Lebensmittelzusteller werden miserabel bezahlt, haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen, keinen Kündigungsschutz und keine geregelten Arbeitszeiten. Als „Gig“-Arbeiter gelten sie als „Selbstständige“ und erhalten keinen Stundenlohn, sondern werden pro Fahrt bezahlt. Um in einer der teuersten Städte der Welt auch nur das Existenzminimum zu verdienen, müssen sie lange Stunden arbeiten.

Die New York Times schrieb vor kurzem unter Bezug auf eine aktuelle Studie, dass viele Beschäftigte der Gig-Ökonomie weniger als die Hälfte des Mindestlohns erhielten, der in New York bei 15 Dollar pro Stunde liegt. Ihr Nettoeinkommen liege nach Abzug der Kosten für die notwendige Ausrüstung wie Smartphones und E-Bikes zwischen 6,57 Dollar und 7,87 Dollar pro Stunde, d.h. knapp die Hälfte des offiziellen Mindestlohns. Dieses Einkommen umfasst Trinkgelder, die jedoch nicht berechenbar sind und oft von den Unternehmen eingezogen werden. Gustavo Ajche, ein Fahrradkurier, erklärte in den lokalen Medien: „Im Sommer muss man für mehrere Apps arbeiten, sonst verdient man nicht genug.“

Zudem werden die Lebensmittelkuriere manchmal Opfer von Gewalt und Diebstahl, beispielsweise ihrer Fahrräder. Die Unternehmen stellen weder die Fahrzeuge, noch bezahlen sie für Wartung oder Ersatz im Fall von Diebstahl. E-Bikes kosten um die 2.000 Dollar.

Im März wurde der Lieferfahrer Francisco Villalva Vitinio (29) in East Harlem erschossen, weil er sein E-Bike nicht hergeben wollte. Im Juni wurde ein 53-jähriger Lieferfahrer auf seinem Fahrrad von hinten niedergestochen und starb.

Viele Beschäftigte der Gastronomiebranche haben ihre Stelle verloren, als ihre Arbeitgeber in der Pandemie die Restaurants schließen mussten. Als einzige Alternative bot sich ihnen, für Liefer-Apps wie Grubhub, DoorDash, Relay oder Uber Eats zu arbeiten. Nun sind sie auf Gedeih und Verderb der Gnade von Unternehmern ausgesetzt, die einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf führen, um ihre Profite in die Höhe zu treiben.

Zwar ist das Auftragsvolumen der Lebensmittel-Lieferanten in der Pandemie deutlich angestiegen, aber sie laut dem Wall Street Journal profitieren sie davon nicht wirklich. Sie entwickeln ständig neue Methoden, über verstärkte Automatisierung die „Effizienz“ zu steigern und noch mehr Profit aus den Beschäftigten zu pressen. Deshalb kämpfen diese Unternehmen mit Händen und Füßen gegen jeden Versuch, die Bedingungen der Kuriere zu verbessern. So propagierten sie letztes Jahr bei einer Abstimmung in Kaliformien („Proposition 22“) stark die Beibehaltung des Status solcher Fahrradkuriere als „selbständige Unternehmer“, während es sich in Wirklichkeit um halb-versklavte Abhängigkeit handelt.

Die extreme Ausbeutung von Immigranten in New York war schon seit der Gründung der Stadt im 17. Jahrhundert eine wichtige Grundlage ihrer Wirtschaft. Dies hat sich mit der Pandemie noch einmal verschlimmert. Laut einer aktuellen Studie des Center for New York City Affairs an der New School sind 49 Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft der Stadt Immigranten, aber 54 Prozent diese Gruppe haben ihren Arbeitsplatz während der Pandemie verloren. Die Hälfte aller zugewanderten Arbeiter verloren ihre Stellen, sodass sie verzweifelt genug waren, jede Arbeit anzunehmen, um ihre Familien zu ernähren. Viele müssen in beengten Wohnungen leben, was die Ausbreitung des Virus beschleunigt. Sie müssen allerdings weiter arbeiten, sodass sie sich und ihre Familien einem noch größeren Infektionsrisiko aussetzen.

Als Reaktion auf diese elenden Bedingungen haben mehr als 1.000 Arbeiter vor kurzem die Gruppe „Los Deliveristas Unidos (LDU)“ gegründet. Die LDU ist die Initiative einer Gruppe, die sich Worker's Justice Project (WJP) nennt.

Die LDU hat große Protestveranstaltungen vor dem Rathaus organisiert, bei denen sie eine Reihe von Minimalforderungen vorlegten, darunter das Recht auf Nutzung von Toiletten in Restaurants, Mindestlohn, Zugang zu Leistungen im Falle eines Unfalls, Zugang zu Schutzausrüstung und die Möglichkeit auf Einspruch, wenn eine Bewerbung abgelehnt wird.

Das WJP hat Beziehungen zum Ortsverband 32BJ der Service Employees International Union (SEIU) angeknüpft, und diese berät Berichten zufolge die LDU seit einigen Monaten. Die Direktorin des WJP, Ligia Guallpa, erklärte gegenüber City: „Die Unterstützung von 32BJ ist wichtig und ein großer Schritt für die Arbeiter.“

Der Schatzmeister des Ortsverbands 32BJ, Marty Pastreich, versprach den Lieferfahrern während einer Kundgebung im April: „Ich bin hier, um euch zu versichern, dass wir hinter euch stehen.“

In Wirklichkeit sieht die SEIU die Lieferfahrer nur als eine potenzielle Quelle für Mitgliedsbeiträge. Ihre Zusammenarbeit mit der LDU basiert auf Manövern mit der Demokratischen Partei auf Bundesstaatsebene, um ein Gesetz durchzusetzen, das ihr den Zugriff auf diesen wachsenden Sektor der Arbeiterklasse ermöglicht.

Ein Gesetzentwurf, der in der Bundesstaatslegislative von New York eingebracht wurde, sieht vor, dass Gewerkschaften für Lieferfahrer bereits anerkannt werden müssen, wenn nur zehn Prozent der Belegschaft Mitgliedsausweise unterzeichnen. Der Gesetzentwurf würde jedoch ihren Status als „Gig“-Arbeiter aufrechterhalten, sodass sie weiterhin keinen Stundenlohn erhalten, sondern pro Fahrt bezahlt werden. Die einzigen nennenswerten Änderungen wären, dass ihre Mitgliedsbeiträge automatisch durch einen Abzug bei der Bezahlung von Aufträgen abgezogen werden und dass sie durch das „Betriebsfriedensabkommen“ das Recht auf Streik verlieren.

Der Gesetzentwurf in New York ist Teil der landesweiten Versuche der Demokraten – der ältesten kapitalistischen Partei der Welt, die durch tausend Fäden mit der Wall Street verbunden ist –, die unternehmensfreundlichen Gewerkschaften zu einer Art staatlich sanktioniertem Vormund für eine zunehmend unruhige Arbeiterklasse aufzubauen. Ähnliche Regelungen wie im Gesetzentwurf sind auch im PRO Act enthalten, den die Biden-Regierung und die Democratic Socialists of America unterstützen. Dieser Gesetzesentwurf ('Protecting the Right to Organize Act') soll den Einfluss der Gewerkschaften in den Betrieben stärken.

Abgesehen von ihrer Rolle bei den Lieferfahrern hat die SEIU wesentlich dazu beigetragen, während der Pandemie Streiks von Pflegekräften einzuschränken und Ausverkäufe durchzusetzen, die dafür sorgten, dass die Belegschaften unterbesetzt und unterbezahlt bleiben.

Die Bedingungen, unter denen Lieferfahrer in New York leben, sind Teil eines internationalen Phänomens. In China, Deutschland und anderen Ländern sind Lebensmittelkuriere ähnlichen Bedingungen ausgesetzt und versuchen ebenfalls, sich zu wehren.

Der Ausweg für Gig-Arbeiter und Arbeiter aller Branchen führt über den Aufbau von Aktionskomitees, die unabhängig von den Gewerkschaften und den kapitalistischen Parteien für ein sozialistisches Programm im Interesse der Arbeiterklasse kämpfen. Für weitere Informationen und Hilfe bei der Bildung eines Komitees, kontaktiert die World Socialist Web Site.

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