Perspektive

Die Kriegsverbrechen in Gaza und die Krise in Israel

Die World Socialist Web Site verurteilt unmissverständlich das einseitige Gemetzel der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) in Gaza. Seit zehn Tagen feuern israelische Flugzeuge und Artillerie Raketen, Bomben und Granaten auf die palästinensische Bevölkerung ab, die im Gazastreifen gefangen ist. Zwei Millionen Menschen leben in der schmalen verarmten Küstenenklave unter der gnadenlosen Besatzung und Blockade durch Israel.

Mindestens 219 Palästinenser wurden getötet, fast die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder, Tausende weitere wurden verwundet. Etwa 41.000 Bewohner des Gazastreifens mussten aus ihren Häusern in Notunterkünfte von UN-betriebenen Schulen fliehen. Israel hat ganze Hochhäuser mit „intelligenten Bomben“ zerstört und terrorisiert die gesamte Bevölkerung.

Eine israelische Artillerieeinheit feuert auf Ziele im Gazastreifen, 18. Mai 2021 (AP Photo/Tsafrir Abayov)

Das Gesundheitssystem in Gaza steht am Rand des Zusammenbruchs, weil Betten und die medizinische Versorgung knapp werden. Krankenhäuser, die aufgrund der Pandemie bereits überfüllt waren, müssen jetzt zusätzlich Verwundete aufnehmen, darunter viele mit schweren Verletzungen. Eine Krankenschwester erzählte Al Jazeera, dass abgetrennte Arme und Beine auf einem Krankenhausbett aufgestapelt wurden.

Es wird erwartet, dass die Beschädigung der Infrastruktur und die Unterbrechung der Treibstoffzufuhr einen Stromausfall im gesamten Gazastreifen auslösen werden. Wohnhäuser, Krankenhäuser und Kliniken, das Abwassersystem und die Entsalzungsanlage wären dann von der Stromversorgung abgeschnitten. Die Zahl der Todesopfer wird noch weit über die unmittelbaren Toten durch israelische Bomben und Granaten hinausgehen, da die Zerstörung und Lähmung des Gesundheitswesens und der Infrastruktur die Sterblichkeitsrate über lange Zeit nach oben treiben wird.

Nicht nur Israel macht sich Kriegsverbrechen schuldig, sondern auch sein wichtigster Hintermann, der US-Imperialismus. Während die Bomben auf Gaza fallen, wurde bekannt, dass die Regierung der Demokraten unter dem US-Präsident Joe Biden am 5. Mai den Kongress offiziell über ein 735 Millionen Dollar schweres Waffenpaket für Israel informiert hat. Dieses Paket umfasst auch Joint Direct Attack Munitions (JDAMs), ein Nachrüstsatz für präzisionsgelenkte Bomben, also genau die Waffen, mit denen die Hochhäuser Gazas in Schutt und Asche gelegt wurden. Die Genehmigung dieser Teilzahlung der fast 4 Milliarden Dollar Hilfe, die Washington jährlich Israel zur Verfügung stellt, offenbart die direkte Komplizenschaft der gesamten Führung der Demokratischen Partei bei den Verbrechen in Gaza.

Gleichzeitig hat Washington innerhalb einer Woche dreimal von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht, um im UN-Sicherheitsrat eine Resolution gegen Israel zu blockieren.

Die Reaktion des Weißen Hauses auf das andauernde Massaker in Gaza ist der unwiederbringliche Beweis, dass die Biden-Regierung nicht nur in der Kontinuität Trumps steht, sondern auch seiner Vorgänger Barack Obama und George W. Bush, die in ähnlicher Weise Israels Kriege in den Jahren 2008–2009, 2012 und 2014 unterstützt haben. Insgesamt wurden damals mindestens 3.500 Einwohner Gazas getötet, die überwältigende Mehrheit Zivilisten.

Millionen Arbeiter und Jugendliche auf der ganzen Welt sind zu Recht empört über Israels Kriegsverbrechen und deren heuchlerische Rechtfertigung durch Biden, US-Außenminister Antony Blinken und ihresgleichen. Sie wiederholen unaufhörlich die Phrase: „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen.“ In der Praxis bedeutet das, dass eine Besatzungsmacht mit einer der fortschrittlichsten Kriegsmaschinen der Welt das „Recht“ hat, uneingeschränkt Mord und Gewalt gegen die Besetzten auszuüben, einer wehrlosen Bevölkerung von Flüchtlingen, die in einem riesigen, von Israel selbst geschaffenen Ghetto gefangen sind. Am Montag stimmte Biden in diesen Chor ein und ließ von einem Sprecher in einem nichtssagenden Statement seine platonische Unterstützung für einen Waffenstillstand ohne konkretes Datum verkünden.

Die gewaltige Wut der Bevölkerung über die Kriegsverbrechen in Gaza zeigte sich in Hunderten Protesten rund um den Globus. Auch wenn die Vereinigten Staaten und die anderen imperialistischen Mächte die israelischen Angriffe unterstützen, ist Israel in den Augen von Millionen Menschen auf der ganzen Welt ein Pariastaat, der jede moralische und politische Legitimität verloren hat.

Die Brandmarkung der Proteste als antisemitisch wird als das gesehen, was es ist: ein hinterhältiger Versuch Israels und seiner imperialistischen Hintermänner, jede Opposition gegen ihre Verbrechen zu unterdrücken. Der Antisemitismus-Vorwurf verleumdet außerdem Millionen von Juden auf der ganzen Welt, die über die Politik des zionistischen Staats schockiert und empört sind.

Wut und Proteste reichen jedoch nicht aus. Erforderlich ist eine politische Perspektive, um zu verstehen, was die Wurzeln dieser Verbrechen sind und wie sie gestoppt werden können.

Der Ausbruch der Gewalt gegen Gaza wird von der tiefen Krise und den Widersprüchen in der israelischen Gesellschaft selbst angetrieben. Mit der Entscheidung, einen Krieg zu provozieren, versuchte Tel Aviv in erster Linie, die zugespitzte politische Krise einzudämmen. Nach vier Wahlen in nur zwei Jahren ist die Bildung einer tragfähigen Regierung erneut gescheitert und Premierminister Benjamin Netanjahu versucht an der Macht zu bleiben, um nicht wegen Korruptionsvorwürfen im Gefängnis zu landen.

Dieser politischen Krise liegen unlösbare soziale Widersprüche zugrunde. Israel gehört nach wie vor, zusammen mit den USA, zu den ungleichsten OECD-Länder. Laut dem jährlichen Armutsbericht der israelischen Hilfsorganisation Latet stieg die Armutsquote von 20,1 Prozent auf 29,3 Prozent im Jahr 2020. Zugleich hat Israel die größte Konzentration von Milliardären weltweit. Die reichsten 20 Israelis haben zusammen ein Vermögen von über 61 Milliarden Dollar angehäuft.

Eine so tiefe soziale Spaltung ist unhaltbar. Das offenbarte sich in dem Aufstand der palästinensischen Israelis gegen die gewaltsame Stürmung der al-Aqsa-Moschee durch die Polizei und die zunehmend aggressive „ethnische Säuberung“ in Ost-Jerusalem. Israelische Palästinenser, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, schlossen sich am Dienstag einem Generalstreik der Palästinenser in den besetzten Gebieten an, um gegen den Angriff auf den Gazastreifen und gegen Israels Apartheid-ähnliche „Rassengesetze“ zu protestieren, die sie zu Bürger zweiter Klasse degradieren. Geschäfte, Schulen und Baustellen blieben geschlossen und im ganzen Land beteiligten sich Arbeiter am Streik.

Israels herrschende Clique vertritt die Interessen ihrer Oligarchen und versucht eine Unterstützerbasis aufzubauen, indem sie Militarismus und antiarabischem Hass schürt und faschistische zionistische Banden auf den Straßen wüten lässt. Doch in der Arbeiterklasse gibt es eine große Feindschaft gegenüber der Regierung und ihre Verbrechen und Sympathie für die Palästinenser. Diese Stimmung kam am Sonntag zum Ausdruck, als jüdische und palästinensische Beschäftigte im israelischen Gesundheitswesen gemeinsam vor dem Rambam-Krankenhaus in Haifa demonstrierten und zur Einheit aufriefen. Hier zeigt sich im Keim der Drang der Arbeiterklasse, sich im Kampf gegen den gemeinsamen Unterdrücker zusammenzuschließen.

73 Jahre nach der Gründung des Staates Israel und 55 Jahre nach dem expansionistischen Sechs-Tage-Krieg sind die israelische herrschende Klasse und ihr riesiger Militärapparat nicht in der Lage, den palästinensischen Widerstand zu zerschlagen, der untrennbar mit den großen inneren Widersprüchen der israelischen Gesellschaft verbunden ist. Darauf reagiert die Regierung, als hätte sie den Kopf verloren, und schlägt mit Gewalt um sich, was aber ihre Krise nur weiter verschärfen wird.

Israel befindet sich in einer Sackgasse. Das gesamte zionistische Projekt – die reaktionäre Perspektive der Gründung eines jüdischen kapitalistischen Staats im Nahen Osten durch die Enteignung des palästinensischen Volkes – ist offenkundig gescheitert. Während die zionistische Ideologie die Gründung Israels nach dem Holocaust als sicheren Hafen für die Juden rechtfertigte, führt die israelische Regierung heute Rassengesetze ein und begeht Gewaltverbrechen, die immer mehr denen der Nazis ähneln.

Die entstehende Massenopposition unter arabischen Israelis und jüdischen Arbeitern gegen die Verbrechen der israelischen Regierung unterstreicht die völlige Lebensunfähigkeit des zionistischen Projekts. In dem Maße, wie die jahrzehntelangen Versuche, einen Keil zwischen palästinensische und jüdische Arbeiter zu treiben, scheitern und eine Revolte der Arbeiterklasse in Aussicht ist, kann Israel nur überleben, wenn es eine totalitäre Diktatur aufbaut.

Die Krise Israels ist mit dem Zusammenbruch des gesamten Nationalstaatensystems im Nahen Osten verbunden, wo nominell unabhängige Staaten in den von den ehemaligen Kolonialmächten gezogenen Grenzen geschaffen wurden. Heute hat die käufliche arabische Bourgeoisie ihre Scharade der Unterstützung für die Palästinenser und für die Schimäre einer „Zweistaatenlösung“ fallen gelassen. Sie versucht, ihre eigene Herrschaft gegen die wachsende soziale Opposition zu verteidigen, indem sie sich Israel und dem Imperialismus annähert. Zehn Jahre nach der blutigen Niederschlagung der ägyptischen Revolution sind alle Nachbarstaaten Israels – Libanon, Jordanien, Syrien und Ägypten – von internen Konflikten geplagt. Der gesamte Nahe Osten wurde durch die US-Kriege verwüstet.

Die Hamas, die dominierende politische Kraft in Gaza, ist ebenfalls unfähig, eine progressive Alternative anzubieten. Wie die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) ist sie der so genannten Zweistaatenlösung verpflichtet, bei der Gaza und die Westbank palästinensische Ghettos unter dem Stiefel des zionistischen Staates bleiben würden. Unter Bedingungen, in denen sich innerhalb Israels selbst eine Rebellion entwickelt, ist die Hamas unfähig, an die israelische arabische Bevölkerung zu appellieren, geschweige denn an die jüdische Arbeiterklasse.

Der amerikanische Generalstabschefs General Mark Milley warnte am Montag, dass es zu einer „breiteren Destabilisierung“ und „einer ganzen Reihe negativer Folgen kommen könnte, wenn die Kämpfe [in Gaza] weitergehen“. Sie fürchten ganz offensichtlich, dass die Ereignisse in Israel und den besetzten Gebieten revolutionäre Umwälzungen in der gesamten Region auslösen können und gleichzeitig die Gefahr eines viel größeren Kriegs, in erster Linie gegen den Iran, entsteht.

Die Alternative Krieg oder Revolution stellt sich nicht nur im Nahen Osten, sondern weltweit. Angesichts einer globalen Pandemie, die 3,5 Millionen Opfer gefordert hat, rüsten die imperialistischen Mächte massiv auf und bereiten einen globalen Krieg vor.

Dieselbe Pandemie hat sozialen Widerstand in der Arbeiterklasse und eine weltweite Eskalation des Klassenkampfs hervorgerufen, die den Weg zur sozialen Revolution ebnet.

Das ist der Weg für die arbeitenden Massen des gesamten Nahen Ostens. Die zentrale Aufgabe besteht darin, die Krise der Perspektive und der Führung zu überwinden.

Die Sackgasse des bürgerlichen Nationalismus, vom Nasserismus bis zur PLO, hat die Theorie der permanenten Revolution von Leo Trotzki vollauf bestätigt. Sie besagt, dass in der imperialistischen Epoche die grundlegenden Aufgaben der Befreiung unterdrückter Länder nicht unter der Führung der nationalen Bourgeoisie gelöst werden können, weil sie mit Tausend Fäden an den Imperialismus gebunden und von ihm abhängig ist. Sie können nur durch ein unabhängiges politisches Eingreifen der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen und internationalistischen Programms gelöst werden.

Die militärischen Angriffe auf Gaza und die wachsende Revolte in Israel selbst werfen die dringende Notwendigkeit auf, die arabische, jüdische und iranische Arbeiterklasse über alle nationalen und konfessionellen Grenzen hinweg zu vereinen und gemeinsam für eine Sozialistische Föderation des Nahen Ostens und den Sturz des Kapitalismus auf der ganzen Welt zu kämpfen.

Die zentrale Aufgabe, die Arbeiterklasse auf der Grundlage dieses Programms zu mobilisieren, hängt vom Aufbau einer neuen revolutionären Führung und der Gründung von Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in allen Ländern ab.

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