Die deutsche Regierung wehrt sich mit allen Kräften gegen eine Aussetzung der Patente für Corona-Impfstoffe.
Der Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, setzt sich seit langem für einen solchen Patentverzicht ein, um die Impfstoffknappheit in ärmeren Ländern zu überwinden. Mehr als hundert Mitgliedsländer der Welthandelsorganisation WHO, angeführt von Südafrika und Indien, haben eine entsprechende Initiative ergriffen. Auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, darunter Ärzte ohne Grenzen, unterstützen die Forderung.
Als US-Präsident Joe Biden am Mittwoch ankündigte, man erwäge eine Aussetzung der Patente, schrillten im Berliner Regierungsviertel sämtliche Alarmglocken. Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonierte persönlich mit Uğur Şahin, dem Chef der Mainzer Firma Biontech, die zusammen mit dem US-Pharmariesen Pfizer den ersten zugelassenen Impfstoff auf den Markt gebracht hat.
Anschließend stellte sich die Bundesregierung öffentlich gegen die Freigabe der Patente. „Der Schutz von geistigem Eigentum ist Quelle von Innovation und muss es auch in Zukunft bleiben,“ erklärte eine Regierungssprecherin. Der limitierende Faktor bei der Herstellung von Impfstoffen seien nicht die Patente, sondern die Produktionskapazitäten und die hohen Qualitätsstandards.
Der Bundestag lehnte einen Antrag der Linksfraktion, Patente für Impfstoffe freizugeben, mit 498 Stimmen gegen 117 Stimmen ab. Die Medien überschlugen sich mit Kommentaren, weshalb der Patentschutz Bestand haben müsse.
„Die Pharmakonzerne haben viel investiert, um zügig wirksame Impfstoffe herzustellen, auch wenn es staatliche Zuschüsse gab,“ erklärte die Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Ihr Recht auf geistiges Eigentum ist nicht gering zu schätzen. Der Anreiz, Risiken einzugehen und solche Leistungen zu vollbringen, muss erhalten bleiben.“
Die Süddeutsche Zeitung kommentierte: „Eigentum ist ein wertvoller Treiber für Innovation. Dass das erste Vakzin gegen Corona aus Deutschland stammt, ist auch dem hiesigen Wirtschaftsmodell zu verdanken, das auf Anreize für Unternehmer setzt. Der Pioniergeist einiger Forscher und Geschäftsmänner beruht auf einem Systemprinzip: meine Idee, mein Projekt, meine Firma, meine Mitarbeiter, und auch, ja, mein Gewinn.“
Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller, der die Interessen großer Pharmakonzerne vertritt, drohte, ohne Patentschutz hätten die Originalhersteller „keinen Anreiz mehr, sich an einer schnellstmöglichen weltweiten Versorgung mit Impfstoffen zu beteiligen“.
Stichhaltig sind diese Argumente nicht. Die mRNA-Technologie, auf der der Biontech/Pfizer-Impfstoff beruht, wurde an öffentlich finanzierten Universitäten entwickelt. Sie wurde erstmals 1990 beschrieben und 1994 erstmals zur Impfung bei Mäusen verwendet. Private Firmen interessierten sich erst dafür, als hohe Profite winkten. Und selbst dann wurden sie in der Regel durch öffentliche Gelder unterstützt und abgesichert.
Ein Impfstoff gegen Covid-19 hätte zudem wesentlich früher bereitstehen können, wenn die Arbeiten daran, die während der ersten SARS-Epidemie 2002 begonnen hatten, intensiv fortgesetzt worden wären. Doch nachdem die SARS-Welle abgeklungen war und keine hohen Profite mehr winkten, hatte die Pharma-Industrie kein Interesse mehr.
In Wirklichkeit geht es bei der Ablehnung der Patentfreigabe um Geld, sehr viel Geld. Das Geschäft mit dem Corona-Impfstoff ist äußerst lukrativ. Pfizer verdiente damit im ersten Quartal 2021 3,5 Milliarden Dollar. Der Gesamtumsatz des Konzerns stieg gegenüber demselben Vorjahreszeitraum um 45 Prozent auf 14,6 Milliarden Dollar. Ein Drittel davon, 4,9 Milliarden Dollar, steckte der Konzern als Gewinn ein.
Die Aktie von Biontech stieg von 13 Euro im Oktober 2019 auf derzeit 150 Euro. Das Start-up ist mittlerweile 34 Milliarden Euro wert. Ähnlich sieht es bei anderen Impfstoffherstellern aus.
Doch der derzeitige Gewinn ist nur ein geringer Teil der erwarteten Profite. Die Pharmakonzerne, die weltweit 1,2 Billionen Dollar im Jahr umsetzen, wittern einen gewaltigen Boom. Die mRNA-Technologie, die in den Corona-Impfstoffen erstmals zum praktischen Einsatz kam, lässt sich auch zur Bekämpfung von Krebs und anderen Krankheiten verwenden. Neben Biontech arbeiten auch andere deutsche Firmen damit. Curevac, dessen Corona-Impfstoff in den letzten Tests steckt, forscht seit 20 Jahren daran. Nun ist ein erbitterter Kampf um den Weltmarkt entbrannt.
Der Spiegel erklärt in seiner neuen Ausgabe in einem ausführlichen Hintergrundartikel recht ungeschminkt, worum es geht. „Wächst da eine neue, milliardenschwere Zukunftsindustrie heran, in der ausnahmsweise mal die Deutschen führend sind?“, fragt er. „Auf den deutschen Firmen ruhen nicht nur große Hoffnungen, die Pandemie weltweit in den Griff zu bekommen, sondern hohe industriepolitische Erwartungen in Berlin und Brüssel. … Es geht dabei längst nicht mehr nur um Corona, sondern um die mRNA-Technologie insgesamt.“ Es gehe um die Frage: „Wie sichert Europa seinen Vorsprung in einer Zukunftstechnologie, die den Pharmamarkt grundlegend umzuwälzen verspricht?“
Das mache, so der Spiegel, „die Patentpläne der USA so brandgefährlich für das Unternehmen. In der Covid-Vakzine steckt viel Grundlagenforschung von Biontech, die bereits in neuen Krebsmedikamenten angewendet wird – und damit ebenfalls offengelegt würde.“ Aus Sicht der EU-Kommission gebe es „bei einer raschen Patentfreigabe nur einen Profiteur: Peking“. Den Wissensvorsprung bei der mRNA-Technologie aufzugeben werde vor allem der chinesischen Pharmabranche nutzen, zitiert der Spiegel Brüsseler Beamte.
Dabei will Biontech seinen Impfstoff China nicht vorenthalten, es will nur selbst daran verdienen. Im April flog Firmenchef Şahin persönlich nach Shanghai, um über Lieferungen und den Aufbau von Produktionsanlagen zu verhandeln. China arbeitet zwar auch an mRNA-Impfstoffen, doch die bisher zugelassenen beruhen auf der alten Vektor-Technologie und sind nur zu 50 Prozent wirksam.
Biontechs Vorstoß nach China dürfte einer der Gründe sein, weshalb die US-Regierung ihre Haltung zu den Impfstoff-Patenten geändert hat. Die EU wirft ihr perfide Doppelmoral vor, weil sie bisher die Ausfuhr von Vorprodukten und die Freigabe von Vorräten blockiert und damit die internationale Impfstoffversorgung massiv behindert hat.
Wie in allen anderen Bereichen der Corona-Pandemie werden auch in der Impfstofffrage die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen den Profitinteressen der Konzerne untergeordnet. Obwohl bereits 3,3 Millionen Menschen an der Pandemie gestorben sind, die Infektionszahlen weiter steigen und in ärmeren Ländern kaum jemand geimpft ist, weigert sich die Bunderegierung strikt, den Patentschutz aufzuheben. Und auch die US-Regierung wird nicht bereit sein, ihrer Ankündigung Taten folgen zu lassen – schon gar nicht, wenn es um ihre eigenen strategischen Interessen geht.
Dabei würde eine Aufhebung der Patente durchaus helfen, die Bevölkerung in Afrika – wo bisher nur zwei Prozent einmal geimpft sind – und anderen ärmeren Regionen schneller zu impfen. Die Befürworter einer Aussetzung der Patente verweisen auf das Beispiel Aids.
Neue Medikamente hatten Mitte der Neunzigerjahre in den reichen Ländern das Sterben von HIV-Infizierten gestoppt. In den ärmeren Ländern starben weiter Millionen Menschen, weil die Medikamente für sie unerschwinglich waren. Das änderte sich erst, als die WHO 2001 50 ärmeren Staaten erlaubte, die Medikamente zu kopieren. Die Behandlungskosten pro Person sanken damit um bis zu 99 Prozent, was unzählige Leben rettete.
Was für Covid-19 gilt, gilt auch für die Behandlung von Krebs, an dem jährlich weltweit 10 Millionen Menschen sterben. Anstatt alle neuen Forschungsergebnisse sofort offenzulegen, so dass Wissenschaftler auf der ganzen Welt darauf aufbauen und wirksame Medikamente entwickeln können, werden sie patentiert und geheim gehalten, um damit Profit zu machen.
Die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Bereicherung einer Finanzoligarchie und den räuberischen Interessen des Imperialismus opfert, ist unvereinbar mit den elementaren Interessen der überwiegenden Mehrheit der Menschheit. Der Kampf zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie erfordert ihre Abschaffung und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft.