Perspektive

Macrons Corona-Ansprache: sozialer Mord als politische Strategie

Von „sozialem Mord“ sprach die britische medizinische Fachzeitschrift BMJ im Februar, als sie die Weigerung der britischen Regierung kommentierte, einen Lockdown zu verhängen. Sie stellte die berechtigte Frage: „Wenn Politiker vorsätzlich wissenschaftliche Ratschläge, internationale und historische Erfahrungen und ihre eigenen alarmierenden Statistiken und Modellierungen ignorieren, weil diese ihrer politischen Strategie des Nichtstuns zuwiderlaufen – ist das rechtmäßig?“

Wie diese Politik in der Praxis aussieht, zeigte Präsident Macron am Mittwochabend vor 31 Millionen Fernsehzuschauern, als er zur besten Sendezeit eine Ansprache zur verheerenden Zunahme der Corona-Infektionen in Frankreich und Europa hielt.

Allgemein war erwartet worden, dass Macron neue Maßnahmen zur physischen Distanzierung ankündigen werde. Schon vor dem Anstieg infolge der britischen und südafrikanischen Variante lag die Zahl der Covid-19-Todesfälle in Europa bei fast einer Million und in Frankreich bei 100.000. Da in Frankreich nur 5 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, hat sich dort die Zahl der täglichen Neuinfektionen nach Angaben der Gesundheitsämter seit dem 7. März verdreifacht: von 21.825 auf 59.038 am 1. April.

Im Vorfeld von Macrons Rede forderte ein führender Mediziner nach dem anderen einen harten Lockdown. Die führende Epidemiologin Dominique Costagliola prangerte an, dass Macron im Januar keinen Lockdown verhängt hatte, obwohl sich in Umfragen zwei Drittel dafür ausgesprochen hatten. „Es wäre naiv, Macron für einen Epidemiologen zu halten“, ergänzte sie. Die öffentlichen Krankenhäuser von Paris, deren Intensivbetten mit 1.484 Patienten bereits zu 90 Prozent belegt sind, warnten, dass sie in wenigen Tagen nicht mehr in der Lage sein könnten, weiteren Tausenden schwerkranken Patienten die lebensrettende Versorgung zukommen zu lassen.

Der Vorsitzende der französischen Ärztekammer, Patrick Bouet, wandte sich in einem offenen Brief an Macron und schrieb: „Das Leben duldet heute keine Entscheidungen nach Gutdünken, kein Zögern und keine Wetten.“ Man könne noch verhindern, „dass sich das Virus im ganzen Staatsgebiet ausbreitet“, fügte er hinzu. Aber dazu sei ein strikter allgemeiner Lockdown unumgänglich.

Die Reaktion des „Präsidenten der Reichen“ kann von den Arbeitern nicht nur in Frankreich, sondern auch international nur als Drohung verstanden werden: Das Handeln der herrschenden Klasse wird von völliger Verachtung für das menschliche Leben bestimmt. Macrons Rede, die er zweifelsohne mit der Europäischen Union und Washington abgestimmt hat, war eine eindeutige Absage an sinnvolle Maßnahmen, mit denen ein Massensterben verhindert werden könnte.

Macron räumte ein, dass es eine „Beschleunigung durch die Variante gibt, die uns die Kontrolle zu entreißen droht, wenn wir untätig bleiben“. Trotzdem schlug er lediglich eine einwöchige Schließung der Schulen vor den Frühlingsferien vor, gefolgt von einer Woche Fernunterricht für die Sekundarstufe. Der nicht lebensnotwendige Einzelhandel wird geschlossen, aber zugleich versprach Macron, dass kulturelle Einrichtungen und Restaurants im Mai wieder öffnen würden.

Macrons Versuch, dies alles als Lockdown auszugeben, ist blanker Hohn.

Im März 2020, als sich das Coronavirus in Europa und Amerika ausbreitete, kam es zu spontanen Streiks in Fabriken in Italien, den USA und anderen Ländern. Als Frankreichs Unternehmerverband Medef vor einer „extremen Veränderung der Einstellung der Arbeiter“ warnte und erklärte, man könne „die Produktion aufgrund des Drucks der Arbeiter nicht mehr fortsetzen“, stimmte Macron einem strengen, achtwöchigen Lockdown zu. Schulen und alle nicht lebensnotwendigen Produktionsbetriebe wurden geschlossen. Durch solche Maßnahmen wurde die Ausbreitung des Coronavirus nicht nur in Frankreich, sondern in weiten Teilen Europas stark eingedämmt.

Nun aber weigert sich Macron, die nicht lebensnotwendige Produktion zu stoppen, und hat die Schulen lediglich für knapp zwei Wochen geschlossen. Und das, obwohl auf diesem Wege womöglich bald Tausende Schwerkranke nicht mehr behandelt werden können und in einem wohlhabenden europäischen Land zum Sterben verurteilt werden.

Macron schämte sich nicht, seine eigene katastrophale Politik auch noch zu preisen: Er berücksichtige damit „die Folgen der Einschränkungen für unsere Kinder, für ihre Bildung, für die Wirtschaft, für die Gesellschaft, für die seelische Gesundheit“. Wenn Macron ehrlich wäre, hätte er gesagt, dass er „die Folgen der physischen Distanzierung für unsere Unternehmen, ihre Gewinne und unsere Vermögen“ berücksichtigt. Schulen und nicht lebensnotwendige Produktionsbetriebe werden offen gehalten nicht aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern um sicherzustellen, dass die Finanzmärkte weiter mit Profiten aus den Unternehmen versorgt werden.

Macrons offene Verachtung für medizinische Experten und die öffentliche Meinung ist einfach eine besonders taktlose Version der Politik, die von der Bourgeoisie in ganz Europa verfolgt wird. Wenige Tage vor Macrons Rede weigerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Talkshow, konkret zu sagen, wie oder wann ein Lockdown in Deutschland umgesetzt werden könnte. Gestern meldete die Tagesschau, dass laut dem wissenschaftlichen Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, ohne harten Lockdown in weniger als vier Wochen die Kapazitäten für Intensivbetten in Deutschland erschöpft sein werden.

Millionen Arbeiter in Frankreich und ganz Europa werden mit der Tatsache konfrontiert, dass die EU eine Politik des sozialen Mordes betreibt.

Wohin dies führt und wie viele Leben gerettet werden können, wird davon abhängen, wie schnell die Arbeiterklasse als unabhängige Kraft gegen die kapitalistischen Regierungen mobil macht und den Kampf für eine wissenschaftliche fundierte Pandemiepolitik aufnimmt.

Im März 2020 kommentierte die WSWS unter der Überschrift „Kapitalismus im Kriegszustand mit der Gesellschaft“ die katastrophale Reaktion der amerikanischen herrschenden Klasse auf die Corona-Pandemie:

„In diesen vier Jahrzehnten trat der zutiefst reaktionäre Charakter eines Systems zutage, das auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht und in dem alle Bedürfnisse der Gesellschaft der persönlichen Bereicherung untergeordnet werden. Die kapitalistischen Oligarchen handeln getreu dem Motto: ‚Wenn Millionen sterben müssen, damit wir Milliarden scheffeln können – so sei es.‘“

Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben diese Einschätzung vollauf bestätigt. Den europäischen Kapitalismus als freundlicher und sanfter im Vergleich zum amerikanischen zu bezeichnen, ist eine dreiste Lüge. Durch milliardenschwere Rettungsaktionen haben die Europäische Zentralbank, die Bank of England und die europäischen Regierungen zahlreiche Banken und Konzerne vor der Insolvenz bewahrt. Während Finanzaristokraten wie der Franzose Bernard Arnault, der letztes Jahr 30 Milliarden Euro gescheffelt hat, ein Vermögen verdienten, mussten zahllose Menschen ihr Leben lassen, weil ein umfassender Lockdown angeblich zu teuer war.

Die Arbeiterklasse muss der Politik des sozialen Mordes ein Ende setzen! Das ist nur unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien und ihren pseudolinken Unterstützern wie der Neuen Antikapitalistischen Partei (Nouveau Parti Anticapitaliste, NPA) sowie der Partei Die Linke möglich. Im März letzten Jahres haben die französische Confédération générale du travail (CGT) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) den spontanen Widerstand der Arbeiter isoliert. Sie haben die Rettungsaktionen der EU unterstützt und die Wiedereröffnung der Schulen vorangetrieben, die zum erneuten Anstieg Fallzahlen nach dem Lockdown im Frühjahr 2020 beigetragen haben.

Durch die unabhängigen Streiks im März 2020 sah sich die herrschende Klasse Europas dazu genötigt, umfassende Schutzmaßnahmen zu verhängen. Doch das vergangene Jahr hat gezeigt, dass spontaner Widerstand nicht ausreicht. Ohne sozialistische Perspektive und eigenständige Kampforganisationen sahen sich die Arbeiter der reaktionären Politik der Herdenimmunität ausgeliefert, wie sie von den Regierungen, Unternehmen und Gewerkschaften betrieben wurde.

Es ist unbedingt notwendig, dass Arbeiter in Frankreich und überall in Europa eigene Aktionskomitees aufbauen und für einen erneuten strengen Lockdown kämpfen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, bis die Bevölkerung umfassend geimpft ist. Alle Arbeiter müssen vollen Lohnersatz erhalten, um zu Hause bleiben zu können. Nicht lebensnotwendige Betriebe müssen geschlossen und Millionen investiert werden, um einen sinnvollen Fernunterricht für Schüler zu ermöglichen. Französische und europäische Arbeiter müssen den Kampf aufnehmen, um selbst die staatliche Macht übernehmen, die Finanzaristokratie zu enteignen und die EU durch die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu ersetzen.

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