Perspektive

Merkel bei Anne Will: Wirtschaftsinteressen haben Vorrang vor Leben

Der Auftritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei „Anne Will“ am Sonntagabend hat bestätigt, dass es keinen Ausweg aus der Coronakrise geben kann, ohne eine breite Bewegung der Arbeiterklasse zu mobilisieren.

Die einstündige Sendung war eine Aneinanderreihung von Ausflüchten, Beschwichtigungen und Schuldzuweisungen an die Länder. Anne Will lieferte der Kanzlerin, die als einziger Gast in der Talkshow saß, devot die Stichworte. Mit keinem Wort ging sie auf die Frage ein, wessen Interesse ihre Politik nützt.

Dabei war die Politik der Bundes- wie der Länderregierungen in jedem Stadium der Krise von einem Grundsatz geprägt: Profite haben Vorrang vor Leben, die Interessen der Wirtschaft sind wichtiger als die Gesundheit der Bevölkerung. Daran hält Merkel fest, auch wenn die Krise dramatisch eskaliert.

Selbst die engsten Berater der Kanzlerin warnen inzwischen vor einer Katastrophe. „Es gibt sehr deutliche Signale, dass diese Welle noch schlimmer werden kann als die ersten beiden Wellen“, sagte Lothar Wieler, der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI). Er hält einen Anstieg der täglichen Neuinfektionen auf 100.000 für möglich. Andere Prognosen sagen sogar 200.000 Infektionen am Tag voraus. Das erfordere einen harten Lockdown, sagte Wieler. „Wir hatten einen Lockdown, der diesen Namen verdient, letztes Jahr im Frühjahr.“

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt vor einem Anstieg der Corona-Todeszahlen von derzeit 76.000 auf über 100.000, wenn jetzt nicht rasch gegengesteuert werde. „Ohne einen scharfen Lockdown wird es nicht gehen“, betonte er gegenüber dem Tagesspiegel. Er kritisierte auch, dass im politischen Berlin zu wenig über die Langzeitfolgen gesprochen werde. Das betreffe „bis zu zehn Prozent der Infizierten, also aktuell bis zu 250.000 Menschen“. „Die dritte Welle wird politisch und medizinisch unterschätzt,“ sagte er.

Doch Merkel spielt auf Zeit. „Ich bin noch am Nachdenken“; „mit dem Nachdenken bin ich noch nicht zu Ende“; „wir werden uns das jetzt anschauen, und dann muss man gegebenenfalls alle Möglichkeiten des Handelns austarieren“; wenn nicht „in sehr absehbarer Zeit“ etwas geschehe, müsse sie sich überlegen, wie sich das vielleicht auch bundeseinheitlich regeln lasse – wiederholte sie am laufenden Band.

Den Unternehmen, für die es nie einen Lockdown gab und denen es freigestellt ist, ob sie ihre Mitarbeiter testen lassen, versprach Merkel, sie werde ihr Verhalten noch einige Tage bewerten. Sollte sie dann noch nicht zufrieden sein, werde sie darüber nachdenken, die Arbeitsschutzverordnung anzupassen.

Die Arbeiter ans Messer liefern – dieses Muster hat von Anfang an die Corona-Politik der Bundesregierung bestimmt, wenn es um den Schutz von Arbeitern ging. Aktiv wurde sie nur, wenn sie hunderte Milliarden in die Großunternehmen und die Finanzmärkte pumpte. Während unzählige Arbeiter ihren Job und Teile ihres Einkommens verloren und Selbständige, Künstler und kleine Gewerbetreibende ruiniert wurden, erlebten die Börsen, die sich vor Glück kaum fassen konnten, einen historischen Höhenflug. Großkonzerne wie Daimler, VW und BMW schütteten Milliarden an Dividenden aus.

Damit die Unternehmen Profit abwarfen, mussten Schulen und Kitas offenbleiben und die Eltern zur Arbeit gehen. Fast ein Jahr lang verbreiteten Medien, Politiker und einige käufliche Akademiker deshalb die Mär, dass Kinder und Jugendliche das Virus nicht verbreiten, obwohl seriöse Wissenschaftler längst das Gegenteil nachgewiesen hatten. Gegen den Charité-Virologen Christian Drosten, der eine entsprechende Studie veröffentlicht hatte, organisierte die Bild-Zeitung eine gehässige Hetzkampagne.

Inzwischen lässt sich nicht mehr leugnen, dass Schulen und Kitas zu den wichtigsten Viren-Spreadern gehören. Ein Artikel in der jüngsten Ausgabe des Spiegels beginnt mit den Worten: „Wenn dereinst die Geschichte der Coronapandemie geschrieben wird, geht als eines der schlimmsten Versäumnisse in die Annalen ein, was wir den Kindern – und ihren Eltern – angetan haben: als wir es versäumten, Schulen und Kitas zu sicheren Orten zu machen.“

Obwohl jetzt „die deutlich ansteckendere und gefährlichere Mutante B.1.1.7“ das Land überziehe, werde gelockert, anstatt die Kontakte drastisch zu beschränken, vor allem bei den Schulen. Tatsächlich explodiere „das Infektionsgeschehen bei den bis zu 14 Jahre alten Kindern geradezu“. Die Fallzahlen hätten sich in den vergangenen fünf Wochen nahezu verdreifacht.

„Die Folgen dieser rasanten Verbreitung zeigen sich bereits, teils auf schreckliche Weise,“ so der Spiegel. „Das Virus setzt manchen Kindern heftig zu, eine irregeleitete Immunreaktion kann sie ereilen… Die Kinder stecken ihre Eltern an, und die werden krank, manche sogar sehr krank.“

Doch das hindert die Regierungen nicht daran, die Schulen weiterhin zu öffnen. Merkel machte bei Anne Will den durchsichtigen Versuch, die Verantwortung auf die Ministerpräsidenten abzuwälzen, denen sie vorwarf, die am 3. März beschlossene Notbremse nicht anzuwenden. Diese sieht vor, dass ab einem bestimmten Inzidenzwert bestimmte Maßnahmen automatisch wieder in Kraft treten.

Doch das sind Nebelkerzen. In Wirklichkeit stimmen Merkel und die Ministerpräsidenten aller Parteien – vom Linken Bodo Ramelow über den Grünen Winfried Kretschmann, die Sozialdemokraten Michael Müller und Malu Dreyer, die Christdemokraten Armin Laschet und Volker Bouffier bis zum Christsozialen Markus Söder – grundsätzlich überein, die Coronapolitik den Interessen der Wirtschaft unterzuordnen. Sie haben sie von Anfang an gemeinsam beschlossen und durchgeführt.

Merkel selbst hat sich erst vor wenigen Tagen in einer demütigenden Geste öffentlich dafür entschuldigt, dass die Ministerpräsidentenrunde über Ostern einen zusätzlichen Ruhetag beschlossen hatte, um die Infektionszahlen zu senken, und die Entscheidung zurückgenommen. Sie entschuldigte sich nicht bei den Angehörigen der 76.000 Coronaopfer, auch nicht bei den Lehrern und Pflegern, die ihr Leben riskieren, sondern bei den Vertretern der Wirtschaft, die gegen die – völlig ungenügende – Maßnahme Sturm gelaufen waren.

Merkels Auftritt bei Anne Will ist nur das letzte Glied in einer langen Kette von Ereignissen, die zeigen, dass die Bundes- und Länderregierungen und die sie tragenden Parteien völlig unfähig sind, den elementarsten Bedürfnissen der Bevölkerung nachzukommen.

Auch das Impfdebakel ist ein Ergebnis ihrer völligen Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben. Experten hatten bereits sehr früh, als die ersten Impfstoffe entwickelt, aber noch nicht erprobt waren, die Bereitstellung ausreichender Produktionskapazitäten vorgeschlagen.

So forderte Lauterbach, der selbst Immunologe ist, bereits im Mai 2020 den Aufbau einer Massenproduktion, was abgelehnt wurde. Wäre die Regierung seinem Vorschlag gefolgt, so Lauterbach, hätte dies 24 Milliarden Euro gekostet und die Bevölkerung wäre bis Ende April vollständig geimpft. Doch die Regierung, in der die SPD den Finanzminister stellt, verschenkte lieber ein Vielfaches dieser Summe an die Konzerne und Banken.

Das Versagen der herrschenden Eliten angesichts der Pandemie ist ein internationales Phänomen. In Frankreich, wo Präsident Macron sämtliche Warnungen von Experten in den Wind schlug, nähert sich die Sieben-Tage-Inzidenz der Marke von 400. In der Region Paris ist die Kapazität der Intensivstationen bereits überschritten. Die USA weisen mit 563.000 die weltweit höchste Zahl von Corona-Toten auf. Großbritannien ist mit 127.000 Todesopfern Spitzenreiter in Europa.

Die hohe Zahl größtenteils vermeidbarer Toter ist das Ergebnis eines bankrotten Gesellschaftssystems. Nach Jahrzehnten der sozialen Umverteilung, die einen kleinen Prozentsatz unendlich reich gemacht hat, nach endlosen Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien, die ganze Gesellschaften verwüstet haben, ist ein Menschenleben in den Augen der herrschenden Eliten kaum mehr etwas Wert.

Während kein Geld da ist, um einen vollständigen Lockdown zu finanzieren und die notwendigen Impfstoffe zu besorgen, werden Milliarden in die Aufrüstung und die Vorbereitung eines Atomkriegs gesteckt.

Die World Socialist Web Site hat seit Beginn der Pandemie gewarnt, sie sei ein Ereignis, das alle Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft verschärft. Die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Schwesterorganisationen im Internationalen Komitee der Vierten Internationale haben die Initiative zum Aufbau von Aktionskomitees für sichere Arbeitsplätze und für sichere Bildung ergriffen, die für die sofortige Schließung aller nicht lebensnotwendiger Produktion und der Schulen eintreten und europaweit und international für einen Generalstreik mobilisieren.

Die Opposition gegen die Corona-Politik der Regierungen ist enorm. Umfrage um Umfrage zeigt, dass die große Mehrheit schärfere Schutzmaßnahmen fordert oder die bestehenden gutheißt. Doch sie finden dafür weder bei den etablierten Parteien noch den Gewerkschaften Unterstützung, die alle die Öffnungspolitik im Interesse der Profite unterstützen.

Der Kampf gegen die Pandemie erfordert ein internationales, sozialistisches Programm, das das Leben über den Profit, die menschlichen Bedürfnisse über den Reichtum der Milliardäre stellt. Die Verteidigung von Leben, Gesundheit und Einkommen der großen Mehrheit ist untrennbar damit verbunden, die Finanzoligarchie zu enteignen und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ein Ende zu setzen. Sie erfordert eine wissenschaftlich gelenkte, rational organisierte und demokratisch kontrollierte Weltwirtschaft.

Die Sozialistische Gleichheitspartei nimmt an der Bundestagswahl teil, um eine neue sozialistische Partei in der Arbeiterklasse aufzubauen. Wir rufen alle Leser der WSWS auf: Unterstützt unsere Wahlteilnahme mit eurer Unterschrift! Studiert das Programm der SGP und werdet Mitglied!

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